Mitteilungen Sommer 2012 - Friedenspreis des Deutschen ...
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Nachrichten<br />
Nachrichten<br />
Autoren gegen Dumpingpreise<br />
Israelische Schriftsteller, unter ihnen<br />
Amos Oz und David Grossman, haben<br />
gemeinsam mit Verlegern gegen<br />
die Dumpingpreispolitik der Buchhandelsketten<br />
protestiert. Mit Erfolg:<br />
Ein schon längere Zeit vorliegender<br />
Gesetzentwurf ging nun an die Justizkommission<br />
<strong>des</strong> israelischen Parlaments.<br />
Der Entwurf sieht erstmals<br />
eine Preisbindung für die ersten 18<br />
Monate nach Erscheinen eines Titels<br />
vor, außerdem ein garantiertes Autorenhonorar.<br />
Eurovision für den <strong>Friedenspreis</strong><br />
FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher<br />
bedankte sich bei der Verleihung<br />
der Plakette „Dem Förderer <strong>des</strong><br />
Buches“ mit einem Lob an den Börsenverein:<br />
Der Verband setze nicht<br />
zuletzt mit dem <strong>Friedenspreis</strong> für<br />
Liao Yiwu politische und moralische<br />
Maßstäbe. „Viele, die ich kenne, sind<br />
durch die <strong>Friedenspreis</strong>übertragungen<br />
im Fernsehen sozialisiert worden.“<br />
Gerne wolle er sich dafür einsetzen,<br />
dass vor der Verleihung wie<br />
früher die Eurovisions-Hymne gespielt<br />
wird, die Verleihung also auch<br />
in andere Länder übertragen wird.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Thema: <strong>Friedenspreis</strong> <strong>2012</strong> 2<br />
Boualem Sansal 12<br />
Termine 17<br />
Meldungen 17<br />
Margarete Mitscherlich 20<br />
Aus den Archiven: Nelly Sachs 26<br />
Vortrag über den <strong>Friedenspreis</strong> 32<br />
Impressum<br />
Impressum<br />
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels Frühling <strong>2012</strong><br />
<strong>Mitteilungen</strong> <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
Börsenverein <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels e.V.<br />
Geschäftsstelle<br />
<strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels<br />
Schiffbauerdamm 5<br />
10117 Berlin<br />
<strong>Friedenspreis</strong><br />
<strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>2012</strong><br />
1<br />
Liao Yiwu
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
Thema: Thema: <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>2012</strong><br />
<strong>2012</strong><br />
Der Stiftungsrat für den <strong>Friedenspreis</strong> hat für den<br />
Börsenverein <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels und seine Mitglieder<br />
den chinesischen Schriftsteller Liao Yiwu zum neuen <strong>Friedenspreis</strong>träger gewählt.<br />
Begründung<br />
Den <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels<br />
verleiht der Börsenverein im Jahr <strong>2012</strong> an<br />
Liao Yiwu<br />
und ehrt damit den chinesischen Schriftsteller,<br />
der sprachmächtig und unerschrocken gegen die politische<br />
Unterdrückung aufbegehrt und den Entrechteten seines<br />
Lan<strong>des</strong> eine weithin hörbare Stimme verleiht.<br />
Liao Yiwu setzt in seinen Büchern und Gedichten<br />
den Menschen am Rand der chinesischen Gesellschaft<br />
ein aufrütteln<strong>des</strong> literarisches Denkmal. Der Autor, der am<br />
eigenen Leib erfahren hat, was Gefängnis, Folter und<br />
Repression bedeuten, legt als unbeirrbarer<br />
Chronist und Beobachter Zeugnis ab für<br />
die Verstoßenen <strong>des</strong> modernen China.<br />
Das Manuskript seines Werks „Für ein<br />
Lied und hundert Lieder“, in dem er von der<br />
Entmenschlichung durch rohe Gewalt in chinesischen<br />
Gefängnissen erzählt, wurde mehrfach von den Behörden<br />
beschlagnahmt; er hat es immer wieder neu geschrieben<br />
und konnte es schließlich im Exil veröffentlichen.<br />
Als Volksschriftsteller im umfassenden Sinn<br />
steht er ein für Menschenwürde,<br />
Freiheit und Demokratie.<br />
Die Verleihung findet zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse<br />
am Sonntag, 14. Oktober <strong>2012</strong>, um 11.00 Uhr in der Paulskirche statt<br />
und wird live im Ersten Programm der ARD übertragen.<br />
Der <strong>Friedenspreis</strong> ist mit 25.000 € dotiert.<br />
2
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
Liao Yiwu wird am 4. August 1958 in Chengdu, der<br />
Hauptstadt der chinesischen Provinz Sichuan geboren, in<br />
der Zeit der großen Hungersnot, die durch die Kampagne<br />
„Großer Sprung nach vorne“ ausgelöst wird und bei der<br />
mehr als 15 Millionen Chinesen ums Leben kommen.<br />
Sein Vater, ein Hochschullehrer, bringt seinem Sohn<br />
bereits im Alter von drei Jahren das Lesen und Vortragen<br />
klassischer Lyrik und Prosa bei. 1966 wird der Vater<br />
während der Kulturrevolution als Revolutionsgegner<br />
angeklagt. Um die Kinder zu schützen, lassen sich die<br />
Eltern scheiden. Liao Yiwu lebt fortan mit seiner Mutter<br />
und seinen Geschwistern in großer Armut.<br />
Nach schwieriger Kindheit als Straßenkind und ohne die<br />
Möglichkeit eines regelmäßigen Schulbesuchs arbeitet<br />
Liao Yiwu anschließend zunächst als Küchenhilfe und<br />
Lastwagenfahrer. Mit der Lektüre von ins Chinesische<br />
übersetzter westlicher Literatur wächst sein Interesse an<br />
der Schriftstellerei, und er beginnt mit dem Verfassen<br />
eigener Gedichte. Nach dem Tode Mao Zedongs, dem<br />
Sturz der sogenannten Viererbande und dem damit einhergehenden<br />
Ende der chinesischen Kulturrevolution<br />
versucht er vier Jahre lang vergeblich, an der Universität<br />
aufgenommen zu werden. Er findet Arbeit bei einer Zeitschrift,<br />
wo er bald als wortgewandter Dichter auffällt und<br />
vom Kulturministerium in die Riege der Staatsschriftsteller<br />
aufgenommen wird.<br />
Während der 1980er Jahre publiziert Liao Yiwu regelmäßig<br />
Gedichte in offiziellen chinesischen Literaturzeitschriften.<br />
Zahlreiche seiner Gedichte im Stile westlicher<br />
Lyrik veröffentlicht er jedoch in Anthologien und Periodika<br />
der im Untergrund tätigen Literaturszene, da die chinesischen<br />
Behörden sie als „geistige Verschmutzung“<br />
ansehen. 1987 wird er aufgrund dieser Veröffentlichungen<br />
auf die „Schwarze Liste“ gesetzt. Als er im Frühjahr<br />
1989 mit der Veröffentlichung der Gedichte „Die gelbe<br />
Stadt“ und „Held“ das paralysierte System Chinas allegorisch<br />
als kollektive Leukämie und Mao als das Symptom<br />
dieser Krankheit bezeichnet, wird er mehrmals verhört<br />
und seine Wohnung durchsucht.<br />
Unter dem Eindruck der im ganzen Land aufkommenden<br />
Unruhen während der Massendemonstrationen auf dem<br />
„Platz <strong>des</strong> Himmlischen Friedens“, dem „Tian’anmen-<br />
Platz“, verfasst Liao Yiwu das Gedicht „Massaker“, in dem<br />
er, in der Nacht vor dem tatsächlichen Vorgehen der<br />
chinesischen Armee gegen die Protestierenden am 4. Juni<br />
1989, das Geschehen vorwegnimmt. Da er keine Möglichkeit<br />
einer Veröffentlichung sieht, nimmt er am gleichen<br />
Tag das Gedicht auf Tonband auf, Kopien werden im ganzen<br />
Land verbreitet. Unter dem Titel „Requiem“ arbeitet<br />
Liao Yiwu anschließend an einem Film über die Ereignisse.<br />
Im Februar 1990 werden er, die Filmcrew und seine<br />
schwangere Frau verhaftet. Als politischer Häftling wird<br />
Thema: Thema: <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>2012</strong><br />
<strong>2012</strong><br />
Biographie von Liao Yiwu<br />
3<br />
er wegen „Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda“<br />
zu einem vierjährigen Freiheitsentzug verurteilt.<br />
© Foto: Ali Gandtschi/S.Fischer Verlag<br />
Im Gefängnis lehnt sich Liao Yiwu immer wieder gegen<br />
die Wärter auf, widersetzt sich der Gefängnisordnung,<br />
wird von der Gefängnisleitung bestraft. In seinen verschriftlichten<br />
Erinnerungen an diese Zeit berichtet er<br />
später von den Regeln und Bestrafungsritualen der hierarchisch<br />
streng organisierten Mitgefangenen, von<br />
Krankheiten, Peinigungen und zwei Selbstmordversuchen.<br />
Aufgrund internationalen Drucks, offiziell wegen<br />
„guter Führung“, kommt Liao Yiwu 1994, knapp fünfzig<br />
Tage vor dem Ablauf seiner Gefängnisstrafe, frei. Die<br />
Inhaftierung und die Erlebnisse in den vier Gefängnissen,<br />
in denen er seine Haft verbüßt, haben Liao Yiwu aus seinem<br />
bisherigen Leben herausgerissen. Die Aufenthaltsgenehmigung<br />
an seinem Wohnort wird ihm entzogen,<br />
seine Frau hat ihn mit dem gemeinsamen Kind verlassen,<br />
die Freunde und Schriftstellerkollegen wenden sich von<br />
ihm ab. Mit seinem einzigen Besitz, einer Flöte, die er im<br />
Gefängnis zu spielen gelernt hat, verdient Liao Yiwu – der<br />
seitdem unter steter Überwachung der Polizei ist – seinen<br />
Lebensunterhalt als Straßenmusiker und verdingt sich als<br />
Gelegenheitsarbeiter in Restaurants, Teehäusern und<br />
Buchläden.
1998 stellt Liao Yiwu unter dem Titel<br />
„Der Untergang <strong>des</strong> Heiligen Tempels“<br />
eine Anthologie von im Untergrund<br />
geschriebenen Gedichten zahlreicher<br />
chinesischer Dissidenten der 1970er<br />
Jahre zusammen. Die Behörden ordnen<br />
eine Untersuchung an und bezeichnen<br />
das Buch als „vorsätzlichen<br />
Versuch, die Regierung zu stürzen“.<br />
Liao Yiwu wird erneut inhaftiert, sein<br />
Verleger bekommt ein einjähriges<br />
Publikationsverbot. Die Begegnungen<br />
mit Mitgefangenen und mit den Menschen,<br />
die er als Straßenmusiker und<br />
Gelegenheitsarbeiter kennengelernt<br />
hat, versammelt Liao Yiwu 1998 in<br />
Form von 60 Interviews. In bereinigter<br />
Form erscheinen diese 2001 bei einem<br />
chinesischen Verlag unter dem Titel<br />
„Interviews mit Menschen vom unteren<br />
Rand der Gesellschaft“. 2009 wird<br />
dieses „Panoptikum an Lebensläufen,<br />
die eigentliche Kulturgeschichte Chinas<br />
von Mao bis zum heutigen Tag“<br />
(Herta Müller), in Deutschland ungekürzt<br />
veröffentlicht („Fräulein Hallo<br />
und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft<br />
von unten“). Seine Gespräche<br />
mit einem Mörder, Totenliedersänger,<br />
Dieb, Klomann, Menschenhändler,<br />
Wahrsager, Homosexuellen, Bettler,<br />
Lehrer, Dissidenten, früheren Landadligen,<br />
Zuhälter, Feng-Shui-Meister und<br />
vielen anderen Menschen aus den<br />
unteren Gesellschaftsschichten zeichnen<br />
die Wirklichkeit der Gegenwart<br />
Chinas nach. Das Buch wird somit zu<br />
einem Porträt <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> jenseits der<br />
offiziellen Darstellungen.<br />
Die „bereinigte“ chinesische Version<br />
<strong>des</strong> Buches wird von den Kritikern<br />
hoch gelobt und verkauft sich gut, bis<br />
die chinesischen Behörden den Verkauf<br />
untersagen, den Verlag bestrafen<br />
und für die Entlassung von Mitarbeitern<br />
einer chinesischen Zeitung sorgen,<br />
die ein Interview mit Liao Yiwu<br />
geführt haben. Fortan darf sein Name<br />
in den Medien nicht mehr genannt<br />
werden. 2002 gelingt es, das Buch<br />
nach Taiwan zu schmuggeln, wo es<br />
ein Jahr später ungekürzt veröffentlicht<br />
wird. Auszüge daraus erscheinen<br />
auch auf Englisch und Französisch.<br />
Liao Yiwu erhält 2003 mit dem Hellman-Hammet-Grant<br />
eine Förderung<br />
der Organisation Human Rights<br />
Watch. 2007 wird er mit dem Freedom<br />
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels Frühling <strong>2012</strong><br />
Thema: Thema: <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>2012</strong><br />
<strong>2012</strong><br />
To Write Award <strong>des</strong> Unabhängigen<br />
Chinesischen PEN-Zentrums ausgezeichnet.<br />
Die Verleihung wird aber<br />
verhindert. 2008 erscheinen 27 der<br />
Gespräche in den USA mit dem Titel<br />
„The Corpse Walker – Real Life Stories:<br />
China From the Bottom Up“. Für<br />
die polnische Ausgabe <strong>des</strong> Buches<br />
erhält er <strong>2012</strong> den Ryszard-<br />
Kapuscinski-Preis.<br />
Das offizielle <strong>Friedenspreis</strong>foto,<br />
aufgenommen in China von einem<br />
Freund, dem Liao Yiwu nach der<br />
Rückkehr von einer langen Reise<br />
seine Kamera gegeben hat.<br />
In „Chronik <strong>des</strong> Großen Erdbebens“,<br />
das 2009 in Hongkong erscheint,<br />
veröffentlicht Liao Yiwu die Interviews,<br />
die er 2008 mit den Menschen<br />
geführt hat, die das große Erdbeben in<br />
der Region Sichuan mit mehr als<br />
80.000 Toten überlebt haben, und die<br />
ihm über die Korruption berichten und<br />
Gerechtigkeit fordern. Nach mehreren<br />
vergeblichen Versuchen kommt Liao<br />
Yiwu in den Besitz eines Reisepasses.<br />
Trotzdem wird ihm im Oktober 2009<br />
die Reise zur Frankfurter Buchmesse,<br />
auf der China Ehrengast ist, verweigert.<br />
Auch eine Teilnahme an dem<br />
Kölner Literaturfest lit.cologne im<br />
Frühjahr 2010 wird nicht zugelassen,<br />
am Flughafen wird Liao Yiwu festgenommen<br />
und stundenlang verhört. Ein<br />
öffentlicher Appell an Bun<strong>des</strong>kanzlerin<br />
Merkel führt schließlich dazu, dass<br />
er im September erstmals aus China<br />
ausreisen und am Internationalen<br />
4<br />
Literaturfestival in Berlin teilnehmen<br />
kann. Nachdem ihm jedoch im Mai<br />
2011 abermals eine Ausreise aus<br />
China verweigert wird, setzt sich Liao<br />
Yiwu im Juli 2011 über Vietnam nach<br />
Deutschland ab.<br />
Um das Leben von Liao Yiwu nicht in<br />
Gefahr zu bringen, hält sein deutscher<br />
Verlag die Veröffentlichung seines<br />
Buches „Für ein Lied und hundert<br />
Lieder“, wofür dem Autor durch chinesischen<br />
Behörden eine erneute<br />
Gefängnisstrafe angedroht wird, bis zu<br />
seiner Flucht zurück. Es ist die Übersetzung<br />
der dritten Version seiner<br />
Erinnerungen an die vierjährige Gefängniszeit<br />
von 1990 bis 1994. Immer<br />
wieder hat er sie von vorn beginnen<br />
müssen, weil die von ihm verfassten<br />
Manuskripte 1995 und 1997 bei<br />
Hausdurchsuchungen beschlagnahmt<br />
wurden. Dem Leidensweg durch die<br />
chinesischen Gefängnisse und Arbeitslager<br />
stellt Liao Yiwu die Wucht seines<br />
Gedichtes „Massaker“, dem Grund<br />
seiner Inhaftierung, voran. Das Buch,<br />
das im November 2011 mit dem<br />
Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet<br />
wurde, wird dadurch zu einem<br />
„politischen Zeugnis erster Güte“<br />
(Neue Zürcher Zeitung), mit dem Liao<br />
Yiwu den Menschen, die das politische<br />
System zum Schweigen bringen will,<br />
eine Stimme gibt. Im gleichen Jahr<br />
erscheint in Deutschland eine Sammlung<br />
zum Teil noch nicht veröffentlichter<br />
Gedichte unter dem Titel „Massaker:<br />
Frühe Gedichte“.<br />
<strong>2012</strong> erhält Liao Yiwu ein einjähriges<br />
Stipendium <strong>des</strong> Berliner Künstlerprogramms<br />
<strong>des</strong> DAAD. Von Berlin aus<br />
setzt er sich mit einem öffentlichen<br />
Appell für seinen Freund, den chinesischen<br />
Untergrunddichter und –schriftsteller<br />
Li Bifeng ein, der seit Monaten<br />
inhaftiert ist und dem wegen sogenannter<br />
„wirtschaftlicher Straftaten“<br />
eine Verurteilung droht. Am 14. Oktober<br />
<strong>2012</strong> wird Liao Yiwu mit dem<br />
<strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels<br />
geehrt. Ende <strong>des</strong> Jahres wird<br />
in Deutschland sein neues Buch „Die<br />
Kugel und das Opium – Leben und<br />
Tod am Platz <strong>des</strong> Himmlischen Friedens“<br />
erscheinen.
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels Frühling <strong>2012</strong><br />
Thema: Thema: <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>2012</strong><br />
<strong>2012</strong><br />
Deutschsprachige Veröffentlichungen von Liao Yiwu<br />
„Fräulein „Fräulein Hallo Hallo und und der der Bauernkaiser: Bauernkaiser: Chinas Chinas Gesel Gesell- Gesel l<br />
schaft schaft von von unten“<br />
unten“<br />
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann und<br />
Brigitte Höhenrieder<br />
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009, 544 Seiten,<br />
broschiert, ISBN 978-3-596-18525-2, 10,99 €<br />
„Für „Für ein ein Lied Lied und und hundert hundert Lieder.<br />
Lieder.<br />
Ein Ein Zeugenbericht Zeugenbericht aus aus chinesischen chinesischen Gefängnissen“<br />
Gefängnissen“<br />
Gefängnissen“<br />
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann<br />
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 592 Seiten,<br />
gebunden, ISBN 978-3-10-044813-2, 24,95 €<br />
„Massaker: „Massaker: Frühe Frühe Ge Gedichte“ Ge dichte“<br />
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann<br />
hochroth Verlag, Berlin <strong>2012</strong>, 28 Seiten, broschiert,<br />
ISBN 978-3-902871-00-8, 6,00 €<br />
„si „si „si cheng“ cheng“ [„Die Stadt <strong>des</strong> To<strong>des</strong>“]<br />
ren min wen xue yue kan (Nr. 1 & 2), Beijing 1987<br />
„huang huang cheng“ [„Die gelbe Stadt“]<br />
dong bei wen xue yue kan (Nr. 2), Changchun 1989<br />
„ou „ou xiang“ xiang“ [„Das Idol“]<br />
kai tuo ji kan, Beijing 1989<br />
„chen „chen lun lun de de sheng sheng dian“ dian“ [„Der Untergang <strong>des</strong> heiligen<br />
Tempels“]<br />
Jugendverlag, Xinjiang 1999<br />
“bian “bian yuan yuan ren ren cai cai fang fang lu” lu” [„Interviews mit Menschen<br />
vom unteren Rand der Gesellschaft“]<br />
China Theaterverlag, Beijing 1999<br />
“bian “bian yuan yuan yuan ren ren cai cai fang fang lu” lu” [„Interviews mit Menschen<br />
vom unteren Rand der Gesellschaft“]<br />
Rye Field Publishing Co., Taipeh 2002<br />
„L'Empire „L'Empire „L'Empire <strong>des</strong> <strong>des</strong> bas bas-fonds“ bas fonds“ fonds“ („di guo di ceng“)<br />
Éditions Bleu de Chine, Paris 2003<br />
„China's „China's Unjust Unjust Court Court Cases“ Cases“ („zhong guo yuan an lu“)<br />
Volume 1; Edited by Liao Tianqi<br />
Laogai Foundation, Washington, D.C. 2005<br />
„China's „China's Petitioner Petitioner Petitioner Villages“ Villages“ Villages“ („zhong guo shang fang<br />
cun“)<br />
Mirror Publishing Co., Milwaukee 2005<br />
„China's „China's Unjust Unjust Court Court Court Cases“ Cases“ („zhong guo yuan an lu“)<br />
Volume 2; Edited by Liao Tianqi<br />
Laogai Foundation, Washington, D.C. 2005<br />
5<br />
„Erinnerung, „Erinnerung, bleib...“<br />
bleib...“<br />
Audio-CD und DVD, deutsch-englisch-chinesisch<br />
Lieblingsbuch-Verlag, Berlin <strong>2012</strong>,<br />
ISBN 978-3-943967-00-5, 24,90 €<br />
erscheint Anfang September <strong>2012</strong><br />
Weitere Veröffentlichungen<br />
„Die „Die Kugel Kugel und und das das Opium. Opium. Leben<br />
Leben<br />
und und Tod Tod am am Platz Platz <strong>des</strong> <strong>des</strong> Himmlischen Himmlischen Friedens“ Friedens“<br />
Friedens“<br />
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann<br />
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main <strong>2012</strong>, 592 Seiten,<br />
gebunden, ISBN 978-3-10-044815-6, 24,99 €<br />
erscheint Ende Oktober <strong>2012</strong><br />
„Poèmes „Poèmes de de prison: prison: Le Le Le grand grand massacre massacre massacre - L'âme L'âme endormie“<br />
endormie“<br />
Éditions L'Harmattan, Paris 2008<br />
„The „The Last Last of of China’s China’s Landlords“ Landlords“ („zui hou de di zhu“)<br />
The Laogai Research Foundation, Washington, D.C. 2008<br />
„The „The Corpse Corpse Walker. Walker. Real Real Life Life Stories: Stories: Stories: China China from from the the<br />
the<br />
Bottom Bottom Up“<br />
Up“<br />
Aus dem Chinesischen von Huang Wen<br />
Pantheon Books, New York 2008<br />
(gekürzte englischsprachige Ausgabe von [„Interviews<br />
mit Menschen vom unteren Rand der Gesellschaft“])<br />
[„Chronik [„Chronik <strong>des</strong> <strong>des</strong> Großen Großen Erdbebens“] Erdbebens“] (chinesisch)<br />
Hongkong 2009<br />
(Bericht über das Erdbeben in Sichuan 2008)<br />
[„Chronik [„Chronik [„Chronik <strong>des</strong> <strong>des</strong> Großen Großen Erdbebens“] Erdbebens“] (chinesisch)<br />
Asian Culture Publishing Co. Ltd., Taiwan 2009<br />
(Bericht über das Erdbeben in Sichuan 12.5.2008)<br />
„Quand „Quand la la terre terre s’est s’est s’est ouverte ouverte au au Sichuan: Sichuan: Sichuan: Journal Journal d’une<br />
d’une<br />
tragédie“<br />
tragédie“<br />
Éditions Buchet/Chastel, Paris 2010<br />
(franz. Ausgabe von [„Chronik <strong>des</strong> Großen Erdbebens“])<br />
„God „God is is red: red: The The Secret Secret Story Story of of How How Christianity Su Sur- Su<br />
r<br />
vived vived and and Flourished Flourished in in Communist Communist China“<br />
Aus dem Chinesischen von Huang Wen<br />
HarperOne, HarperCollins Publishers, New York 2011<br />
„zi „zi dan dan ya ya pian“ pian“ pian“ [„Die Kugel und das Opium“]<br />
Asian Culture Publishing Co. Ltd., Taiwan <strong>2012</strong>
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels Frühling <strong>2012</strong><br />
Thema: Thema: <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>2012</strong><br />
<strong>2012</strong><br />
"Es gibt keine Hoffnung für China"<br />
Ein Gespräch <strong>des</strong> „Börsenblatt-Wochenmagazin für den deutschen Buchhandel“ mit Liao Yiwu über die alltägliche<br />
Brutalität in China, die Überzeugungskraft <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>, Überleben im Gefängnis und das bittere<br />
Glück <strong>des</strong> Exils.<br />
Sie leben im deutschen Exil, in einem Wahl scheint es für Kritiker <strong>des</strong> Re- Fühlen Sie sich fernab von Ihrem Land<br />
Land, <strong>des</strong>sen Sprache Sie nicht begimes in China nicht zu geben. und den Menschen dort abgeschnitten<br />
herrschen. Wie geht es Ihnen hier, in<br />
von den Quellen Ihrer schriftstelleri-<br />
Berlin?<br />
schen Arbeit?<br />
Ich denke nicht viel über das Exil<br />
nach. Dafür lässt mir das Leben hier,<br />
meine Arbeit auch keine Zeit. Über<br />
das Internet bin ich außerdem in Kontakt<br />
mit meinen Freunden in China.<br />
Ich habe die Gewohnheit entwickelt,<br />
jeden Tag von meiner Wohnung in der<br />
Uhlandstraße zum Wilmersdorfer<br />
Volkspark zu spazieren, in der Nähe<br />
ist ein Friedhof. Ich empfinde eine<br />
große Ruhe dort. Zum Schluss erwartet<br />
jeden das Gleiche. Das Exil ist<br />
mein Schicksal. Dass ich einer Sprache<br />
nicht mächtig bin, beeinträchtigt<br />
nicht das Gefühl von Freiheit. Ich war<br />
in China häufiger in Regionen unterwegs,<br />
deren Sprache mir fremd war,<br />
gerade dort habe ich mich sehr frei<br />
gefühlt, fern von Überwachung.<br />
In China wurden Sie verfolgt, ins Gefängnis<br />
geworfen, die Veröffentlichung<br />
Ihrer Bücher unterdrückt. In<br />
Deutschland erhalten Sie renommierte<br />
Auszeichnungen: im vergangenen Jahr<br />
den Geschwister-Scholl-Preis und –<br />
wie jetzt bekannt wurde – am 14.<br />
Oktober <strong>2012</strong> den <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong><br />
<strong>Deutschen</strong> Buchhandels. Welche Empfindung<br />
weckt das, ist es eine mit<br />
Trauer vermischte Freude?<br />
Zunächst war ich für eine kurze Zeit<br />
fassungslos. Und dann wurde mir klar,<br />
dass ich ein Mensch bin, der unverschämtes<br />
Glück hat. Ich habe nicht<br />
mit Preisen gerechnet. Ich wollte lediglich<br />
vom Leben einfacher chinesischer<br />
Menschen erzählen.<br />
Als der mit Ihnen befreundete chinesische<br />
Regimekritiker Liu Xiaobo 2010<br />
den Friedensnobelpreis erhielt, blieb<br />
sein Platz in Stockholm leer. Er war<br />
zuvor zu elf Jahren Haft verurteilt und<br />
eingesperrt worden. Sie können den<br />
<strong>Friedenspreis</strong> in der Paulskirche in<br />
Frankfurt selbst entgegennehmen.<br />
Gefängnis oder Exil – eine andere<br />
© Foto: Ali Gandtschi/S.Fischer Verlag<br />
In China hat man mir damit gedroht,<br />
dass ich für lange Zeit verschwinden<br />
würde, sollte mein Buch "Für ein Lied<br />
und hundert Lieder" erscheinen. So<br />
habe ich beschlossen, ins Ausland zu<br />
gehen. Ich dachte nicht, dass sie es<br />
wagen würden, Liu Xiaobo erneut<br />
einzusperren. Beide wünschen wir uns<br />
Freiheit in China. Aber darüber hinaus<br />
sind wir sehr verschieden. Liu Xiaobo<br />
ist ein Intellektueller, für ihn sind<br />
Menschen wie Havel und Mandela<br />
Vorbilder. Er betrachtet sich als Anführer<br />
einer intellektuellen Elite. Ich<br />
selbst sehe mich als einen unpolitischen<br />
Schriftsteller, als ein Aufnahmegerät<br />
der Zeit. Ich schreibe auf, was<br />
andere Menschen mir erzählen. Die<br />
einfachen Leute sind mir näher, ich<br />
verstehe sie viel besser als die Elite.<br />
Ich sehe mich nicht auf einer Anhöhe,<br />
als kleine Ameise fühle ich mich am<br />
wohlsten. Als ich vom <strong>Friedenspreis</strong><br />
erfuhr und recherchiert habe, bin ich<br />
auf eine lange Liste von Preisträgern<br />
gestoßen, auf berühmte Intellektuelle<br />
– Václav Havel und Susan Sontag zum<br />
Beispiel. Ich dachte: Vielleicht hat sich<br />
der Börsenverein bei mir geirrt.<br />
6<br />
Ich habe viele gute und viele schlechte<br />
Dinge in China erlebt und aufgesogen.<br />
Eines Tages sagte mir die Polizei, dass<br />
ich ins Gefängnis muss. Als ich mich<br />
später auf den Weg in den Westen<br />
machte, befand sich in meinem Reisegepäck<br />
auch ausreichend Nahrung für<br />
weitere Bücher.<br />
In Ihrem Gefängnisbuch "Für ein Lied<br />
und hundert Lieder" berichten Sie von<br />
Folter und einem grausamen System<br />
von Bestrafungsritualen unter den<br />
Gefangenen selbst. Überleben kann<br />
nur, wer sich anpasst und die Regeln<br />
akzeptiert. Wie hat die Gefängniszeit<br />
Sie verändert?<br />
Vor dem Gefängnis war ich ein romantischer<br />
Dichter. Als ich mich dann in<br />
einer Zelle wiederfand, kam das einem<br />
Schock gleich. Es gab dort Menschen,<br />
wie ich sie nicht kannte, sie lebten<br />
zusammengepfercht auf wenig Raum,<br />
umgeben von Dreck und Gestank. Die<br />
haben mich am Anfang nur ausgelacht,<br />
weil ich nichts verstehen würde.<br />
Dabei hatte ich für meine Gedichte<br />
doch Preise bekommen. Mir wurde<br />
klar, dass ich gar nichts von den unteren<br />
Gesellschaftsschichten wusste. Ich<br />
habe also angefangen zu lernen, überhaupt<br />
lernen zu wollen, sonst hätte ich<br />
nicht überlebt. Als Neuling musste<br />
man zum Beispiel in der Hocke mit<br />
beiden Händen auf dem Kopf zum Klo<br />
hüpfen, ebenso zurück. Auf die Art<br />
wurde einem beigebracht, dass man<br />
ganz klein und erbärmlich ist. Man<br />
wurde zum Tier gemacht und nur so,<br />
als Tier, konnte man überleben. Es<br />
gibt viele, die entlassen werden und<br />
draußen nicht mehr leben können, die<br />
kehren schnell wieder zurück. Die<br />
chinesische KP hat einmal gesagt, das<br />
Gefängnis sei dazu da, die Knochen<br />
eines Menschen komplett durcheinanderzuschütteln.
Ihr Manuskript wurde zweimal konfisziert.<br />
Sie mussten immer wieder neu<br />
beginnen. Hat das Schreiben geholfen,<br />
um mit dem Erlebten zurande zu<br />
kommen?<br />
Ich hatte im Gefängnis meine Würde<br />
verloren. Nur durch das Schreiben<br />
konnte ich sie wiederfinden. Das war<br />
wie eine Entgiftung für mich. Dann<br />
haben sie mir mein Manuskript weggenommen.<br />
Mir blieb nichts weiter<br />
übrig, als immer wieder neu anzufangen.<br />
Ich war während dieser Zeit sehr<br />
verzweifelt und instabil, wurde oft<br />
zornig. Damals habe ich als Straßenmusiker<br />
in einer Kneipe gesungen.<br />
Einmal bekam ich mit einem anderen<br />
Streit. Da habe ich eine Flasche genommen<br />
und sie auf seinem Kopf<br />
zerschlagen, alles war voller Blut. Ich<br />
wurde erst ruhiger, als ich mit der<br />
dritten Fassung fertig war und sie in<br />
Sicherheit wusste. Manchmal dachte<br />
ich, die erste Version sei die beste,<br />
aber dann wurde mir deutlich, dass<br />
mir später immer neue Details eingefallen<br />
sind.<br />
Sie schildern auch, wie Sie sich im<br />
Gefängnis umbringen wollten. Trotzdem<br />
bleibt für mich der Eindruck von<br />
einem Menschen vorherrschend, der<br />
sich nicht unterkriegen lässt, der<br />
immer wieder aufbegehrt. Als<br />
schwach erscheinen Sie mir nicht, im<br />
Gegenteil.<br />
Ich habe das Leben im Gefängnis als<br />
mein Schicksal angesehen und versucht,<br />
mich unter den Bedingungen<br />
dort nicht völlig aufzugeben. Trotzdem<br />
habe ich oft große Hilflosigkeit und<br />
Traurigkeit empfunden. Die klassische<br />
Literatur und die Geschichte waren<br />
nützlich, weil mir durch sie verdeutlicht<br />
wurde, dass ich mich im Vergleich<br />
zu einigen meiner Landsleute,<br />
Konfuzius oder dem antiken Historiker<br />
Sima Qian, glücklich schätzen<br />
konnte. Der eine war ein Exilant, der<br />
ständig vertrieben wurde, den anderen<br />
ließ der Kaiser kastrieren.<br />
Wie haben Sie nach Ihrer Entlassung<br />
gelebt, fühlten Sie sich bedroht?<br />
Ich wurde ständig überwacht. Aber<br />
das sind auch Menschen, und sie<br />
waren nicht schlecht zu mir. Einer<br />
sagte: "Schau mal, du hast doch gar<br />
keine politischen Meinungen. Letztlich<br />
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels Frühling <strong>2012</strong><br />
Thema: Thema: <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>2012</strong><br />
<strong>2012</strong><br />
geht es doch bloß darum, zu leben. Du<br />
könntest zum Beispiel Hosen verkaufen."<br />
Ich widersprach: "Warum soll ich<br />
Hosen verkaufen?" Er: "Du verdienst<br />
Geld damit, wirst vielleicht sogar<br />
reich. Und wenn du mal Ärger hast,<br />
helfen wir dir."<br />
In China gelangen immer mehr Menschen<br />
zu Wohlstand. Erkauft sich das<br />
Regime so breitere Zustimmung? Und<br />
sind Sie angesichts <strong>des</strong>sen bloß ein<br />
einsamer Rufer in der Wüste?<br />
Ich betrachte die Entwicklung in China<br />
nicht als einen Aufstieg, im Gegenteil.<br />
Es gibt sehr viele schwache Menschen<br />
dort, für die nichts besser geworden<br />
ist. Das Land wird verseucht.<br />
Die Menschen kennen überhaupt<br />
keine moralischen Grenzen. China ist<br />
die größte Müllkippe der Welt. Die<br />
Umweltverschmutzung lässt sich in<br />
100 Jahren nicht beheben.<br />
Die Gespräche, die in dem Buch "Fräulein<br />
Hallo und der Bauernkaiser" versammelt<br />
sind, zeigen, wie sich Menschen<br />
am Rande der Gesellschaft<br />
behaupten. Zugleich machen sie eine<br />
furchtbare Erziehung zu Brutalität und<br />
Unmenschlichkeit kenntlich: Da sind<br />
Eltern, die zur Zeit der gigantischen<br />
Hungerkatastrophe Ende der 50er und<br />
Anfang der 60er Jahre ihre eigenen<br />
Kinder aufessen. Wie erging es Ihnen<br />
bei solchen Treffen?<br />
Ich bin in einem Gefängnis trainiert<br />
worden. Dort habe ich einen Mörder<br />
kennengelernt. Der Mann betrachtete<br />
mich als seinen letzten Zuhörer, bevor<br />
er hingerichtet wurde. Er erzählte mir<br />
immer wieder davon, wie er seine<br />
Frau ermordet, zerstückelt und gegessen<br />
hat. Ich höre einfach nur zu.<br />
Ihre Bücher und die darin festgehaltenen<br />
Erfahrungen und Erlebnisse<br />
zeichnen das Bild eines Lan<strong>des</strong>, in<br />
dem ein einzelnes Leben nicht viel<br />
zählt und ein selbstbestimmtes Dasein<br />
illusionär scheint. Lässt Sie das<br />
manchmal resignieren?<br />
Die Brutalität gehört zu den Folgen<br />
dieser Diktatur. In meinen Augen gibt<br />
es keinerlei Hoffnung für dieses Land.<br />
Wenn die Wirtschaft weiter wächst,<br />
führt das zu einer noch gewaltigeren<br />
Verschmutzung der Natur, aber auch<br />
der menschlichen Seele. Wenn Wirt-<br />
7<br />
schaftsleute aus dem Westen zu Besuch<br />
sind, dann wird nicht über Moral<br />
geredet, sondern nur über Geld. Von<br />
China geht eine große Gefahr für die<br />
westliche Kultur aus. Das Land exportiert,<br />
wie sich auf möglichst unmoralische<br />
und seelenarme Art regieren und<br />
die Wirtschaft lenken lässt. Ich war im<br />
vergangenen Jahr in den USA, um<br />
eine Rede an der Harvard University<br />
zu halten. Traditionell werden solche<br />
Auftritte aufgenommen und auf die<br />
Homepage gestellt. Bei dieser Gelegenheit<br />
habe ich mein Gedicht "Massaker"<br />
laut vorgetragen und davon<br />
gesprochen, dass dieses Attentat von<br />
1989 einen Wendepunkt für die Chinesen<br />
markiert: Aus glühenden Patrioten<br />
wurden Menschen, die nicht mehr<br />
ihr Land, sondern nur noch das Geld<br />
lieben. Nachdem ich geendet hatte,<br />
wurde eine Sitzung anberaumt, in der<br />
die Harvard-Professoren darüber diskutiert<br />
haben, ob meine Rede überhaupt<br />
auf die Website gestellt werden<br />
soll. Man muss dazu wissen, Kinder<br />
von chinesischen KP-Kadern sind<br />
Absolventen der Universität, die zahlen<br />
viel Geld. Die Professoren haben<br />
entschieden, das Video von meinem<br />
Auftritt nicht zu zeigen. Zur Begründung<br />
wurde ausgeführt, dass mein<br />
Übersetzer auch zu sehen sei, man ihn<br />
aber nicht in der Öffentlichkeit zeigen<br />
wolle.<br />
Diese verlogene Art der Argumentation<br />
kannte ich bis dahin nur aus China.<br />
Haben Sie den Wunsch, eines Tages<br />
nach China zurückzukehren?<br />
Ich habe kein Gefühl zu diesem Land.<br />
Meine Heimat ist nicht China, sie<br />
befindet sich in der Sichuan-Provinz<br />
und dort wird sie immer bleiben. Meine<br />
Zuneigung gehört meiner Familie,<br />
meinen Freunden. Meine kulturelle<br />
Heimat ist die Literatur: Laudse, Konfuzius.<br />
Es mag eigenartig klingen,<br />
aber gerade hier in Deutschland ist ein<br />
Heimatgefühl viel spürbarer für mich.<br />
Das Interview führte Holger Heimann.<br />
Frau Yeemei Guo hat übersetzt. Wir<br />
danken den beiden und dem Börsenblatt<br />
für die Erlaubnis, das Interview<br />
hier abdrucken zu dürfen.
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels Frühling <strong>2012</strong><br />
Thema: Thema: <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>2012</strong><br />
<strong>2012</strong><br />
Der Schrei der gequälten Kreatur<br />
Das Gefängnis nennt der chinesische Autor Liao Yiwu einen seiner Lehrmeister. Als unbeirrbarer Chronist<br />
seines Lan<strong>des</strong> wird er im Oktober mit dem <strong>Friedenspreis</strong> ausgezeichnet. Der Frankfurter Publizist Detlev<br />
Claussen hat ihn für das „Börsenblatt – Wochenmagazin für den deutschen Buchhandel“ porträtiert.<br />
Im Zentrum <strong>des</strong> Reichs der Mitte liegt der Platz <strong>des</strong><br />
Himmlischen Friedens. In der sonst unruhigen, hektischen<br />
Millionenstadt Beijing herrscht an gewöhnlichen<br />
Tagen eine majestätische Ruhe an diesem Ort, an dem im<br />
Juni 1989 ein neues Zeitalter begann – nicht nur für die<br />
Chinesen, sondern für die ganze Welt. Unter dem überlebensgroßen<br />
Porträt <strong>des</strong> Vorsitzenden Mao hatten wochenlang<br />
studentische Rebellen Demokratie gefordert, Kunststudenten<br />
bauten eine Statue of Liberty als Symbol universeller<br />
Freiheit auf. Die chinesische Volksbefreiungsarmee<br />
eröffnete den Krieg gegen das eigene Volk mit<br />
einem unbeschreiblichen Massaker.<br />
廖亦武<br />
Der Name von Liao Yiwu auf Chinesisch. In dieser Sprache wird<br />
der Nachname – Liao - vor den Vornamen – Yiwu - gestellt. Im<br />
<strong>Deutschen</strong> wird diese Schreibweise in der Regel übernommen.<br />
Unbeschreiblich? Vielleicht musste man fern vom Geschehen<br />
sein, um Worte für diesen weltgeschichtlichen<br />
Moment finden zu können. Der Szechuaner Undergroundpoet<br />
Liao Yiwu fand sie, ohne direkt dabei gewesen<br />
zu sein. Er schrieb das Gedicht „Massaker“, das sich in<br />
der Wucht <strong>des</strong> ausgedrückten Schreckens mit Paul Celans<br />
„To<strong>des</strong>fuge“ vergleichen lässt. Nachlesen lässt es sich<br />
inzwischen auf Deutsch in dem Buch „Für ein Lied und<br />
hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen“.<br />
Ist das überhaupt ein Gedicht? Man muss „To<strong>des</strong>fuge“<br />
einmal mit Celans Stimme gehört haben, um die Tonlage<br />
erfassen zu können – genauso geht es einem mit Liaos<br />
Poem. Von „Massaker“ kursierte gleich nach den blutigen<br />
Schreckenstagen 1989 ein Video, das durch das ganze<br />
Land geisterte. Aus dem esoterischen Avantgardekünstler<br />
war über Nacht ein gefährlicher Staatsfeind geworden.<br />
***<br />
Man muss Liao hören, um ihn besser zu verstehen – in<br />
jedem Sinne <strong>des</strong> Wortes. Das wusste Chinas Kommunistische<br />
Partei und jagte Liao, um ihn zum Verstummen zu<br />
bringen, als er nach dem Massaker am Tian’anmen durch<br />
den Untergrund geisterte. 1990 wurde er verhaftet, vier<br />
Jahre lang weggesperrt – ein Leben am Boden der Gesellschaft,<br />
in einer moralischen Kloake. Ein Ort, der den<br />
8<br />
Schrecken <strong>des</strong> sowjetischen Gulag-Systems vergleichbar<br />
ist. In einer Rede, die Liao 2007 in Hongkong halten wollte,<br />
als er einen vom unabhängigen chinesischen PEN-<br />
Zentrum gestifteten Freedom to Write Award entgegennehmen<br />
sollte, aber nicht durfte, nannte er das Gefängnis<br />
einen seiner vier Lehrmeister.<br />
„Ich bin dem Gefängnis dankbar, dass es mir die Möglichkeit<br />
eröffnete, zu begreifen, was Freiheit wirklich<br />
bedeutet, und dafür, dass ich die Manuskripte meiner<br />
Werke dort schrieb. Ich bin dem Gefängnis dafür dankbar,<br />
dass ich dort die Möglichkeit hatte, das Spiel der chinesischen<br />
Hsiao-Flöte zu erlernen, und dass ich lernte, Seelen<br />
aus weit entfernten Vergangenheiten herbeizurufen ...“<br />
Wer Liaos Flötenspiel hört, erfährt die beschwörende<br />
Kraft der Musik, die alle seine Texte durchzieht, nicht nur<br />
die lyrischen.<br />
Das Buch, das er nach der Haft und einem Leben auf den<br />
Straßen Szechuans schrieb, als er sein Geld als Straßenmusiker<br />
verdienen musste, hieß auf Englisch „The Corpse<br />
Walker“, auf Deutsch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“.<br />
Die für die englische Ausgabe titelgebende Geschichte<br />
„Die Totenrufer“ zeigt, wenn Liao sie selbst vorspielt,<br />
seine ganze Kunst. Ist es überhaupt eine Geschichte?<br />
Im Buch liest es sich wie ein Interview mit einem 90<br />
Jahre alten Feng-Shui-Meister; beim Vorlesen begleitet<br />
Liao den Text auf chinesischen Instrumenten, die den<br />
Geist der Toten herbeirufen.<br />
Die Geschichte führt in die Vergangenheit, als man mithilfe<br />
von „Corpse Walkern“ in der Fremde Verstorbene<br />
heimholte, um sie an einem geomantisch bestimmten<br />
Platz zu beerdigen. Nach der Machtübernahme der Kommunistischen<br />
Partei 1949 wurde diese Praxis <strong>des</strong> Heimholens<br />
der Toten unterdrückt; die Totenrufer galten als<br />
„Lakaien der Ausbeuterklasse“ und wurden „umerzogen“.<br />
Aus einem dramatischen Einzelfall Anfang der 50er Jahre,<br />
den der alte Feng-Shui-Meister erzählt, wird durch Liaos<br />
Gesprächsführung ein Dialog, der nicht nur den Geist der<br />
vergessenen Totenrufer heraufbeschwört, sondern auch<br />
die große Erzählung von der barbarischen Modernisierung<br />
Chinas anklingen lässt.<br />
„Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ verdanken wir<br />
dem „Lehrmeister Gefängnis“, von dem Liao sagt: „Ich<br />
danke ihm dafür, dass ich von morgens bis abends mit so<br />
vielen zum Tode Verurteilten, Reaktionären, Menschenhändlern,<br />
Bauernkaisern, Räuberbandenchefs, Betrügern<br />
und Falschspielern zusammen sein durfte.“
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels Frühling <strong>2012</strong><br />
Seine Lehrjahre verbrachte Liao im Knast, seine Wanderjahre<br />
verdankt er einem anderen Lehrmeister – der „Obdachlosigkeit“,<br />
die ihn Szechuan durchstreifen ließ. Aus<br />
den zahllosen Gesprächen mit den Erniedrigten und Beleidigten<br />
der chinesischen Gesellschaft ist ein gigantischer<br />
Erinnerungspalast aus Wörtern entstanden, von<br />
dem wir im <strong>Deutschen</strong> bislang erst die Spitze zu sehen<br />
bekommen haben. Liaos Bücher zu lesen ist wie ein Eintauchen<br />
in das Meer <strong>des</strong> Vergessens, ins „Wasser der<br />
Bitternis“, wie er es nennt; aber für den Autor bedeutet<br />
das Schreiben das Überleben selbst. In seinem nächsten<br />
Buch, das im Herbst auf Deutsch erscheint, „Die Kugel<br />
und das Opium“, überlegt er sich, was wäre: „Wenn sie<br />
mich eines Tages auch noch <strong>des</strong> Schreibens berauben,<br />
dann spiele ich Flöte, dann werde ich Straßenmusiker,<br />
dann heule und brülle ich es direkt hinaus. An meiner<br />
Stimme können die Leute hören, was ich von dieser<br />
schändlichen Epoche festgehalten habe. Sie können meine<br />
Flüche hören, meinen Fluch und meine Wut und meine<br />
Empörung. Natürlich werden sie in meiner Stimme<br />
auch meine Einsamkeit, meinen Narzissmus und meine<br />
selbstlose Liebe hören – das ist die beste Ausrede, die ich<br />
für mein Weiterleben habe.“<br />
***<br />
Liaos Stimme ist der Schrei der gequälten Kreatur, der<br />
nicht zum Verstummen gebracht werden konnte. Als er<br />
aus dem Gefängnis entlassen wurde, hatte er nichts und<br />
wanderte als Straßenmusiker durch Szechuan. Als er<br />
wieder sesshaft geworden war, wurden ihm durch mehrmalige<br />
Hausdurchsuchungen seine Werke entwendet.<br />
Aber er restituierte sie.<br />
Die Schreie der Erniedrigten und Beleidigten finden in<br />
Liaos Literatur eine Form, die auch für einen außenstehenden<br />
Nicht-Chinesen ihre Sache als seine Sache erscheinen<br />
lassen. Schon Primo Levi hatte seine Erfahrungsberichte<br />
aus Auschwitz auf Deutsch veröffentlichen<br />
lassen, damit die Anderen eine Chance haben zu verstehen,<br />
Scham zu empfinden – „die Scham, die ein jeder<br />
Mensch darüber empfinden müsste, dass es Menschen<br />
waren, die Auschwitz erdacht und errichtet haben“.<br />
Das ganze Oeuvre Liaos ist ein artikulierter Schrei, den<br />
man, auch ohne Chinesisch zu können oder viel über<br />
China zu wissen, hören kann. Man muss sich nur an die<br />
vier Lehrmeister Liaos halten – neben Gefängnis und<br />
Obdachlosigkeit noch Hunger und Schande. Alle sind<br />
nicht nur in China anzutreffen. So individuell das ist, was<br />
Liao zum Ausdruck bringt, so ist es doch universal verständlich.<br />
Wir im westlichen Europa haben nur vergessen, dass der<br />
Hunger zu den einschneidensten weltweiten Erfahrungen<br />
<strong>des</strong> grausamen short century, <strong>des</strong> kurzen 20. Jahrhunderts<br />
von 1917 bis 1989, gehört. Der Hunger während der<br />
Weltwirtschaftskrise und in den letzten Kriegsjahren<br />
machte im Boom der folgenden Jahrzehnte den Wunsch<br />
Thema: Thema: <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>2012</strong><br />
<strong>2012</strong><br />
9<br />
nach Vergessen weltweit populär. In Liaos Lebensgeschichte<br />
findet sich die Erfahrung <strong>des</strong> short century zusammengezogen:<br />
1958 geboren, sind seine ersten Lebensjahre<br />
von der großen chinesischen Hungerkatastrophe<br />
bestimmt – als Kind war er so geschwächt, dass er nicht<br />
einmal mehr weinen konnte. „Und wenn auch der Himmel<br />
über mir einstürzt, zuerst werde ich essen, bis ich<br />
satt bin.“<br />
***<br />
In China ist die Existenzbedrohung durch Hunger noch so<br />
präsent, dass man anstelle von „How do you do?“ noch<br />
heute fragt: „Haben Sie heute schon gegessen?“ Erst<br />
kommt das Fressen: China platzt heute aus allen Nähten<br />
... und dann kommt nicht die Moral, sondern das Vergessen.<br />
Die Amnesie soll den Lehrmeister Schande vergessen<br />
lassen, dem keiner gern zuhören mag. Ihm verdanken wir<br />
das grandiose Buch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“,<br />
das Liao so zusammenfasst: „Man kann sagen, dass<br />
dieses Buch infam ist, weil es beschreibt, mit welcher<br />
Verwerflichkeit wir unter größter Schmach und in grenzenloser<br />
Not, im Mief von Blut und Schweiß, überlebten.<br />
Wir erlangten die Normalität einer geschäftigen Kakerlake.“<br />
Nach 1990, noch als er im Szechuaner Gefängnis saß,<br />
wurde China weltweit zum Leuchtfeuer <strong>des</strong> ökonomischen<br />
Booms. Das Opium wachsenden Lebensstandards<br />
ergriff die Massen und rettete die Parteidiktatur vor ihrem<br />
Zorn. Opium war das von England importierte zerstörerische<br />
Gift, das China im 19. Jahrhundert zum Spielball der<br />
imperialistischen Mächte machte. In Europa hielt Marx<br />
die Religion für das Opium <strong>des</strong> Volkes, China ist das größte<br />
irreligiöse Land der Erde. Die Europäer haben versucht<br />
es zu missionieren; die herrschende Klasse glaubte im<br />
traditionellen China wie im modernen nur an die Macht<br />
und fühlte sich von Gläubigen aller Art stets bedroht.<br />
Integraler Teil der Machtausübung ist die Herrschaft über<br />
die Geschichte, die Liao für die eigentliche chinesische<br />
Religion hält. In diesem Sinne arbeitet Liao als Religionskritiker;<br />
er mobilisiert in jeder literarischen Form die<br />
Erinnerung gegen die Diktatur über eine entstellte Geschichte.<br />
Liao handelt wie ein Odysseus, der als Einzelner<br />
gegen übermächtige Kräfte kämpft – aber als ein Odysseus,<br />
der sein eigener Homer ist.<br />
Dieser Homer singt nicht nur in Versen, sondern bezeugt,<br />
reflektiert und analysiert. Epos, Lyrik, Roman und Flöte<br />
werden von Liao grenzüberschreitend zu einem fragilen<br />
Netz der Menschlichkeit geknüpft, an dem auch der Leser<br />
durch Aufmerksamkeit und Empathie mitzustricken vermag.<br />
Der Artikel ist im Börsenblatt, Heft 26, <strong>2012</strong> erschienen.<br />
Wir danken dem Autor und dem Börsenblatt für die Erlaubnis,<br />
ihn hier zu veröffentlichen.
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels Frühling <strong>2012</strong><br />
Thema: Thema: <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>2012</strong><br />
<strong>2012</strong><br />
"Was für eine gute Wahl!"<br />
Lob und Kritik zur Wahl von Liao Yiwu<br />
Während in Deutschland die am 21. Juli <strong>2012</strong> verkündete Entscheidung <strong>des</strong> Börsenvereins, Liao Yiwu mit<br />
dem <strong>Friedenspreis</strong> auszuzeichnen, auf durchweg positive Resonanz gestoßen ist, übt das offizielle China<br />
harsche Kritik an der Entscheidung. Eine Zusammenfassung der Reaktionen aus den vergangenen Tagen.<br />
Die Reaktion kam unerwartet spät, aber sie kam. Nachdem<br />
Mark Siemons in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“<br />
vom 22.6.<strong>2012</strong> über die positiven Reaktionen unter<br />
den systemkritischen chinesischen Künstlern auf Liao<br />
Yiwus Wahl zum <strong>Friedenspreis</strong>träger berichtete, vergingen<br />
drei Tage, bis China offiziell Stellung nahm. Siemons<br />
weist in seinem Artikel auf die aberwitzige Gleichzeitigkeit<br />
bei den beiden im Westen bekanntesten Opfern chinesischer<br />
Reiseverbote hin: „Am selben Tag, als der Börsenverein<br />
<strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels den Schriftsteller<br />
Liao Yiwu in Berlin als neuen <strong>Friedenspreis</strong>träger bekannt<br />
gab, wurde dem Künstler Ai Weiwei in Peking<br />
mitgeteilt, dass er trotz seiner auslaufenden Kautionszeit<br />
weiterhin nicht außer Lan<strong>des</strong> reisen darf.“ Ai Weiwei<br />
drückte in einem Telefonat seine Freude über den <strong>Friedenspreis</strong><br />
an Liao Yiwu aus, der „Einfluss <strong>des</strong> Dichters im<br />
Lande erstrecke sich allerdings vor allem auf Literatenzirkel<br />
und weniger auf die Gesellschaft als ganze“.<br />
和平獎<br />
Das Wort für „<strong>Friedenspreis</strong>“ auf Chinesisch<br />
Das könnte sich nun mit der offiziellen Stellungnahme<br />
Chinas, über die "Die Welt" berichtet, ändern. Am Montag<br />
nach der Bekanntgabe kritisierte Hong Lei, Sprecher <strong>des</strong><br />
chinesischen Außenministeriums, vor Journalisten in<br />
Peking die Wahl von Liao Yiwu zum <strong>Friedenspreis</strong>träger.<br />
Liao sei wegen „illegaler Aktivitäten“ verurteilt worden<br />
und „fabriziert Geschichten, um Sympathie und Unterstützung<br />
zu bekommen“, so Hong, der äußerte, dass er<br />
darauf hoffe, dass die „relevanten Institutionen und Personen“<br />
in Deutschland die Entwicklungen in China in<br />
„objektivem und fairem Licht“ betrachten würden. Mit<br />
dieser Reaktion ist durchaus zu rechnen gewesen, denn<br />
schließlich, so zitiert Mark Siemons den Kulturkritiker<br />
Zhu Dake aus Shanghai, seien in China „nicht nur Liaos<br />
Bücher, sondern auch die Nennung seines Namens in den<br />
Medien verboten. […] Eine Anerkennung wie der <strong>Friedenspreis</strong><br />
werde die Offiziellen gewiss ärgern. ‚Aber die<br />
inoffizielle Gesellschaft‘, so Zhu, ‚wird sich freuen‘.“<br />
„Eine gute, eine große Wahl“, findet die „Süddeutsche<br />
Zeitung“ vom vergangenen Freitag, denn wie „kaum ein<br />
10<br />
Zweiter legte er Zeugnis ab, über all die Lebensgeschichten<br />
von Dissidenten, Straftätern, Außenseitern seines<br />
Lan<strong>des</strong>, die sonst verschwunden wären. Die Stimmen der<br />
Entrechteten Chinas bleiben durch ihn erhalten.“ Denn<br />
schließlich, wie Liao Yiwu dem Autoren Alex Rühle erzählte,<br />
„sammle er die Geschichten, die sonst verloren<br />
gingen; oder wie er es bei einem Treffen in einem Hamburger<br />
Café einmal formulierte: ‚Ich bin das Tonbandgerät<br />
meiner Generation‘.“<br />
Susanne Metzner hebt in der „tageszeitung“ Liaos literarischen<br />
Fähigkeiten hervor. „Was in der Wertschätzung<br />
Liao Yiwus als mutiger Dissident oft untergeht, das ist die<br />
Wirkung seiner Sprache. Diese erwischt auch jene, die<br />
bislang wenig mit China am Hut hatten. Sie herzustellen<br />
ist eine hohe Kunst, denn selbst ein Realist wie Liao Yiwu<br />
weiß, dass man Wirklichkeit niemals abschreiben, sondern<br />
nur evozieren kann.“ Es gebe Stellen in seinem Buch<br />
über die Erlebnisse während der Gefängniszeit, bei denen<br />
den Lesern physisch übel werden könne. Weder erkläre<br />
noch rationalisiere er in seinen Schilderungen, noch will<br />
er eine „minimalistische, lakonische Sprache. Vielmehr<br />
gelingt es ihm, den Leser in die Überwältigung seiner<br />
Person, ins Anschreiben gegen Folter und seelische wie<br />
körperliche Vernichtung mitzunehmen.“<br />
Bernhard Bartsch betont in der „Frankfurter Rundschau“<br />
die Verantwortung, die Liao Yiwu für das Schicksal seines<br />
Freun<strong>des</strong> Li Bifeng empfindet, der den <strong>Friedenspreis</strong>träger<br />
vor seiner Flucht aus China finanziell unterstützt<br />
hatte und den man danach inhaftierte. „Wenn er zu 10<br />
Jahren verurteilt würde, wäre Li Bifeng nach der Entlassung<br />
ein alter Hund. Das Leben eines hochtalentierten<br />
Dichters und Schriftstellers würde somit völlig zerstört“,<br />
zitiert Bartsch aus dem öffentlichen Appell Liao Yiwus,<br />
seinen Freund zu unterstützen, und fügt selbst hinzu:<br />
„Sein Freund Liao Yiwu ist frei und kann Zeugnis ablegen.<br />
Man muss ihm nur zuhören.“<br />
„Eine gute und im Sinne <strong>des</strong> Preises ehrenwerte Wahl,<br />
aber eben auch ein Politikum“, findet Lothar Schröder in<br />
der „Rheinischen Post“, denn „erst vor drei Jahren war<br />
China das Gastland der Frankfurter Buchmesse und<br />
machte damals weidlich Werbung in eigener und staatstragender<br />
Sache. Mit Liao Yiwu ist dieses Bild einer unkritischen<br />
Annäherung an das Land der aufgehenden Sonne<br />
wieder korrigiert worden.“
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels Frühling <strong>2012</strong><br />
Als großer Autor und Dokumentarist, der mit seinen Interviews<br />
mit Landsleuten vom Rande der Gesellschaft<br />
auch bei uns für Furore und mit seinem jüngsten Buch für<br />
lange noch nachklingende Zeugenberichte aus chinesischen<br />
Gefängnissen gesorgt habe, sei Liao Yiwu aber<br />
„weit bedeutender als bloß der willkommene Statist in<br />
Sachen Menschenrechte“.<br />
Herta Müller im Arm von Liao Yiwu bei der Verleihung <strong>des</strong><br />
Geschwister-Scholl-Preises 2011. © Kerstin Dahnert<br />
Für eine sehr ausführliche Berichterstattung mit persönlichen<br />
Bekenntnissen haben der „Deutschlandfunk“ und<br />
die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ gesorgt. Im<br />
„Deutschlandfunk“ sorgen am Tag der Verkündung Ruth<br />
Kirchner, Hubert Winkels, Detlev Claussen und weitere<br />
Interviewpartner für einen Einblick in das Leben und<br />
Werk <strong>des</strong> Preisträgers. In einem in der FAZ am 22. Juni<br />
abgedruckten Interview mit Herta Müller, die mit Liao<br />
Yiwu befreundet ist, berichtet sie von ihrer besonderen<br />
Verbundenheit ihm gegenüber, die sie seit seinem ersten<br />
Besuch in Deutschland im Jahr 2010 hat. „Ich freue mich<br />
sehr, dass die Sympathie gegenseitig ist – das ist ja nicht<br />
selbstverständlich. Sicher verbinden uns auch Erfahrun-<br />
Thema: Thema: <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>2012</strong><br />
<strong>2012</strong><br />
11<br />
gen. Aber was mir passiert ist, kann man nicht mit dem<br />
vergleichen, was er ertragen musste. Und ich kam mit<br />
meiner deutschen Muttersprache nach Deutschland. Liao<br />
Yiwu versteht hier kein Wort.“ Dies sei 2010 auch der<br />
Grund für seine Rückkehr nach China gewesen, auch<br />
wenn sie ihn schon damals Jahren davon habe abhalten<br />
wollen. Bei der Lektüre von „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“<br />
habe sie dann begriffen, mit welch großem<br />
Autor sie zu tun habe. Besonders seine Wahrhaftigkeit,<br />
„die Mischung aus poetischer Kraft und dokumentarischer<br />
Klarheit“, würde den Wert seiner Bücher ausmachen,<br />
verbunden mit einer inneren Dringlichkeit, „diese<br />
verzweifelte Ironie und freche Melancholie, die einhergehen<br />
mit dem Willen, Zeugnis abzulegen“.<br />
„Es ist die beste Entscheidung, die man sich denken kann<br />
und zugleich die mutigste“, urteilt Andreas Platthaus in<br />
der gleichen Ausgabe. Liao Yiwu sei jemand, der mit<br />
seiner Haltung nicht nur in Peking Angst erwecke, sondern<br />
mit seiner Literatur auch bei den Lesern Furcht<br />
verbreiten könne, so dass man sich frage, „was ist das für<br />
ein Mann, der solche Demütigungen wegzustecken weiß?“<br />
Für Platthaus ist er ein Mann, der im Frieden mit sich<br />
selbst sei, aber Unfrieden stifte, der der Freiheit diene.<br />
„Man muss harsche chinesische Reaktionen auf die Auszeichnung<br />
Liao Yiwus befürchten. […] Ein Mann, der kein<br />
Staatsfeind, sondern ein Wahrheitsfreund ist - solche noch<br />
schwerer einzuschätzenden Leute sieht man in China<br />
nicht gern ausreisen. Noch weniger schätzt man symbolkräftige<br />
Auszeichnungen für sie.“ Dass Liao Yiwu in<br />
Deutschland Zuflucht gefunden habe, sei Ehre und Verpflichtung<br />
zugleich, eine Verpflichtung, die er auch durch<br />
die Veröffentlichung seines neuen Buches „Die Kugel und<br />
das Opium“ kurz nach der Preisverleihung sicher einlösen<br />
werde. „Dann spätestens ist das deutsche Publikum gefordert<br />
(die deutsche Politik sowieso).“<br />
Von politischer Seite reagierte bereits Bun<strong>des</strong>tagspräsident<br />
Norbert Lammert. „Mit Freude und Respekt“ habe er<br />
die Entscheidung <strong>des</strong> Stiftungsrats <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>es<br />
zur Kenntnis genommen. „Die Wahl steht in der Tradition,<br />
mit der Preisverleihung auch ein Signal der Ermutigung<br />
an Künstler zu senden, die – oft unter Einsatz ihres Lebens<br />
und ihrer Freiheit – für Demokratie und Menschenrechte<br />
in ihren Ländern kämpfen“, so Norbert Lammert<br />
am Tage der Verkündung. Und auch die Vorsitzende <strong>des</strong><br />
Bun<strong>des</strong>tagsausschusses für Kultur und Medien, Monika<br />
Grütters, sowie der kultur- und medienpolitische Sprecher<br />
der CDU/CSU-Bun<strong>des</strong>tagsfraktion, Wolfgang Börnsen,<br />
begrüßen die Entscheidung und finden Liao Yiwu einen<br />
würdigen <strong>Friedenspreis</strong>träger.
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
Boualem Boualem Boualem Sansal<br />
Sansal<br />
Die Die Folgen Folgen einer einer Reise<br />
Reise<br />
In Deutschland und Frankreich, in Israel und der Arabischen Welt ist die Reise von Boualem Sansal<br />
nach Jerusalem – als der erste, offiziell von Israel eingeladene Schriftsteller aus Algerien – und die daraus<br />
folgenden Konsequenzen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt worden. Die Chronologie der Ereignisse<br />
– beginnend mit der Kritik und dem Boykottaufruf der Hamas, den Eindrücken von Boualem<br />
Sansal aus Jerusalem, der ‚Aberkennung‘ eines Preises und wie er schließlich doch verliehen wurde –<br />
wird hier noch einmal nachgezeichnet.<br />
Dabei wird auch deutlich, wie wichtig es ist, aber auch wie gefährlich es sein kann, wenn ein Schriftsteller<br />
auf seinem Recht der freien Meinungsäußerung, seiner Reisefreiheit und dem unbedingten Willen<br />
<strong>des</strong> freien Meinungsaustauschs besteht.<br />
Hamas Hamas verurteilt verurteilt Teilnahme Teilnahme von<br />
von<br />
Boualem Boualem Sansal Sansal auf auf Jerusalemer Jerusalemer Literaturfestival<br />
Literaturfestival<br />
Die Anwesenheit <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>trägers von 2011 sei als ein „Verbrechen<br />
gegen die algerischen Freiheitskämpfer“ zu werten. (3. Mai <strong>2012</strong>)<br />
Israelische Zeitschriften und französischsprachige Internetseiten<br />
berichten, dass ein für Kultur zuständiger Vertreter<br />
der Hamas-Regierung im Gaza-Streifen die Teilnahme<br />
von Boualem Sansal am Literaturfestival von Jerusalem<br />
scharf verurteilt. In einer Pressemitteilung wird die<br />
Anwesenheit <strong>des</strong> algerischen Schriftstellers als ein „Verbrechen<br />
gegen die anderthalb Millionen algerischen Märtyrer,<br />
die ihr Leben im Kampf für die Freiheit Algeriens<br />
während der Okkupation Frankreichs geopfert haben“,<br />
bezeichnet.<br />
Boualem Sansal (© C. Hélie Gallimard)<br />
12<br />
Darüber hinaus sei der Besuch nach Ansicht der Hamas<br />
ebenfalls als ein Verbrechen gegen das palästinensische<br />
Volk zu werten, „das mit Blut, Verletzungen und Leiden<br />
den Preis für ihre Märtyrer zu zahlen“ habe. Der Autor<br />
mache sich an der Legitimierung dieser Verbrechen mitschuldig,<br />
da es hierbei um „ein offensichtliches Einverständnis<br />
mit den Verbrechen der Besatzung an dem palästinensischen<br />
Volk“ handele, zitiert Antoine Chatrier<br />
von „JSSNews“ vom 28. April <strong>2012</strong> aus der Pressemitteilung.
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels Frühling <strong>2012</strong><br />
Eine Teilnahme arabischer Schriftsteller an dem Literaturfestival,<br />
das vom 12.-17. Mai <strong>2012</strong> stattfindet, sei laut<br />
Hamas unter allen Umständen zu verhindern. Sie fordert<br />
die algerische Regierung auf, die Teilnahme von Boualem<br />
Sansal zu verurteilen und zu verhindern. Zudem ruft die<br />
Hamas die Arabische Welt zu einem Boykott Sansals auf,<br />
sollte er tatsächlich kommen.<br />
Boualem Sansal, der dem Islam und besonders den fundamentalistischen<br />
Richtungen kritisch gegenübersteht,<br />
hat in seiner <strong>Friedenspreis</strong>rede die Hoffnung ausgedrückt,<br />
dass die Rebellionen in der arabischen Welt auch<br />
Auswirkungen auf den ältesten Konflikt der Welt haben<br />
wird, und den Antrag auf Anerkennung eines unabhängigen<br />
und souveränen palästinensischen Staates in den<br />
Grenzen von 1967, den Präsident Abbas der UNO vorgelegt<br />
hat, ausdrücklich gelobt. „Ich bin der Meinung, dass<br />
dieser kleine Schlag, selbst wenn er daneben ging, sich<br />
noch als großer Schlag erweisen wird, so entscheidend<br />
wie die Selbstverbrennung <strong>des</strong> jungen Tunesiers<br />
Bouazizi, die die arabische Welt entflammte. […] Zum<br />
ersten Mal haben Palästinenser wie Palästinenser im<br />
Dienste Palästinas agiert und nicht als Instrument im<br />
Dienste einer mythischen arabischen Nation oder einer<br />
leider sehr reellen dschihadistischen Internationale. Einen<br />
Frieden können nur freie Menschen schließen; Abbas ist<br />
Boualem Boualem Boualem Sansal<br />
Sansal<br />
13<br />
als freier Mensch gekommen, und er wird das vielleicht<br />
wie Sadat mit dem Leben bezahlen, denn es fehlt in der<br />
Region nicht an Feinden <strong>des</strong> Friedens und der Freiheit,<br />
die sich nun in die Enge gedrängt sehen.“ Zugleich betonte<br />
Sansal in der Paulskirche die Freiheit <strong>des</strong> Staates Israel,<br />
„es ist eine schöne, eine große, eine erstaunliche Demokratie,<br />
und mehr als je<strong>des</strong> andere Land braucht es<br />
Frieden; der ständige Kriegs- und Alarmzustand, in dem<br />
es seit sechzig Jahren lebt, ist nicht mehr tragbar.“<br />
Auf den französischsprachigen Internetseiten, die das<br />
Thema behandeln, kommentieren die Leser den Aufruf<br />
der Hamas äußerst kritisch und sagen Boualem Sansal<br />
ihre Unterstützung zu, gerade auch angesichts seines<br />
Eintretens für die algerische Region der Kabylei, die starken<br />
Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt ist. In<br />
einer Solidaritätsnote (auf „primo-info.eu“ vom 30.4.<strong>2012</strong>)<br />
spricht der algerische Filmemacher Jean-Pierre Lledo von<br />
einer großen Chance, die in dieser ersten offiziellen Einladung,<br />
die Israel an einen algerischen Intellektuellen<br />
ausgesprochen hat, liegt. „Seine Teilnahme an der Messe<br />
ist mehr als eine mutige Handlung. […] Und jenen, die es<br />
stets abstreiten, möchte ich noch einmal entgegnen, dass<br />
es nur ein einziges Land im Mittleren Osten gibt, in dem<br />
sich die Moslems nicht gegenseitig umbringen und wo die<br />
Meinungsfreiheit nicht beschränkt ist, und das ist Israel.“<br />
"Ich bin nach Jerusalem gefahren ...<br />
… und reich und glücklich zurückgekommen"<br />
Ein Erlebnisbericht von Boualem Sansal, <strong>Friedenspreis</strong>träger 2011, über seine Reise zum Autorenfestival<br />
nach Jerusalem und über die Anfeindungen, denen er zuvor ausgesetzt war. (24. Mai <strong>2012</strong>)<br />
© C. Hélie Gallimard<br />
Liebe Brüder, liebe Freunde aus Algerien, Palästina, Israel<br />
und anderen Ländern,<br />
ich schreibe euch ein paar Zeilen mit Neuigkeiten über<br />
mich, denn vielleicht habt ihr euch Sorgen um mich gemacht.<br />
Ich bin ein einfacher Mensch, wie ihr wisst, ein<br />
Schriftsteller, der niemals behauptet hat, etwas anderes<br />
zu tun, als euch Geschichten zu erzählen, „Geschichten,<br />
die man nicht erzählt“, wie mein Freund, der Filmemacher<br />
Jean-Pierre Lledo, sagen würde. Aber nun hat man<br />
sich in unsere brüderlichen und freundschaftlichen Beziehungen<br />
eingemischt, um mich in euren Augen zu einem<br />
Gegenstand <strong>des</strong> Skandals zu machen.<br />
Stellt euch vor, sie haben mich nichts weniger als <strong>des</strong><br />
Hochverrats gegenüber der arabischen Nation und der<br />
muslimischen Welt im Allgemeinen beschuldigt. Das soll<br />
heißen, was es heißt, es braucht nicht einmal mehr eine<br />
Gerichtsverhandlung. Diejenigen, die das getan haben,<br />
gehören der Hamas an, es sind gefährliche und berechnende<br />
Menschen, sie haben in Gaza das arme Volk in<br />
Geiselhaft genommen und seit Jahren erpressen sie es<br />
tagtäglich, im Dunklen und hinter verschlossenen Türen,<br />
was ihnen durch die israelische Blockade ermöglicht wird.
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels Frühling <strong>2012</strong><br />
Und jetzt wollen sie uns diktieren, was wir zu denken, zu<br />
sagen und zu tun haben – uns, die mit allen Mitteln versuchen,<br />
uns zu befreien. Und es gibt auch noch die anderen,<br />
jene anonymen, verschlossenen Individuen, angesäuert<br />
und verbittert, die den Hass im Internet verkünden.<br />
Durch sie, durch ihre Rachebekundungen und Beleidigungen<br />
habt ihr von meiner Reise erfahren und damit<br />
die Dinge zwischen uns klar sind, gebe ich es zu: Ja, ich<br />
bin nach Israel gefahren.<br />
Was für eine Reise und was für ein Empfang! Verzeiht,<br />
dass ich meine Abreise nicht selbst angekündigt habe,<br />
aber ihr müsst verstehen, es bedurfte der Diskretion,<br />
denn Israel ist kein Reiseziel für die Araber, oder doch? …<br />
Diejenigen, und es waren nicht die schlechtesten, die mir<br />
in das Land, wo Milch und Honig fließen, vorausgegangen<br />
sind, machten es im Geheimen, sogar mit falschen Namen<br />
oder Pässen, wie damals jene tapfere Frau Khalida Toumi,<br />
die sich vehement dem Polizeistaat und intriganten Regime<br />
von Algier entgegensetzt hat, heute ist sie die schillernde<br />
Kulturministerin, ein sehr konformistischer Kopf<br />
bei der hemmungslosen Jagd auf die Verräter, auf die<br />
Abtrünnigen und die anderen Harkis. Es liegt insbesondere<br />
an ihr, dass die Algerier jeden Tag mit Unannehmlichkeiten<br />
und Aggressionen in ihrem schönen Land leben<br />
müssen. Ihre Zöllner hätten mich nie heraus gelassen,<br />
wenn ich mich an ihrem Posten mit einem Flugticket für<br />
einen Direktflug von Algier nach Tel-Aviv in der einen<br />
Hand und in der anderen meinen schönen grünen Pass, in<br />
dem frisch ein israelisches Visum geklebt hätte, vorstellig<br />
geworden wäre. Ich frage mich, ob sie wirklich so weit<br />
gegangen wären und mich aus dem Weg geräumt hätten.<br />
Aber ich machte es anders, und der Trick hat funktioniert,<br />
indem ich den Weg über Frankreich genommen habe,<br />
mich in Paris mit einem israelischen Visum ausstattete,<br />
in der Rue Rabelais durch einen schnellen Sprung aus<br />
dem Taxi, und somit bin ich heute im Besitz von tausend<br />
und einer Geschichte, worüber ich euch, so Gott will, in<br />
einem nächsten Buch im Einzelnen erzählen werde. Ich<br />
werde euch dann von Israel und den Israelis erzählen, wie<br />
man sie mit eigenen Augen vor Ort ganz direkt und weit<br />
weg von jeder Doktrin sehen kann, mit der Gewissheit,<br />
diese Sicht bei der Rückkehr keinem Wahrheitstest unterziehen<br />
zu müssen. Tatsache ist, dass es in dieser Welt<br />
kein anderes Land und kein anderes Volk gibt, die sind<br />
wie sie. Was mich betrifft, bin ich beruhigt und zugleich<br />
fasziniert, dass ein jeder von uns einmalig ist – das ist oft<br />
anstrengend, aber wir neigen dazu, den einzelnen zu<br />
umsorgen, denn sein Verlust wäre unwiderruflich.Ich<br />
werde euch auch über Jerusalem, über Al-Qods erzählen.<br />
Für mich fühlte es sich an, als wäre dieser Ort nicht wirklich<br />
eine Stadt und seine Einwohner nicht wirklich Einwohner,<br />
denn es liegt dort eine Art Unwirklichkeit in der<br />
Luft und Überzeugungen am Boden, die uns fremd sind.<br />
Bei dieser Jahrtausende alten Stadt ist es einfach vergeblich,<br />
etwas verstehen zu wollen, alles ist Traum und Magie,<br />
man kommt hier mit den größten Propheten zusammen,<br />
und die majestätischsten Könige kann man befragen,<br />
man kann mit ihnen sprechen wie mit Freunden aus<br />
der Nachbarschaft, Abraham, David, Salomon, Maria,<br />
Boualem Boualem Boualem Sansal<br />
Sansal<br />
14<br />
Jesus und Mohammed, der Letzte der Linie, und Saladin,<br />
der heldenhafte Ritter, der Gruß gilt ihnen, man passiert<br />
ein Geheimnis, ein Mysterium nach dem anderen, ohne<br />
Übergang wechselt man zwischen den Jahrtausenden und<br />
dem Paradox, gleichzeitig unter einem weißen Himmel<br />
und einer immer glühenden Sonne zu sein. Die Gegenwart<br />
mit ihren Neuigkeiten scheint so vergänglich, dass<br />
man bald nicht mehr an sie denkt. Wenn es eine himmlische<br />
Reise in dieser Welt gibt, dann ist hier ihr Beginn.<br />
Denn war es nicht auch hier, wo Christus in den Himmel<br />
fuhr und Mohammed, begleitet vom Engel Gabriel, seinen<br />
Mi' râj, seine Himmelfahrt, auf seinem Pegasus-gleichem<br />
Reittier Bouraq machte?<br />
Man fragt sich, wie all das zusammengehalten wird, denn<br />
zugleich befinden wir uns hier in der modernen Zeit, in<br />
der Jerusalem ebenso eine wahre Hauptstadt ist mit sauberen<br />
Straßen, gepflasterten Bürgersteigen, befestigten<br />
Häusern, schnellen Autos, gut ausgestatteten Hotels und<br />
verlockenden Restaurants, Bäumen und so vielen Touristen<br />
aus aller Herren Länder – bis auf die arabischen Länder<br />
als die einzigen in der Welt, die nicht zu ihrer Wiege,<br />
zu diesem magischen Ort kommen oder kommen können,<br />
wo ihre Religionen entstanden sind, die christliche genauso<br />
wie die muslimische.<br />
Es sind nicht zuletzt die arabischen und jüdischen Israelis,<br />
die von den Touristen profitieren. Sie sehen sie jeden<br />
Tag, das ganze Jahr hindurch, am Morgen und am Abend,<br />
ohne dieser Passionsspiele jemals überdrüssig zu werden.<br />
Die Touristen in diesen Labyrinthen sind zu zahlreich, um<br />
sie zu zählen, zahlreicher als die Einheimischen, und die<br />
Mehrzahl verhält sich, als wären sie von weit her angereiste<br />
Pilger. Sie gehen gedrängt in dichten Gruppen, die<br />
sich, ohne sich zu mischen, kreuzen, die Engländer, die<br />
Hindus, die Japaner, die Chinesen, die Franzosen, die<br />
Holländer, die Äthiopier, die Brasilianer usw., geleitet von<br />
unermüdlichen und unter Eid stehenden Führern, die Tag<br />
um Tag und in allen Sprachen der Welt den sprachlosen<br />
Massen von den Legenden der Jahrhunderte erzählen.<br />
Wenn man hier die Ohren spitzt, begreift man wirklich,<br />
was eine himmlische und irdische Stadt zugleich sein<br />
kann, und warum ein jeder sie besitzen und für sie sterben<br />
will. Wenn man Ewigkeit will, muss man sterben, um<br />
sie zu erlangen, wie dumm und wie verständlich zugleich.<br />
Ich fühlte mich selbst ganz anders, zerquetscht vom Gewicht<br />
meiner eigenen Fragen, ich als einziger der Gruppe,<br />
der mit seinen Händen die drei heiligen Orte der Ewigen<br />
Stadt berühren durfte: die Klagemauer, das Heilige Grab<br />
und die Kuppel <strong>des</strong> Felsendoms. Als Juden oder Christen<br />
hatten meine Gefährten, die anderen Schriftsteller <strong>des</strong><br />
Festivals, keinen Zugang zum Tempelberg, dem drittheiligsten<br />
Ort <strong>des</strong> Islam, an <strong>des</strong>sen Gipfel der Felsendom<br />
steht, Qûbat as-Sakhrah, der in seinen himmelblauen<br />
Farben funkelt, mit der eindrucksvollen Al-Aqsa-Moschee<br />
Haram al-Sharif. Sie wurden ohne Zögern durch den Angestellten<br />
der Waqf, der Verwalterin dieses Ortes, zurückgedrängt.<br />
Zwei israelische Polizeibeamte unterstützten<br />
ihn dabei, sie waren angehalten, den Zugang zum<br />
Tempelberg zu sichern und es vor jedem Kontakt zu be-
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
wahren, der nicht halal ist. Ich konnte dank meines Passes<br />
hineingelangen, denn er bezeugt meine algerische<br />
Herkunft und lässt die Schlussfolgerung zu, dass auch ich<br />
muslimischen Glaubens sei. Ich habe es nicht geleugnet,<br />
im Gegenteil, ich rezitierte einen Koranvers aus meinen<br />
Kindheitserinnerungen, was den Wärter merklich verblüffte,<br />
es war das erste Mal in seinem Leben, dass er<br />
einen Algerier sah, er glaubte, dass außer Emir Abdelkader<br />
sie alle ein wenig sephardisch, etwas atheistisch, ein<br />
wenig anders wären. Es war amüsant, wie mein kleiner<br />
grüner Pass mir hier die Grenze zum heiligen Ort öffnete,<br />
während im Schengen-Raum der schlichte Anblick dieses<br />
grünen Passes eher zu Magengeschwüren bei den Zöllnern<br />
führt.<br />
Ich sage es euch ganz offen, ich bin von dieser Reise<br />
glücklich und erfüllt zurückgekommen. Immer hatte ich<br />
die Überzeugung, dass es nicht das Schwierige ist, etwas<br />
zu unternehmen, sondern dass man sich so weit bringt,<br />
den ersten Schritt dafür zu tun. Man ist bereit für die<br />
Revolution, tief in einem weiß man, dass man sich bewegen,<br />
sich selbst verändern muss, um die Welt zu ändern.<br />
Den ersten Schritt zu tun ist dabei sehr viel wichtiger als<br />
der letzte, der uns ans Ziel bringt. Ich begriff zudem, dass<br />
der Frieden hier vor allem eine Angelegenheit der Menschen<br />
ist, die zu ernst ist, um sie in den Händen der Regierungen<br />
und noch weniger in denen der Parteien zu<br />
lassen. Denn die sprechen über Territorien, über Sicherheit,<br />
über Geld, über Bedingungen, über Garantien, sie<br />
unterzeichnen Papiere, machen Zeremonien, hissen Fahnen,<br />
bereiten Plan B vor, die Menschen hingegen machen<br />
nichts von all dem, sie machen, was Menschen machen,<br />
sie gehen ins Café, ins Restaurant, sie sitzen um ein Feuer,<br />
versammeln sich im Stadion, finden sich auf einem<br />
Festival wieder, an einem Strand und teilen die schönen<br />
Momente, sie teilen ihre Emotionen und am Ende geben<br />
Besonders erwähnen möchte ich mein Treffen mit David<br />
Grossman, dieses Denkmal der israelischen Literatur, ja<br />
der Weltliteratur. Ich habe es wunderbar gefunden, dass<br />
zwei Schriftsteller wie wir, zwei Menschen, die mit demselben<br />
Preis, dem <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels,<br />
nacheinander, er im Jahr 2010 und ich 2011, geehrt wurden,<br />
sich im Jahr <strong>2012</strong> treffen, um über den Frieden in<br />
dieser Stadt, Jerusalem, Al-Qods, zu sprechen, wo Juden<br />
und Araber miteinander leben, wo die drei Schriftreligionen<br />
sich die Herzen der Menschen teilen. Könnte unser<br />
Kein Preis für Boualem Sansal<br />
15<br />
sie sich das Versprechen, sich wiederzusehen: "Bis Morgen",<br />
"Bis bald", "Bis nächstes Jahr in Jerusalem". Das ist<br />
es, was wir in Jerusalem getan haben. Männer und Frauen<br />
aus verschiedensten Ländern, alles Schriftsteller, sind bei<br />
einem Literaturfestival zusammengekommen, um über<br />
ihre Bücher, über ihre Gefühle angesichts <strong>des</strong> Weltschmerzes,<br />
über dieses und jenes zu sprechen und insbesondere<br />
über das, was den Menschen die Möglichkeit<br />
geben könnte, eines Tages Frieden zu machen, und zum<br />
Schluss haben wir uns versprochen, uns wiederzusehen,<br />
uns wenigstens zu schreiben.<br />
Ich erinnere mich nicht, dass wir während dieser fünf<br />
Tage und fünf Nächte, die wir in Jerusalem verbracht<br />
haben (mit einer schnellen Hin- und Rückfahrt nach Tel-<br />
Aviv am dritten Tag, um einen schönen Abend mit unseren<br />
Freunden vom Institut Francais zu verbringen) auch<br />
nur ein einziges Mal über den Krieg gesprochen hätten.<br />
Hatten wir ihn einfach vergessen, oder haben wir es nur<br />
vermieden über ihn zu sprechen, oder haben wir einfach<br />
so getan, als ob dieses Zeitalter beendet wäre, und dass<br />
die Stunde gekommen sei, um über Frieden und die Zukunft<br />
zu sprechen? Zweifellos kann man nicht sowohl<br />
über den Krieg als auch über den Frieden zugleich sprechen,<br />
das eine schließt das andere aus. Ich habe jedoch<br />
sehr bedauert, dass kein Palästinenser unter uns gewesen<br />
ist. Denn trotz allem ist der Frieden zwischen Israeliten<br />
und Palästinensern möglich. Ich bin nicht im Krieg, weder<br />
mit dem einen noch mit dem anderen, und ich bin es<br />
<strong>des</strong>wegen nicht, weil ich sie beide liebe, wie Brüder seit<br />
Anbeginn der Welt. Ich wäre entzückt, wenn man mich<br />
eines Tages nach Ramallah einladen würde, zusammen<br />
mit israelischen Autoren, denn das wäre ein schöner Ort,<br />
um über den Frieden und über diesen berühmten ersten<br />
Schritt zu sprechen, der es erst ermöglicht, das Ziel, den<br />
Frieden zu erreichen.<br />
Treffen der Beginn eines weiteren Treffens mit anderen<br />
Schriftstellern werden, um für den Frieden einzustehen?<br />
Könnte dieses Wunder im Jahr 2013 Wirklichkeit werden?<br />
Oft spielt uns der Zufall einen Streich, um uns auf<br />
etwas zu bringen, was eigentlich gar nicht zufällig ist.<br />
Irgendwo auf dem Rückweg zwischen Jerusalem und<br />
Algier.<br />
Der Artikel erschien auf Französisch am 24. Mai <strong>2012</strong> in<br />
der Internetzeitung „The Huffington Post“. Die deutsche<br />
Übersetzung von Martin Schult und Kristina Kramer<br />
wurde in „Die Welt“ vom 16. Juni <strong>2012</strong> veröffentlicht.<br />
Laut Veranstalter lasse die gegenwärtige Situation in den arabischen Ländern eine Auszeichnung<br />
<strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>trägers von 2011 mit dem „Prix du roman arabe“ nicht zu. Ein Jury-Mitglied tritt<br />
daraufhin zurück. (12. Juni <strong>2012</strong>)<br />
Es war eine bescheidene Email, die Boualem Sansal von<br />
der jordanischen Botschaft in Paris erhalten hat, in der er<br />
über die Absage oder Verschiebung – so genau wird es<br />
nicht ersichtlich – der Verleihung <strong>des</strong> „Prix du roman<br />
arabe“ informiert wird: „Angesichts der aktuellen Ereignisse<br />
in der Arabischen Welt hat der Rat der arabischen<br />
Botschafter in Frankreich es für notwendig erachtet, einen<br />
anderen Termin für die Zeremonie <strong>des</strong> ‚Prix du roman
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels Frühling <strong>2012</strong><br />
arabe‘, die für den 6. Juni im Institut du Monde Arabe<br />
vorgesehen war, zu finden. Wir werden Sie, so schnell es<br />
geht, über den neuen Termin in Kenntnis setzen.“<br />
Mit dem Preis, der 2008 vom Rat der arabischen Botschafter<br />
in Frankreich ins Leben gerufen wurde und mit<br />
15.000 € dotiert ist, wird jährlich ein Roman ausgezeichnet,<br />
der aus der Feder eines Schriftstellers arabischen<br />
Ursprungs stammt und auf Französisch geschrieben bzw.<br />
ins Französische übersetzt wurde. Elias Khoury, Gamal<br />
Ghitany, Rachid Boudjedra und Hanan el-Cheikh waren<br />
die ersten Preisträger. In diesem Jahr hat sich die Jury, zu<br />
der unter anderem auch Tahar Ben Jelloun gehört, für den<br />
Roman „Rue Darwin“ von Boualem Sansal entschieden.<br />
Ein Jurymitglied, der Direktor <strong>des</strong> Senders „France Culture“<br />
Olivier Poivre d'Arvor, hat nach Erhalt der Nach-<br />
Boualem Boualem Sansal<br />
Sansal<br />
16<br />
richt, dass die Preisverleihung ausgesetzt sei und man die<br />
Jury bittet, am 12. Juni mit der jordanischen Botschafterin<br />
und dem Botschafter der Arabischen Liga in Paris zusammen<br />
zu kommen, seinen Rücktritt erklärt. Poivre<br />
d'Arvor vermutet hinter der Absetzung der Preisverleihung<br />
politische Gründe, die mit dem Besuch Sansals <strong>des</strong><br />
Literaturfestivals in Jerusalem im Mai <strong>2012</strong> zu tun haben.<br />
Damals hatte die Hamas die Arabische Welt aufgerufen,<br />
Boualem Sansal zu boykottieren. Zudem sieht er in der<br />
Einladung die Absicht, einen neuen, genehmeren Preisträger<br />
zu bestimmen und ruft in seinem Artikel („Libération“<br />
vom 11. Juni <strong>2012</strong>) seine Jurykollegen auf, seinem<br />
Beispiel zu folgen, um sich von dieser Entscheidung <strong>des</strong><br />
Rats zu distanzieren und so das Oeuvre von Boualem<br />
Sansal zu honorieren, „einem algerischen Schriftsteller<br />
und freien Menschen, der offen für den Dialog ist“.<br />
„Prix du roman arabe“ nun doch an Boualem Sansal verliehen<br />
Jury distanzierte sich von den Stiftern <strong>des</strong> Preises und verlieh selbst mit Unterstützung von Radio<br />
France die Auszeichnung an den <strong>Friedenspreis</strong>träger von 2011. (28. Juni <strong>2012</strong>)<br />
Nachdem, wie berichtet, die 22 arabischen Botschafter in<br />
Frankreich als Stifter <strong>des</strong> Preises „Prix du roman arabe“<br />
die Verleihung an Boualem Sansal für seinen neuen Roman<br />
„Rue Darwin“ aufgrund der „momentanen Situation<br />
in der Arabischen Welt“ auf unbestimmte Zeit verschoben<br />
hatten und daraufhin Olivier Poivre d’Arvor öffentlich<br />
seinen Rücktritt aus der Jury verkündete, ist der Preis<br />
nun doch an den algerischen Schriftsteller verliehen worden.<br />
Die Juryvorsitzende Hélène Carrère d’Encausse und die<br />
anderen Jurymitglieder (Hélé Béji, Tahar Ben Jelloun,<br />
Pierre Brunel, Paule Constant, Paula Jacques, Christine<br />
Jordis, Vénus Khoury-Ghata, Alexandre Najjar, Danièle<br />
Sallenave, Elias Sanbar, Josyane Savigneau et Robert Solé)<br />
erklärten sich mit der Kritik ihres Jury-Kollegen solidarisch<br />
und trafen sich am 21. Juni <strong>2012</strong> im Haus <strong>des</strong> Verlags<br />
Gallimard, um mit Unterstützung von Radio France<br />
den Preis an Sansal zu übergeben.<br />
Der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun erklärte<br />
bei dieser Gelegenheit, dass die Jury sich bemühen<br />
werde, einen „neuen Sponsor“ für den Preis zu finden.<br />
Dafür werde man sich im September wieder treffen und<br />
fügte hinzu, dass es wohl „unvermeidlich war, dass es<br />
irgendwann zu einem Konflikt mit den arabischen Botschaftern<br />
kommen“ würde.<br />
Schwarz auf weiß: Boualem Sansals Dankesrede<br />
Der <strong>Friedenspreis</strong> verändert auch den Preisträger, sagt Boualem Sansal. Warum? Das lässt sich<br />
nun in Buchform nachlesen: Alle Reden zur <strong>Friedenspreis</strong>verleihung 2011 sind in einem schön<br />
gestalteten Band erschienen, der auch über den Buchhandel vertrieben wird.<br />
Das Buch »<strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels 2011 - Boualem Sansal« (112 Seiten,<br />
14,90 Euro) bündelt die Ansprachen von <strong>Friedenspreis</strong>träger Boualem Sansal und seinem Laudator<br />
Peter von Matt, von Börsenvereinsvorsteher Gottfried Honnefelder und von Frankfurts<br />
Oberbürgermeisterin Petra Roth. Die Reden werden auch auf Englisch und zum Teil auf Französisch<br />
dokumentiert. Das neue Layout hat die Grafikerin Iris Farnschläder entwickelt, außen<br />
präsentiert sich das Büchlein mit flexiblem Kösel-Einband.<br />
Das <strong>Friedenspreis</strong>buch (ISBN 978-3-7657-3191-4) kann über die Serviceline der MVB bestellt<br />
werden (Telefon: 069 /1306-550, Fax: 069 / 1306-255, E-Mail: serviceline@mvb-online.de).
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
Donnerstag, 28. Juni <strong>2012</strong><br />
100. Geburtstag von CARL FRIEDRICH VON<br />
WEIZSÄCKER (†2007), <strong>Friedenspreis</strong>träger von 1963<br />
Donnerstag, 28. Juni <strong>2012</strong><br />
ANSELM KIEFER, <strong>Friedenspreis</strong>träger von 2008<br />
Eröffnung Ausstellung "Joseph Beuys und Anselm Kiefer.<br />
Zeichnungen - Gouachen - Bücher" vom 29.6.-30.9.<strong>2012</strong><br />
19.00 Uhr im Museum Küppersmühle für Moderne Kunst,<br />
Philosophenweg 55, 47051 Duisburg<br />
Montag, 23. Juli <strong>2012</strong><br />
"Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben 1931 ff."<br />
Vortrag von Hans Maier, Laudator von WLADYSLAW<br />
BARTOSZEWSKI, <strong>Friedenspreis</strong>träger 1986<br />
19.30 Uhr Wolf-Ferrari-Haus, Rathausplatz 2, Ottobrunn<br />
9. August <strong>2012</strong><br />
50. To<strong>des</strong>tag von HERMANN HESSE (*1884),<br />
<strong>Friedenspreis</strong>träger von 1955<br />
Orhan Pamuk ist nicht der erste, dem<br />
das passiert ist: die Wahl zum Nobelpreisträger<br />
ein Jahr nach der Verleihung<br />
<strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>es. Albert<br />
Schweitzer und Nelly Sachs ist es so<br />
ergangen, und andere wie Mario Vargas<br />
Llosa haben ebenfalls nach dem<br />
<strong>Friedenspreis</strong> den Nobelpreis erhalten.<br />
Doch natürlich sind es die Menschen<br />
selbst, die sich mit dem, was sie<br />
tun, adeln.<br />
Termine Termine und und Gedenktage<br />
Gedenktage<br />
Meldungen<br />
Meldungen<br />
17<br />
23. - 26. August <strong>2012</strong><br />
"11. Poetische Quellen" - Literaturfest Bad Oeynhausen<br />
mit BOUALEM SANSAL, <strong>Friedenspreis</strong>träger von 2011<br />
Donnerstag, 20. September <strong>2012</strong><br />
Lesung und Entretien mit BOUALEM SANSAL, <strong>Friedenspreis</strong>träger<br />
von 2011, Moderation: Alfonso de Toro<br />
20.00 Uhr im Haus <strong>des</strong> Buches,. Gerichtsweg 28, 04103<br />
Leipzig<br />
Mittwoch, 10. Oktober <strong>2012</strong><br />
"Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben 1931 ff."<br />
Vortrag von Hans Maier<br />
20.00 Uhr in der Stadtbücherei Grafing, Grenzstraße 5<br />
Donnerstag, 11. Oktober <strong>2012</strong><br />
80. Geburtstag von SAUL FRIEDLÄNDER,<br />
<strong>Friedenspreis</strong>träger von 2007<br />
Sonntag, 14. Oktober <strong>2012</strong><br />
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS <strong>2012</strong><br />
11.00 Uhr in der Frankfurter Paulskirche<br />
Live-Übertragung im Ersten der ARD<br />
Die Dinge <strong>des</strong> Lebens - Orhan Pamuks Museum<br />
Vom Roman zum Museum: zum 60. Geburtstag <strong>des</strong> türkischen<br />
Schriftstellers Orhan Pamuk, <strong>Friedenspreis</strong>träger von 2005.<br />
Orhan Pamuk hat sich im April mit<br />
der Eröffnung seines „Museums der<br />
Unschuld“ einen Lebenstraum erfüllt.<br />
Es ist nach seinem 2008 erschienenen<br />
Roman benannt, in dem ein hoffnungslos<br />
verliebter Mann je<strong>des</strong> Mal<br />
kleine, wertlose Dinge entwendet,<br />
wenn er die angebetete Frau besucht.<br />
Nach ihrem Tod baut er mit ihnen ein<br />
persönliches Museum auf, das Museum<br />
der Unschuld. Auch in dem realen Orhan Pamuk. © Isolde Ohlbaum<br />
Museum in Istanbul finden sich all die<br />
Dinge wieder, die im Roman erwähnt<br />
wurden, selbst die 4213 Stummel der<br />
Zigaretten, die die Frau geraucht hat,<br />
sowie das Kleid, das sie trug, als sie<br />
zum ersten Mal am Steuer <strong>des</strong> Autos<br />
gesessen hat, in dem sie später sterben<br />
sollte.<br />
Ein Roman „eröffnet uns die Möglichkeit,<br />
sowohl unser Leben als das eines<br />
Anderen zu erzählen, als auch das<br />
Leben von anderen Menschen als das<br />
unsere zu schildern“, sagte Pamuk in<br />
seiner <strong>Friedenspreis</strong>rede. Diese Ansicht<br />
hat er auch bei der Errichtung<br />
seines Museums berücksichtigt und<br />
sich so selbst ein Denkmal gesetzt,<br />
das einen Besuch allemal wert ist. Am<br />
7. Juni feiert Orhan Pamuk seinen 60.<br />
Geburtstag. Doðum günün kutlu<br />
olsun, Orhan bey!
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
Meldungen<br />
Meldungen<br />
Die gefährliche Geschichtsvergessenheit Europas<br />
Boualem Sansal zu Gast in Brüssel: Der algerische Schriftsteller diskutierte mit EU-<br />
Parlamentspräsident Martin Schulz über den arabischen Frühling. Eindrücke.<br />
In der Europäischen Hauptstadt ein Gespräch über "Europa<br />
und den arabischen Frühling" zu führen – wer könnte<br />
das wohl besser als der algerische Schriftsteller Boualem<br />
Sansal, 2011 mit dem <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> deutschen Buchhandels<br />
ausgezeichnet. Schließlich hatte er bei der <strong>Friedenspreis</strong>verleihung<br />
im vergangenen Oktober eine Verbindung<br />
hergestellt zwischen dem Arabischen Frühling<br />
und der Wende in Europa nach dem Fall der Mauer: "Alle<br />
Mauern werden fallen", kündigte er damals in der Paulskirche<br />
an.<br />
Sein Dialogpartner im Brüsseler "Bozar", dem Palais der<br />
schönen Künste, war am Dienstag Martin Schulz, der<br />
deutsche Präsident <strong>des</strong> Europäischen Parlaments, ehemaliger<br />
Buchhändler und dem <strong>Friedenspreis</strong> damit persönlich<br />
verbunden. Mit Veranstaltungen wie diesen will der<br />
Börsenverein der Auszeichnung international Wirkung<br />
verschaffen. Das machte Hauptgeschäftsführer Alexander<br />
Skipis bei der Begrüßung deutlich. Kooperationspartner<br />
waren, neben dem "Bozar", der Deutschlandfunk und das<br />
Goethe-Institut. Die Diskussion stand unter der kundigen<br />
Leitung von Stephan Detjen (Deutschlandfunk).<br />
Für Martin Schulz gibt es in Europa Länder, die in einer<br />
ähnlichen Lage sind wie heute Sansals Heimat Algerien.<br />
Europa laufe Gefahr, in der eigenen Geschichte gefangen<br />
zu sein. Gefährlich sei auch die zu beobachtende "Geschichtsvergessenheit"<br />
gegenüber dem "Faszinosum der<br />
europäischen Integration". Der Frieden sei nicht mehr ein<br />
"Wert an sich". Die größte historische Leistung <strong>des</strong> vergangenen<br />
Jahrhunderts, die Überwindung von Rassismus,<br />
Intoleranz, Mordlust und Destruktivität. werde täglich<br />
herabgewürdigt. "Unter dem Druck ökonomischer und<br />
politischer Fehlentwicklungen treten wir Europa mit<br />
Füßen".<br />
Sansal selbst ist seit der Verleihung <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>es<br />
im Herbst 2011 viel auf Reisen. Er lerne, was es heißt,<br />
<strong>Friedenspreis</strong>träger zu sein, sagt er selbst. Eine Reise<br />
nach Israel hat ihm Kritik, Ärger und auch Drohungen<br />
eingebracht. Aber: "Wie will man beispielsweise den<br />
Siedlungsbau in den besetzten Gebieten stoppen, wenn<br />
man nicht mit Israelis spricht?", fragt er sich.<br />
Sein erstes Manuskript landete vor Jahren auf dem<br />
Schreibtisch von Jean-Marie La Claventine (Verlag Gallimard).<br />
Er hat den Autor "entdeckt". Die Lektüre <strong>des</strong><br />
Manuskripts beschrieb er auf dem Brüsseler Podium als<br />
"Moment <strong>des</strong> Enthusiasmus".<br />
Von Sansal erscheint demnächst ein weiteres Werk auf<br />
Deutsch. "4001 Jahre der Nostalgie - Auch eine Philoso-<br />
Von Jan Kurlemann<br />
18<br />
phie der Geschichte <strong>des</strong> Maghreb" (Berlin University<br />
Press). Nachdem er in Brüssel Auszüge daraus gelesen<br />
hatte, betonte Sansal, dass in Algerien und anderen Ländern<br />
Nordafrikas der Zugang zur eigenen Geschichte<br />
versperrt sei, weil die Archive in anderen Ländern lagern<br />
würden.<br />
Eine eigene Identität gebe es in Algerien noch nicht. Und<br />
es seien wohl Jahrzehnte notwendig, bis sich eine algerischen<br />
Identität aus arabischen, berberischen und westlichen<br />
Werten und Einflüssen herausbilden könne, meint<br />
Sansal. Die Gegenposition heiße <strong>des</strong>halb für viele: "Wir<br />
sind alle Araber, alle Moslems". Begonnen habe sie mit<br />
der Forderung nach einem "reinen" Islam, danach, ein<br />
"guter Moslem zu sein". Das Ergebnis sei Kontrolle in der<br />
Öffentlichkeit und bis in die Familien hinein, unter Anwendung<br />
von Gewalt.<br />
Der "To<strong>des</strong>magie" <strong>des</strong> Islamismus stehe die Gesellschaft<br />
ohnmächtig gegenüber, so Sansal, der "Instrumente der<br />
Wachsamkeit" vermisst. Der Arabische Frühling habe<br />
begonnen mit Jugendlichen in Tunesien, die für Beschäftigung<br />
und gegen Korruption demonstrierten. Jetzt gebe<br />
es Demonstrationen mit anderer Zielrichtung, etwa gegen<br />
die Rechte der Frauen und für Zensur.<br />
Als Präsident der Parlamentarischen Institution der Mittelmeer-Union<br />
war Martin Schulz den Entwicklungen sehr<br />
nah. Er war selbst auf dem Tahir-Platz in Kairo und spürte<br />
die Dynamik der Macht von Zigtausend Menschen. Beim<br />
"Arabischen Frühling" handelt es sich für ihn um einen<br />
Aufbruch zu einem Ziel, das noch nicht bestimmt ist.<br />
"Wir Europäer brauchen diejenigen als Partner, die als<br />
Moslems Demokratie wollen", so der Parlamentspräsident.<br />
Tragisch findet er, dass sich europäische Außenminister<br />
die Klinke in die Hand gaben und vor Ort die Revolution<br />
begrüßten, während gleichzeitig finanzielle Hilfen<br />
gekürzt würden.<br />
Schulz erinnerte an Deutschland und den Wendepunkt<br />
1945. Waren die <strong>Deutschen</strong> Demokraten nach dem "Dritten<br />
Reich" und der kurzlebigen Weimarer Republik? Konrad<br />
Adenauer habe mit Hilfe der USA (Marshall-Plan) und<br />
der Europäer Demokratie und wirtschaftlichen Aufschwung<br />
verbunden. Dasselbe brauche nun Nordafrika.<br />
Herzlichen Dank an Jan Kurlemann für die Erlaubnis,<br />
seinen Text hier veröffentlichen zu dürfen.
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels Frühling <strong>2012</strong><br />
Meldungen<br />
Meldungen<br />
„Warum habe ich eigentlich nicht den <strong>Friedenspreis</strong> bekommen?"<br />
Erinnerungen an die am 12. Juni verstorbene Margarete Mitscherlich und die Verleihung <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>es<br />
<strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels 1969<br />
Es war im Mai 2009, als ich vor einem Haus aus den<br />
1960er Jahren im Frankfurter Westend stand und klingelte.<br />
Auf die blechern klingenden Frage „Wer ist da bitte?“<br />
aus der Gegensprechanlage brüllte ich mehrmals meinen<br />
Namen. „Sie müssen laut sprechen“, hatte Margarete<br />
Mitscherlich mir zuvor am Telefon gesagt, „ich bin so gut<br />
wie taub.“<br />
Margarete Mitscherlich in der ersten Reihe bei der <strong>Friedenspreis</strong>verleihung<br />
1969 an ihren Ehemann. © Lutz Kleinhans<br />
Oben in der großzügig eingerichteten Wohnung erwartete<br />
mich eine agile alte Dame, die mich in der ersten Stunde<br />
unseres Gesprächs – „Ich hoffe, Sie mögen dieses Instant-<br />
Pulver?“ – Kaffee kochen ließ, mich zwang, die extra<br />
eingekauften Kekse aufzuessen, und mir keine Möglichkeit<br />
gab, selbst das Wort zu ergreifen. Dabei wollte ich ihr<br />
an diesem Tag nur erklären, was wir von ihr wollten:<br />
einen Artikel für unser Buch „Widerreden“ zum<br />
60jährigen Jubiläum <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>es, den ihr Mann<br />
Alexander Mitscherlich 1969 erhalten hat.<br />
Als ich ihr dann endlich mein Anliegen vorbringen konnte,<br />
lachte sie und hob die Hände. „Schauen Sie sich das<br />
an, Herr Martin Schult. So wie die zittern, kann ich nicht<br />
mehr schreiben, nein, nein.“ In der folgenden zweiten<br />
Stunde erlebte ich sie in ihrem Element. Sie zog mir mit<br />
ihren Fragen förmlich die Schuhe aus, drehte mein Anliegen<br />
mehrmals um, zeigte mir die Schwächen meiner<br />
Argumentation auf und kokett, wie sie war, gab sie mir<br />
deutlich zu verstehen, dass sie gerne an dem Projekt<br />
Von Martin Schult.<br />
19<br />
mitarbeiten wolle, es müsse nur jemand kommen und<br />
alles mitschreiben.<br />
„Aber das eines klar ist, ohne mich hätte Alexander Mitscherlich<br />
nie den <strong>Friedenspreis</strong> bekommen.“ Während ich<br />
mich noch wunderte, warum sie ihren Mann auf diese<br />
Weise benannte, und nicht „mein Ehemann“ oder einfach<br />
nur „Alexander“ oder gar „Alex“, legte sie mir in der<br />
dritten Stunde die Schwächen in der Arbeit ihres Mannes<br />
dar. Sie erzählte von seiner anfänglichen Weigerung, das<br />
Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ zu schreiben. Sie beschrieb<br />
mir ausführlich die Streitgespräche mit ihrem<br />
Mann, aber auch von ihrem Fast-Boykott der <strong>Friedenspreis</strong>verleihung.<br />
„Ich sollte in der zweiten Reihe hinter<br />
Alexander Mitscherlich sitzen.“<br />
Der Börsenverein, der damals nach den Vorfällen bei der<br />
<strong>Friedenspreis</strong>verleihung an Léopold Sédar Senghor (1968)<br />
sehr in der Kritik gestanden hat, reagierte sehr erleichtert,<br />
dass Alexander Mitscherlich, ein Freund der Studentenbewegung,<br />
den Preis im Jahr 1969 annehmen wollte.<br />
Doch kurz darauf stellte er diese Zusage wieder öffentlich<br />
in Frage. Er wolle ihn nur dann annehmen, wenn der<br />
Börsenverein Entscheiden<strong>des</strong> an der Auswahl der Preisträger<br />
und der Verleihungszeremonie in der Paulskirche<br />
verändere. Der Börsenverein ging damals darauf ein, was<br />
dem <strong>Friedenspreis</strong> und seiner Bedeutung sehr gut getan<br />
hat, und beugte sich letztlich auch dem Wunsch von Frau<br />
Mitscherlich, in der ersten Reihe sitzen zu dürfen. „Aber<br />
sie setzten mich nicht neben Alexander Mitscherlich, der<br />
Vorsteher <strong>des</strong> Börsenvereins saß zwischen uns.“<br />
Ich kochte noch einmal Kaffee und wollte ihr gerade vorschlagen,<br />
dass Niels Beintker, ein Journalist <strong>des</strong> Bayerischen<br />
Rundfunks, das Gespräch aufzeichnen und einen<br />
Text daraus erstellen könnte, als sie mich wieder unterbrach.<br />
„Wissen Sie, warum ich eigentlich den <strong>Friedenspreis</strong><br />
nicht bekommen habe? Viele haben sich damals<br />
diese Frage gestellt.“ Ein einziges Mal an diesem Nachmittag<br />
bin ich schlagfertig gewesen, was mich heute noch<br />
freut. „Nein, das weiß ich nicht, aber ich weiß, dass diese<br />
Frage sicherlich dazu geführt hat, im folgenden Jahr ein<br />
Ehepaar auszuzeichnen: Alva und Gunnar Myrdal."<br />
Die Frau, die sich darüber sehr gefreut hat, ist gestern,<br />
am 12. Juni <strong>2012</strong>, kurz vor ihrem 95. Geburtstag, verstorben.<br />
2010 hatte ich es geschafft, sie zur Teilnahme an der<br />
<strong>Friedenspreis</strong>verleihung an David Grossman zu überreden,<br />
doch eine Krankheit verhinderte ihr Kommen. Der<br />
Text „Der Frieden beginnt in der Familie“, den Niels<br />
Beintker aus dem Gespräch für das Jubiläumsbuch „Widerreden“<br />
zusammengestellt hat, ist ihr kleines Vermächtnis<br />
an uns, an den <strong>Friedenspreis</strong>.
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
„Widerreden „Widerreden – Der Der Frie <strong>Friedenspreis</strong> Frie<br />
denspreis <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels“<br />
„Der Frieden beginnt in der Familie“<br />
Margarete Mitscherlich über den Frieden, den <strong>Friedenspreis</strong><br />
<strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels und die Fähigkeit, zu trauern.<br />
I. Der <strong>Friedenspreis</strong> und die Fähigkeit zu trauern<br />
Der <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels, der nun<br />
zum 60. Mal vergeben wird, hat viel dazu beigetragen,<br />
über das Wort nachzudenken, das er in seinem Namen<br />
trägt: Frieden. Das sollte auch in Zukunft so bleiben. Für<br />
viele der bisherigen Preisträger – für meinen Mann Alexander<br />
Mitscherlich genauso wie etwa für Fritz Stern oder<br />
für Saul Friedländer – war dieses Nachdenken verbunden<br />
mit der Erinnerung und Aufforderung, das Leid der Vergangenheit<br />
in Deutschland weder zu vergessen noch zu<br />
begraben. Aus dem Gefühl der Trauer über die Verbrechen<br />
<strong>des</strong> Dritten Reiches erwächst die Verantwortung für<br />
den Frieden.<br />
Alexander Mitscherlich bei der <strong>Friedenspreis</strong>-<br />
verleihung 1969. © Lutz Kleinhans<br />
Wer nicht trauern kann, begibt sich in die Gefahr, die<br />
historische Schuld zu verdrängen. Aufgrund dieser Erfahrung<br />
haben Alexander Mitscherlich und ich begonnen,<br />
über die Unfähigkeit zu trauern nachzudenken. Die Ursprünge<br />
für unser daraus entstandenes Buch liegen dabei<br />
in der Auseinandersetzung mit dem Werk von Sigmund<br />
Freud sowie in vielen Gesprächen mit unseren jüdischen<br />
20<br />
Freunden und Kollegen. Wir haben immer wieder überlegt,<br />
warum Trauer Erinnerung bedeutet und warum sie,<br />
gerade in den 50er Jahren in Deutschland, so oft verdrängt<br />
wird. Und wir haben uns gefragt, warum man über<br />
verlorene Ideale anders trauert als über Menschen, die<br />
man verloren hat und denen man emotional zutiefst verbunden<br />
war.<br />
Auch über den Tod <strong>des</strong> noch vorher zum Ersatzgott erhobenen<br />
„Führers“ war Trauer nicht wahrzunehmen. Wie<br />
viele unserer Freunde standen wir der Tatsache,, dass in<br />
einem hoch zivilisierten und industrialisierten Land wie<br />
Deutschland ein so schreckliches und singuläres Verbrechen<br />
wie der Holocaust geplant und ausgeführt werden<br />
konnte, mehr oder weniger hilflos gegenüber. Daraus<br />
erwuchs eine tiefe Trauer: die Trauer um ein Land, das<br />
wir in hohem Maße idealisierten, die Trauer um eine<br />
Kultur, die in unserem Empfinden als besonders human<br />
gegolten hatte. Weder die Tradition dieses Lan<strong>des</strong> noch<br />
seine große Kultur haben es davor bewahrt, Frieden zu<br />
halten und die Würde <strong>des</strong> Menschen zu achten.<br />
Ich habe diese Enttäuschung und die mit ihr verbundene<br />
Trauer selbst erlebt: Ich wurde ein Jahr vor dem Ende <strong>des</strong><br />
Ersten Weltkriegs in Dänemark geboren, in einer binationalen<br />
Familie. Mein Vater war Däne, meine Mutter Deutsche.<br />
Meine Schulzeit habe ich bis zum 14. Lebensjahr in<br />
Dänemark verbracht, danach in Deutschland, um dort<br />
Abitur zu machen. ich war schon damals enttäuscht über<br />
die autoritäre Art <strong>des</strong> Unterrichts, auch über die Unfähigkeit<br />
mancher Lehrer, uns mit Humor und einer gewissen<br />
Leichtigkeit zu begegnen. Trotzdem war dieses Land der<br />
Dichter und Denker für mich ein großes Ideal. Ich bewunderte<br />
Deutschland und fühlte mich hier zu Hause, auch in<br />
der deutschen Sprache. Als ich später begann, die Beschränktheit,<br />
die Dummheit und die ideologische Engstirnigkeit<br />
der Nazizeit zu entdecken, wuchs meine Enttäuschung<br />
immer mehr. Mein Vater sagte mir, Hitler sei ein<br />
Verbrecher und wolle nur den Krieg. Im Übrigen sei er<br />
ein Nichts. Und nachdem Hitler den Krieg begonnen<br />
hatte, erkannten wir mehr und mehr die Unmenschlichkeit,<br />
die im Namen Deutschlands, <strong>des</strong> so geliebten Lan<strong>des</strong>,<br />
verübt wurde. Zuerst wurden die Schwachen, die<br />
Minderheiten, die sich nicht wehren konnten, verteufelt,<br />
dann wurden sie mit Füßen getreten und schließlich in<br />
Massen ermordet. Das war und ist das Widerlichste, was<br />
man sich als menschliches Tun vorstellen konnte. Wir<br />
haben uns entsprechend gewünscht, dass das nationalsozialistische<br />
Deutschland den Krieg verlieren sollte. Das<br />
war schmerzlich. Aber die Vorstellung, dass eine so falsche<br />
und menschenverachtende Ideologie für immer die<br />
Oberhand gewinnen würde, war für mich und meine<br />
Freunde unvorstellbar.
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
„Widerreden „Widerreden – Der Der <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels“<br />
Nach dem Krieg haben viele Menschen in Deutschland<br />
behauptet, sie hätten von den Verbrechen gegen die<br />
Menschlichkeit, die in ihrem Land und von ihren Landsleuten<br />
verübt wurden, nichts gewusst. Ich halte das für<br />
Unsinn. Spätestens seit dem <strong>Sommer</strong> 1941, nachdem der<br />
Krieg gegen Russland begonnen hatte und die Massenerschießungen<br />
in den besetzten Gebieten stattfanden, wurde<br />
uns immer wieder davon berichtet. Ständig kamen<br />
Soldaten von der Front nach Hause und haben von den<br />
Greueltaten erzählt. An der Universität in Heidelberg, an<br />
der ich damals studierte, haben viele Kommilitonen darüber<br />
gesprochen. Zwar durfte das alles nicht laut berichtet<br />
werden, dennoch wusste jeder von uns, welche Mordtaten<br />
in Russland, Polen, der Ukraine und im Baltikum<br />
verübt wurden. Auch von der Existenz der Konzentrationslager<br />
wussten die Menschen in Deutschland. Das<br />
ganze Ausmaß der Grausamkeiten, die dort geschehen<br />
sind, haben wir zwar erst nach dem Krieg erfahren, aber<br />
dass es die Lager gab, war uns allen bekannt.<br />
Nach dem Krieg, als mein Mann und ich uns kennenlernten,<br />
haben wir immer wieder über die Verdrängung und<br />
das Vergessen gesprochen. Da Alexander neun Jahre älter<br />
war als ich, hat er das Dritte Reich von Anfang bis Ende<br />
sehr bewusst und leidend erlebt. 1937 wurde er unter<br />
dem Vorwurf der Widerstandsarbeit von der Gestapo<br />
verhaftet und saß mehrere Monate im Gefängnis, mit der<br />
Aussicht, eventuell nicht mehr in die Freiheit zurückkehren<br />
zu können. Wir beide waren uns einig in der Trauer<br />
über die fast 60 Millionen Toten <strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs.<br />
Unsere Begeisterung für dieses Land war zerstört, die<br />
Freude, ein Deutscher zu sein, war uns nicht mehr möglich.<br />
Und weil wir spürten, dass in diesem Land, das ganz<br />
Europa verwüstet hatte und das nun selbst in Trümmern<br />
lag, die Ideologie der Nazi-Zeit einfach ad acta gelegt und<br />
verdrängt werden sollte, begannen wir, uns Gedanken<br />
über die Notwendigkeit der Trauer zu machen. Die Stimmung<br />
jener Zeit zielte bekanntlich vor allem auf den<br />
Wiederaufbau, auf die Schaffung einer neuen, unbeschwerten<br />
Realität. Durch den Marshall-Plan stieg das<br />
Lebensniveau in der Bun<strong>des</strong>republik rasch und erheblich<br />
an. Es ging den <strong>Deutschen</strong> damals wirtschaftlich sogar<br />
besser als den Briten. Von einem Gefühl der Trauer fand<br />
sich in<strong>des</strong> keine Spur. „Vergessen“ war das Motto der<br />
Stunde. Vor diesem Hintergrund ist 1967 unser Buch Die<br />
Unfähigkeit zu trauern entstanden. Und wenn eine Institution<br />
in Deutschland in all den Jahren auf die Notwendigkeit<br />
der Trauer über das Vergangene und für eine<br />
lebenswerte Zukunft hinwies, dann war das der <strong>Friedenspreis</strong>.<br />
Wie groß war die Stille in der Paulskirche, nachdem<br />
Saul Friedländer (2007) in seiner Dankesrede aus den<br />
Briefen seiner Familie vorgelesen hatte! Es waren die<br />
schrecklichen Ereignisse der deutschen Geschichte, die<br />
uns auch nach mehr als 60 Jahren die Tränen in die Augen<br />
treiben.<br />
II. <strong>Friedenspreis</strong> als ein „Trostpreis für Erfolglosigkeit“?<br />
Eine Wendung aus der <strong>Friedenspreis</strong>rede Alexander Mitscherlichs<br />
ist vielfach zitiert und kommentiert worden: Er<br />
21<br />
fragte damals, ob man, mit Blick auf den Erdball als ganzen<br />
und die vielen Kriege den <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong><br />
Buchhandels nicht eher als einen „Trostpreis für<br />
Erfolglosigkeit“ betrachten müsse; als einen Preis, mit<br />
dem nur Narren ausgezeichnet würden, die allem Augenschein<br />
zum Trotz an der Möglichkeit friedlicher Konfliktlösungen<br />
zwischen Menschen festhalten? Diese pessimistische,<br />
vielleicht ja auch realistische Einschätzung hat<br />
einen sehr persönlichen Hintergrund. Ich erinnere mich<br />
an einen Spaziergang im Jahr 1969, in dem Jahr also, in<br />
dem er den <strong>Friedenspreis</strong> bekam. Alexander Mitscherlich<br />
war damals 61 Jahre alt. Er spürte, dass sich etwas in<br />
seinem Inneren veränderte. Er hatte immer eine schnelle<br />
Auffassungsgabe, sagte mir ständig, er wolle Neues erfahren<br />
und lernen. Seine Fähigkeit, neues Wissen aufzunehmen,<br />
und seine Vitalität waren ungewöhnlich stark<br />
ausgeprägt. Damals aber hat er bemerkt, dass diese Fähigkeiten<br />
abnahmen. Er erkannte plötzlich: „Ich bleibe<br />
nicht für immer vital. Meine Kraft schwindet.“ Das hat ihn<br />
sehr verunsichert.<br />
Gespannt warten die Frankfurter Bürger vor der Paulskirche auf<br />
die Gäste der <strong>Friedenspreis</strong>verleihung 1969. © Wilhelm Knüttel<br />
Sicherlich ist in der <strong>Friedenspreis</strong>rede auch ein Hauch<br />
von Enttäuschung wegen der Entwicklung der Studentenbewegung<br />
enthalten. Sie verkündete im Grunde eine neue<br />
Ideologie. Die Studenten wollten, dass alle so denken<br />
sollten, wie sie dachten. Für mich, die ich jeden Zwang<br />
hasse, war das, ebenso wie für Alexander Mitscherlich,<br />
unerträglich. Er war von der Möglichkeit <strong>des</strong> Friedens<br />
überzeugt. Und er hoffte, dass die jungen Menschen in<br />
Deutschland sich endlich erinnern und verstehen wollten,<br />
warum ihre Eltern und Großeltern Hitler gewählt hatten<br />
und ihm so willig und begeistert gefolgt waren. Verstehen<br />
heißt nicht verzeihen, aber wer weiß schon, wann er oder<br />
sie immun ist gegen solche Verführungen.<br />
Wie viele von uns war Alexander Mitscherlich fasziniert<br />
von den Erkenntnismöglichkeiten, die die Psychoanalyse<br />
bot. Er wollte seine Erkenntnisse in Wort und Schrift<br />
veröffentlichen, in der Hoffnung, damit auch gesellschaftlich<br />
etwas zu bewirken. In dieser Situation hat ihn die<br />
Konfrontation mit der dogmatisch werdenden Studentenbewegung<br />
beschäftigt und gefordert. Wo Zwänge existieren,<br />
schwinden die Möglichkeiten der Verständigung.
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
„Widerreden „Widerreden – Der Der <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels“<br />
Man muss sich die Möglichkeit zum Widerspruch bewahren,<br />
um im Fall von Meinungsverschiedenheiten, bisweilen<br />
auch nach langen Diskussionen, zu einem gemeinsamen<br />
Verständnis zu kommen oder zumin<strong>des</strong>t zu einem<br />
„let us agree to disagree“. Das aber haben die Protagonisten<br />
der Studentenbewegung weitgehend abgelehnt, sie<br />
übten und forderten Gesinnungszwang. Ich glaube, diese<br />
Erfahrung hat, zusammen mit der persönlich gefühlten<br />
Veränderung, in meinem Mann ein resignatives Gefühl<br />
ausgelöst, das dann auch in der <strong>Friedenspreis</strong>rede seinen<br />
Ausdruck fand. In den Jahren vorher war er noch zuversichtlicher<br />
und optimistischer.<br />
Unter den Gästen in der Paulskirche befanden sich auch Jürgen<br />
Habermas und seine Frau Ute Habermas-Wesselhoef.<br />
© Lutz Kleinhans<br />
In seiner Dankesrede sprach Alexander Mitscherlich auch<br />
über die Dummheit der Menschen, die zu infantiler Abhängigkeit<br />
verleitet und sie <strong>des</strong>halb nicht davor zurückhält,<br />
auf Befehl auch ungerechte Gewalt gegen die Mitmenschen<br />
zu üben. Vielleicht hat er sich die Frage der<br />
Dummheit als Ursache der Verbrechen zu einfach beantwortet.<br />
Waren es nicht auch kluge, intelligente Leute, die<br />
auf die offensichtlichen Lügen und die paranoiden Behauptungen<br />
der Nationalsozialisten hereingefallen sind<br />
oder diese willfährig, sogar jubelnd angenommen haben?<br />
Menschen wie Martin Heidegger oder Carl Schmitt hätte<br />
der eigene Verstand doch schnell eines anderen belehren<br />
müssen? Sie haben sich aber begeistert in den Dienst<br />
einer menschenverachtenden Ideologie gestellt. Intelligenz<br />
ist sektoral, wer wissenschaftlich hoch intelligent<br />
ist, muss nicht zugleich auch sozial intelligent sein. Es<br />
gibt eine sehr tief sitzende Dummheit auch bei intelligenten<br />
Menschen, die oft mit einer Unfähigkeit zu kritischdistanzierter<br />
Selbstbetrachtung verbunden ist.<br />
Ebenso diskussionswürdig ist die These Alexander Mitscherlichs,<br />
dass der Krieg, entgegen der berühmten Formulierung<br />
von Clausewitz nicht die Fortführung der Politik<br />
mit anderen Mitteln sei, sondern vielmehr der genaue<br />
Gegensatz. Ich glaube, die Frage nach dem Wesen der<br />
Politik ist nicht so einfach zu beantworten, auch sie führt<br />
zu großen Kontroversen. Politik ist eine Sphäre, in der die<br />
Interessen vieler Menschen aufeinander treffen. Politik<br />
zielt auf die Ordnung eines ganzen Lan<strong>des</strong>, an der – im<br />
22<br />
Falle eines Erfolges – alle aus freiem Willen teilnehmen<br />
müssen. Und sie steht immer wieder vor neuen Herausforderungen.<br />
Ein Beispiel dafür ist der aktuelle Konflikt<br />
zwischen der islamischen und der vielfach christlich<br />
geprägten westlichen Welt. Er lässt sich nicht leicht entschärfen<br />
oder so auflösen, wie wir uns das wünschen.<br />
Eine Feministin etwa steht vor der Frage, was sie tun<br />
kann, um die Unterdrückung von Frauen in manchen<br />
islamischen Ländern zu verhindern? Ebenso verhält es<br />
sich bei der Überlegung, was geschehen soll, wenn meine<br />
Landsleute, die Dänen, in der Tageszeitung Jyllands Posten<br />
politische Karikaturen mit der Figur <strong>des</strong> Propheten<br />
Mohammed abdrucken und dafür plötzlich mit dem Tod<br />
bedroht werden? Sie meinen doch, den Geist der Freiheit<br />
zu verteidigen. Und weil sie ohnehin die Welt und alle<br />
Ereignisse in ihr gerne ironisch betrachten, ist es für sie<br />
eine Selbstverständlichkeit, dass sie in einer freien Presse<br />
auch Witze über beengtes Denken machen dürfen. Plötzlich<br />
wird ihnen dafür der Krieg erklärt. Ich meine, dass<br />
man solchen Konflikten nicht ausweichen kann. Es gibt<br />
nur eine Konsequenz: das freie Denken, das gegen alle<br />
Gefährdungen verteidigt werden muss.<br />
III. Krieg und Frieden – Schweigen und Sprechen<br />
Für den griechischen Philosophen Heraklit war der Krieg<br />
bekanntlich der Vater aller Dinge. Man könnte mit Blick<br />
auf die Psychoanalyse nach Sigmund Freud formulieren,<br />
dass der Konflikt der Vater alle Dinge sei. Denn nach<br />
seiner Deutung liegen die inneren Triebe und das Über-<br />
Ich beständig miteinander im Streit. Die wirklichen Völkerkriege<br />
sind aber damit nicht zu vergleichen. Sie entfesseln<br />
unvorstellbares Grauen und ermöglichen die völlige<br />
Verdrehung von Recht und Unrecht. Was in Friedenszeiten<br />
das größte Verbrechen ist – die Tötung eines Menschen<br />
–, wird im Krieg zur Pflicht erhoben. Wer dieser<br />
Pflicht nicht folgt, wird selber getötet, im Feld oder als<br />
vermeintlicher Deserteur. Einen Ausweg aus diesem<br />
Kreislauf der Gewalt gibt es im Krieg der Völker nicht.<br />
Viel schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie, im<br />
Gegensatz zum Krieg, der Frieden zu bestimmen ist. Es<br />
gibt keine einfache Definition. Mit der Erfahrung meiner<br />
Biographie wie auch meiner wissenschaftlichen Arbeit<br />
meine ich sagen zu können, Frieden ließe sich als ein<br />
herrschaftsfreier Diskurs beschreiben, in Anlehnung an<br />
Jürgen Habermas‘ wichtige Überlegungen in der Theorie<br />
<strong>des</strong> kommunikativen Handelns (1981)<br />
Diese besondere Form <strong>des</strong> Miteinander-Sprechens und<br />
Einander-Zuhörens – entwickelt in der intensiven Auseinandersetzung<br />
mit Immanuel Kant – muss nicht per se<br />
Frieden bedeuten. Aber sie führt dorthin, wo Frieden<br />
entstehen kann, über die Sprache und über den freien<br />
Austausch von gegensätzlichen Positionen. Wer Frieden<br />
schaffen will, muss sich mit anderen verständigen und<br />
seine Argumente kritisch auf Plausibilität hin überprüfen.<br />
Das geschieht allein durch Sprache. Auch die Psychoanalyse<br />
als „talking cure“ klärt uns über die unbewussten<br />
Motive unseres Verhaltens auf und verhindert so ein<br />
gewalttätiges Ausagieren.
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
„Widerreden „Widerreden – Der Der <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels“<br />
Alexander Mitscherlich als Sitzmöbel auf der<br />
10. Münchener Bücherschau. © <strong>Friedenspreis</strong>-Archiv<br />
Demnach ist der Krieg die Zeit <strong>des</strong> Schweigens, der Frieden<br />
die <strong>des</strong> Sprechens. Überhaupt, ohne Sprache wäre der<br />
Mensch nicht Mensch. Sie unterscheidet ihn von den<br />
Tieren. Und sie ermöglicht die Verständigung zwischen<br />
den Menschen. Sie ist die Grundlage für jeden herrschaftsfreien<br />
Diskurs. Die Sprache ist und bleibt die die<br />
einzige Möglichkeit zur Verständigung. Trotzdem können<br />
sich Menschen durch Sprache auch trennen und zu Feinden<br />
werden. Es ist eine interessante Frage, ob die Kriege<br />
zwischen Deutschland und Frankreich ausgebrochen<br />
wären, wenn die <strong>Deutschen</strong> alle gut französisch gesprochen<br />
hätten und die Franzosen alle gut deutsch? Das<br />
Verhältnis der <strong>Deutschen</strong> zur Schweiz und zu Österreich<br />
ist ein anderes als das zu Frankreich oder zu Italien. Warum<br />
hat die Menschheit so viele Sprachen erfunden? Oder<br />
anders gefragt, mit Blick auf die berühmte Geschichte aus<br />
dem Alten Testament, über den Turmbau zu Babel: Warum<br />
hat Gott, in welcher Form es ihn auch gibt, den Menschen<br />
so viele Sprachen gegeben, dass sie sich untereinander<br />
kaum noch verstehen können? Erst in der Fähigkeit,<br />
den anderen zu verstehen, seine Argumente zu bedenken<br />
und anzuerkennen, liegt der Keim <strong>des</strong> Friedens.<br />
23<br />
Die Bedeutung der Sprache in der Öffentlichkeit, aber<br />
auch in der Familie, sollten wir nicht unterschätzen. In<br />
der Familie sind es neben der Sprache auch die Gefühle,<br />
die Liebe und die Zuneigung, die den Umgang von Menschen<br />
mit Menschen bestimmen. Je weiter man dagegen<br />
in die Öffentlichkeit kommt, <strong>des</strong>to mehr gewinnt die<br />
Sprache an Bedeutung. In der öffentlichen Diskussion ist<br />
die Sprache das einzige Mittel zur Verständigung. Und<br />
trotzdem sollte man, bei aller Hoffnung, realistisch bleiben:<br />
Eine Welt ganz ohne gewalttätige Auseinandersetzungen<br />
wird es nie geben. Das scheint mir angesichts der<br />
globalen Unterschiede, etwa der großen Kluft zwischen<br />
Armut und Reichtum, unmöglich. Ein totaler Frieden –<br />
man könnte auch in Anlehnung an Immanuel Kant von<br />
einem „ewigen Frieden“ sprechen – ist eine unerfüllbare<br />
Utopie. Wir alle können immer nur kleine Schritte in die<br />
Richtung <strong>des</strong> Friedens gehen. Der herrschaftsfreie Diskurs<br />
wäre dabei ein möglicher Weg.<br />
IV. Erziehung zum Frieden –Familie als Ort <strong>des</strong> Friedens<br />
Wir sollten uns keiner Illusion hingeben: Der Mensch<br />
wird, wie zum ersten Mal von Sigmund Freud beschrieben,<br />
mit dem Trieb zur Aggression geboren. Sein Leben<br />
wird durch den Aggressionstrieb und andere Triebe bestimmt,<br />
etwa durch den Selbsterhaltungstrieb oder durch<br />
den Sexualtrieb. Dabei ist die Aggression eine lebenserhaltende<br />
Kraft, eine Grundmacht <strong>des</strong> Lebens. Wir Menschen<br />
werden geboren und sind eifersüchtig aufeinander.<br />
Wir buhlen als rivalisierende Geschwister beständig um<br />
die Gunst der Eltern. Diejenigen, die behaupten, sie liebten<br />
ihre Kinder alle gleich, irren. Die Zuneigung ist immer<br />
unterschiedlich, sie drückt sich aus durch kleine, unbewusste<br />
Gesten, und Kinder spüren das. Die Erstgeborenen<br />
zum Beispiel, die ein Geschwisterchen bekommen haben,<br />
werden eifersüchtig. Rivalität unter den Menschen wird<br />
es immer geben. Ohne sie aber wäre das Leben auch<br />
fürchterlich langweilig. Wer würde sich noch anstrengen,<br />
wenn er damit nicht gelegentlich auch in der Schule der<br />
Bessere wäre und mehr Erfolg hätte als die anderen?<br />
Es mag nun paradox klingen, wenn ich behaupte, trotz<br />
<strong>des</strong> mächtigen Triebpotentials zur Aggression ist der<br />
Mensch zum Frieden fähig. Das aber ist kein Paradox. Der<br />
einzelne Mensch, der nicht in der Masse verschwindet,<br />
sondern sich die Fähigkeit zum freien, kritischen Denken<br />
bewahrt, ist durchaus zum Frieden fähig. Entscheidend<br />
dafür ist die Prägung durch das Elternhaus und die Schule,<br />
die stete Vermittlung von ganz einfachen Verhaltensweisen<br />
wie der Zuwendung, dem Zuhören und dem Verstehen.<br />
Zuhause und in der Schule sollten Kinder vor<br />
allem lernen – und weiterlernen –, dass es unterschiedliche<br />
Meinungen und Gefühle gibt und dass andere Menschen<br />
andere Gefühle haben können als sie selbst. Es<br />
geht um das Vermögen, sich in die Situation <strong>des</strong> anderen<br />
hineinzuversetzen und seine Argumente anzunehmen.<br />
Für den israelischen Schriftsteller Amos Oz, ebenfalls ein<br />
<strong>Friedenspreis</strong>träger, ist die Fähigkeit, den Standpunkt <strong>des</strong><br />
anderen anzunehmen, ein möglicher Weg, auf dem der<br />
Fanatismus überwunden werden kann.
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
„Widerreden „Widerreden – Der Der <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels“<br />
Solche Vorstellungen zur Kindererziehung sind in unserer<br />
Gesellschaft weit verbreitet. Vielleicht könnte es sogar<br />
gelingen, diese Form mitmenschlicher und psychologischer<br />
Erziehung auch als Leitbild für eine größere Gruppe<br />
von Menschen zu etablieren. Die Geschichte zeigt, dass<br />
mit der Vision der Humanität vieles möglich wird. Die<br />
Vereinigten Staaten von Amerika haben heute einen farbigen<br />
Präsidenten. Und die einst verfeindeten Nachbarländer<br />
Frankreich und Deutschland, auch Polen und<br />
Deutschland, sind heute friedliche und miteinander befreundete<br />
Partner in der Europäischen Union. Sie werden<br />
keinen Krieg mehr gegeneinander führen. In meiner<br />
Kindheit war das noch anders. Frankreich galt als Erbfeind<br />
der <strong>Deutschen</strong>, ein dunkelhäutiger Präsident in den<br />
USA war unvorstellbar. Ich möchte <strong>des</strong>halb an meinem<br />
Glauben festhalten, dass der Mensch entwicklungsfähig<br />
ist, dass er zum Frieden taugt.<br />
Die Rolle der Eltern ist dabei von besonderer Bedeutung.<br />
Eltern tragen unendlich viel zum Frieden bei. Zum Beispiel,<br />
indem sie ihren Kindern beibringen, dass es im<br />
Zusammensein mit anderen immer verschiedene Positionen<br />
gibt, dass der, der einen selbst verletzt hat, es vielleicht<br />
unabsichtlich getan hat. Wenn Eltern die Fähigkeit<br />
fördern, dass Kinder Distanz zu sich selber gewinnen und<br />
den Standpunkt <strong>des</strong> anderen mit einbeziehen können –<br />
wo immer sich das Kind aufgrund seiner Entwicklung und<br />
seiner Lebenssituation befindet –, dann verfallen Kinder<br />
nicht so schnell in Zustände der Aggression und der Gewalt.<br />
Oft geschieht eine solche Erziehung auch intuitiv,<br />
schweigend, ohne Worte. Manchmal ist es die Art, wie<br />
Eltern ihre Kinder anschauen. Oder die Geste, mit der sie<br />
ihr Kind auf den Arm nehmen und ihm sagen: „Schluss<br />
jetzt!“<br />
Börsenvereinsvorsteher Werner Stichnote und Margarete<br />
Mitscherlich in der ersten Reihe. © Lutz Kleinhans<br />
V. Trauer als möglicher Weg zum Frieden<br />
Auch in der Trauer und der Auseinandersetzung mit ihr<br />
kann der Weg zum Frieden gefunden werden. Zum einen<br />
natürlich, wenn die persönliche Trauer durch einen Krieg<br />
verursacht wurde, wenn ein nahestehender Mensch bei<br />
einem Militäreinsatz ums Leben gekommen ist. Eine<br />
24<br />
andere Form der Trauer wird verursacht durch die Erkenntnis<br />
der Unmenschlichkeit, etwa am Beispiel der<br />
nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Auch diejenigen,<br />
die nicht persönlich daran beteiligt waren und keine<br />
persönliche Schuld auf sich geladen haben, können diese<br />
Trauer empfinden, zumal als Deutsche. Sie werden dazu<br />
aufgefordert, sich mit der Trauer und ihren Ursachen<br />
auseinanderzusetzen. Und sie empfinden das Gefühl, dass<br />
solche Verbrechen nie wieder geschehen dürfen. Wir<br />
entdecken in uns, dass wir, wenn ein solches menschenverachten<strong>des</strong><br />
System wieder an die Macht kommen sollte,<br />
alles dagegen unternehmen und bereit sein werden, unter<br />
Umständen auch unser Leben für die Verteidigung der<br />
Menschlichkeit einzusetzen.<br />
Unter Umständen kann diese moralische Verpflichtung<br />
auch zur Abkehr vom Frieden führen. Ich denke zum<br />
Beispiel an den Militäreinsatz in Afghanistan, an dem<br />
auch die Bun<strong>des</strong>wehr beteiligt ist. Es stellen sich dabei<br />
schwierige Fragen: Ist das ein Krieg? Wenn ja, müssen<br />
wir dort Krieg führen, damit die Taliban mit ihrer wahnhaften<br />
Ideologie nicht zur Herrschaft kommen? Sollen wir<br />
die Menschen in Afghanistan ihrem Schicksal überlassen<br />
oder sollen wir das nicht? Wie erreichen wir Frieden,<br />
wenn wir zuerst einen Krieg darum führen müssen? All<br />
das ist schwer zu beantworten. Wie es scheint, ist<br />
manchmal doch Krieg erforderlich, um einen Frieden zu<br />
gewinnen, der zu einer neuen und gerechteren Ordnung<br />
führt. Im Fall <strong>des</strong> Dritten Reiches war es der Krieg, der<br />
das Ende der verbrecherischen Gewalt bewirkte.<br />
Wir alle wissen, was es bedeutet, wenn ein Mensch, der<br />
uns sehr nahe steht, zu dem wir eine enge Beziehung<br />
haben, stirbt. Oder ein Kind, das unseres Schutzes bedurfte.<br />
Diese Trauer ist jedem von uns bekannt, es ist individuelle<br />
Trauer. Wir können aber nicht um Millionen Menschen<br />
trauern. Wir können jedoch um bestimmte verlorene<br />
Ideale trauern, um die verlorene Menschlichkeit zum<br />
Beispiel. Wenn sich Menschen heute mit den Konzentrationslagern<br />
und dem Mord an den europäischen Juden<br />
beschäftigen, dann geschieht das immer im Gefühl der<br />
Trauer. Es gibt Situationen, in denen wir weinen müssen.<br />
Wir weinen aus dem Gefühl, dass eine solche Unmenschlichkeit<br />
möglich ist. Doch geht uns diese Trauer anders zu<br />
Herzen als die Trauer über einen Menschen, der zu uns<br />
gehört hat. Viele sagen, man kann nur persönlich trauern.<br />
Ich halte das für einen Irrtum. Phantasie und Einfühlung<br />
sind menschliche Fähigkeiten, die weit über das nur Persönliche<br />
hinausgehen und den Menschen zu seinem sozialen<br />
Wesen machen.<br />
VI. Die Erziehung zum Frieden als künftige Aufgabe<br />
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte, zumal der<br />
<strong>des</strong> Dritten Reiches, muss auch künftig eine wichtige<br />
Rolle in der Erziehung junger Menschen spielen. Mädchen<br />
und Jungen in Deutschland wissen heute um die<br />
Verbrechen, die im vergangenen Jahrhundert verübt wurden.<br />
Dennoch gibt es einen Unterschied zu früheren Generationen:<br />
Sie können sich, nach einer so langen und<br />
guten Friedenszeit das Ausmaß der Gewalt, die damals
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
„Widerreden „Widerreden – Der Der <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels“<br />
verübt wurde, nicht mehr vorstellen. Sie können die Geschichte<br />
zur Kenntnis nehmen. Aber wissen sie tatsächlich<br />
noch etwas von der vergangenen Zeit?<br />
1968 kam es vor der Paulskirche zu einer Demonstration, die in<br />
eine Straßenschlacht überging. © Lutz Kleinhans<br />
Meine Enkelkinder fragen mich, ob wir denn alle verrückt<br />
gewesen seien. Sie sind viel im Ausland unterwegs und<br />
haben zahlreiche ausländische jüdische Freunde. Wenn<br />
man ihnen heute von den Konzentrationslagern erzählt,<br />
dann verstehen sie, wie ich glaube, deren Besonderheit<br />
nicht mehr. Sie wissen, das waren schreckliche und menschenverachtende<br />
Orte. Aber für sie ist die Geschichte<br />
voll von entsetzlichen Ereignissen. Insofern ist ihnen<br />
mehr und mehr unverständlich, was wir – die Angehörigen<br />
meiner Generation – noch am eigenen Leib erlebt<br />
haben. Ich frage mich oft, ob man den Angehörigen dieser<br />
jungen Generation noch vermitteln kann, wie widersprüchlich<br />
diese Zeit gewesen ist? In Flensburg zum Beispiel,<br />
wo ich zur Schule gegangen bin, gehörte die Hälfte<br />
meiner Klassenkameradinnen zum BDM. Die andere<br />
Hälfte nicht, da wir noch einem Jahrgang angehörten, in<br />
dem die Mitgliedschaft im nationalsozialistischen Bund<br />
Deutscher Mädel keine Pflicht war. Und wir hatten eine<br />
hervorragende Lehrerin, die nicht mit den Nazis sympathisierte.<br />
Trotzdem war es selbstverständlich, dass wir zu<br />
Beginn <strong>des</strong> Unterrichts den Arm heben und „Heil Hitler“<br />
sagen mussten. Später, bei meinen Studienfreunden,<br />
wusste ich, wer für und wer gegen den Nationalsozialismus<br />
war. Es war ja nicht so, dass von heute auf morgen<br />
viel zu viele Menschen Nazis wurden. Aber zu wenige<br />
haben gegen den Nationalsozialismus gekämpft, das ist<br />
der entscheidende Punkt. Es stimmt nicht, dass ganz<br />
Deutschland während <strong>des</strong> gesamten Krieges für Hitler<br />
gewesen ist. Allerdings haben nur relativ wenige Menschen<br />
ihr Leben im aktiven Widerstand riskiert. Diese<br />
Unterschiede kennen die jungen Menschen heute nicht<br />
mehr. Sie wissen nicht, dass die deutsche Bevölkerung im<br />
Dritten Reich tief in sich gespalten war. Sie nehmen das<br />
höchstens als Entschuldigung wahr.<br />
Was ich damit sagen möchte: Wir wurden durch das Dritte<br />
Reich politisiert. In meinem Elternhaus spielte die<br />
25<br />
Politik keine herausragende Rolle. Erst langsam habe ich<br />
begonnen, mich für Politik zu interessieren. Eigentlich<br />
habe ich erst in einer höheren Schulklasse begriffen, dass<br />
es Parlamente und Parteien gibt und dass die Nationalsozialisten<br />
in Deutschland das alles zerstört hatten. Für die<br />
Jugend von heute sind Parteien und Parlamente und eine<br />
freie Presse selbstverständlich. Sie wissen zum Glück<br />
nicht, was es heißt, in einer Diktatur zu leben. Sie wissen:<br />
So war es, das haben wir hinzunehmen, das ist unsere<br />
Geschichte. Aber für sie ist das Geschichte. Für mich ist<br />
es mein Leben. Das ist ein großer Unterschied. Trotzdem<br />
muss man auch in Zukunft weiter an die Geschichte <strong>des</strong><br />
Dritten Reiches und der Unmenschlichkeit erinnern. Wir<br />
müssen den jungen Menschen zeigen, dass wir alle zusammen<br />
dauerhaft dafür verantwortlich bleiben, dass so<br />
etwas nie wieder geschieht.<br />
1969 signierte Bun<strong>des</strong>präsident Heinemann vor der Paulskirche<br />
für einen kleinen Jungen. © Kerner(Frankfurter Stadtarchiv<br />
Dr. Margarete Mitscherlich, geboren am 17. Juli 1917 in<br />
Gravenstein in Dänemark, promovierte 1950 nach dem<br />
Studium der Medizin und Literatur in München und Heidelberg.<br />
1955 heiratete sie Alexander Mitscherlich. In den<br />
1950er Jahren erfolgte ihre psychoanalytische Ausbildung.<br />
Ab 1967 lehrte sie vorrangig am Sigmund-Freud-<br />
Institut in Frankfurt. Von 1982 an gab sie die von ihrem<br />
Mann gegründete Zeitschrift Psyche heraus, parallel leitete<br />
sie eine Praxis für Psychoanalyse in Frankfurt. Unter<br />
ihren Veröffentlichungen ragt das Buch Die friedfertige<br />
Frau (1985) über weibliches Rollenverhalten in der Politik<br />
heraus. Die neuesten Veröffentlichungen von ihr waren<br />
Autobiografie und Lebenswerk einer Psychoanalytikerin<br />
(2006) und Eine unbeugsame Frau (2007). Margarete<br />
Mitscherlich verstarb am 12. Juni <strong>2012</strong> im Alter von 94<br />
Jahren.<br />
Der Text entstand auf der Grundlage eines Interviews mit<br />
Niels Beintker. Er ist erstmals in dem Buch „Widerreden<br />
– 60 Jahre <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels“<br />
(Frankfurt am Main 2009) erschienen.
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
Aus Aus den den Archiven<br />
Archiven<br />
Der König hat mich nur zu Wasser eingeladen.<br />
Hans-Heinrich Peter’s Bericht über die Verleihung <strong>des</strong><br />
Nobelpreises für Literatur an Nelly Sachs<br />
Nicht nur Nelly Sachs, sondern auch weitere <strong>Friedenspreis</strong>träger haben nach ihrer Auszeichnung<br />
in der Frankfurter Paulskirche den Nobelpreis erhalten, zum Teil für Literatur, andere<br />
für den Frieden: Albert Schweitzer, Orhan Pamuk, Alva Myrdal, Octavio Paz und Maria Vargas<br />
Llosa. Weitere Preisträger wie Assia Djebar, Amos Oz, Claudio Magris oder David Grossman<br />
werden seit Jahren als aussichtsreiche Kandidaten gehandelt.<br />
Der Nobelpreis krönt eine Lebensleistung, für die sich der oder die Auserwählte mit seinem<br />
Werk, aber auch zum Beispiel mit seiner <strong>Friedenspreis</strong>rede ‚qualifiziert‘ hat. Hat der <strong>Friedenspreis</strong><br />
ihn erst einmal in einen neuen gesellschaftlichen Status versetzt, stellt der Nobelpreis<br />
ihn nun an die Spitze. Viele wie Vargas Llosa, Pamuk oder auch Herta Müller nutzen<br />
diese Chance, um sich mit der nun gewichtigeren Stimme noch stärker in die gesellschaftliche<br />
Diskussion einzubringen. Für Nelly Sachs war es vor allem eine Bestätigung ihrer jahrzehntelangen,<br />
etwas im Verborgenen stattfindenden literarischen Betätigung in ihrer kleinen<br />
Wohnung in Stockholm.<br />
Hans-Heinrich Peters, Mitglied im Vorstand <strong>des</strong> Börsenvereins von 1962-1965, wurde im<br />
Dezember 1966, ein Jahr nach der Auszeichnung von Nelly Sachs mit dem <strong>Friedenspreis</strong>, zu<br />
ihrer Nobelverleihung nach Stockholm eingeladen. Den folgenden Bericht über seine Reise<br />
und Erfahrungen hat er seinerzeit an Friedrich Georgi, dem Vorsteher <strong>des</strong> Börsenvereins<br />
geschickt. Es ist ein Zeitdokument, das sich nicht nur mit der Verleihung und ihrer aufwendigen<br />
Zeremonie beschäftigt, sondern auch viel über die damaligen Ansichten in Skandinavien<br />
über Deutschland und Deutsche verrät.<br />
Lieber Herr Georgi!<br />
Nach einer Woche als „Edelstatist“ bei den Nobelfestlichkeiten in Stockholm fühlt man sich<br />
min<strong>des</strong>tens so erschlagen wie nach einer Buchmesse in guten alten Vorstandszeiten. Von<br />
Donnerstag, dem 8.12. 9,30 Uhr bis Mittwoch, dem 14.12. 20 Uhr war ich, von einem Tag<br />
abgesehen, ständig in Bewegung, von einem Empfang, von einem Gespräch zum anderen.<br />
Daß Alkohol in Schweden selten ist, trifft nur für das normale Leben zu. Der Konsum an<br />
Whisky in der vergangenen Woche ist wahrscheinlich größer gewesen als der von einem<br />
normalen Vierteljahr. So waren meine Frau und ich denn froh und erschlagen, als wir am<br />
Mittwochabend glücklich im Schlafwagen lagen und wieder Richtung Deutschland fuhren.<br />
Aber das soll nun beileibe nicht heißen, daß diese Tage in Stockholm kein Erfolg gewesen<br />
wären. Ich glaube, daß alles das, was ich dort mitgemacht habe, zu jenen großen Erinnerungen<br />
gehören wird, die jeder Mensch, je älter er wird, sammelt. Um Ihnen einen umfassenden<br />
Bericht geben zu können, müßte ich mit der „Schreibe“ begabter sein und auch über mehr<br />
Zeit verfügen als es jetzt nach einer Woche Abwesenheit mitten im Weihnachtsgeschäft der<br />
Fall ist. Aber Sie sollen doch in Stichworten wenigstens hören, was ich erlebt habe.<br />
8.12.<br />
Empfang bei Bonnier. Ich habe nach dem Krieg eine Reihe von Empfängen mitgemacht, nicht<br />
nur bei Verlegern, sondern auch bei anderen Gelegenheiten. Aber welch ein Unterschied! Die<br />
Villa von Bonnier im besten Wohnviertel von Stockholm am Wasser gelegen, wohl aus der<br />
Zeit vor dem 1. Weltkrieg, mit einem Anbau aus späteren Jahren, reicht ohne Schwierigkeiten<br />
für 400 Menschen und mehr. Der Eingang durch den Park, durch Fackeln erhellt,<br />
26<br />
Liao <strong>2012</strong><br />
Sansal 2011<br />
Grossman 2010<br />
Magris 2009<br />
Kiefer 2008<br />
Friedländer 2007<br />
Lepenies 2006<br />
Pamuk 2005<br />
Esterházy 2004<br />
Sontag 2003<br />
Achebe 2002<br />
Habermas 2001<br />
Djebar 2000<br />
Stern 1999<br />
Walser 1998<br />
Kemal 1997<br />
Vargas Llosa 1996<br />
Schimmel 1995<br />
Semprún 1994<br />
Schorlemmer 1993<br />
Oz 1992<br />
Konrád 1991<br />
Dedecius 1990<br />
Havel 1989<br />
Lenz 1988<br />
Jonas 1987<br />
Bartoszewski 1986<br />
Kollek 1985<br />
Paz 1984<br />
Sperber 1983<br />
Kennan 1982<br />
Kopelew 1981<br />
Cardenal 1980<br />
Menuhin 1979<br />
Lindgren 1978<br />
Kołakowski 1977<br />
Frisch 1976<br />
Grosser 1975<br />
Frère Roger 1974<br />
The Club of Rome 1973<br />
Korczak 1972<br />
Dönhoff 1971<br />
Myrdal 1970<br />
Mitscherlich 1969<br />
Senghor 1968<br />
Bloch 1967<br />
Bea/Visser 't Hooft 1966<br />
Sachs 1965<br />
Marcel 1964<br />
Weizsäcker 1963<br />
Tillich 1962<br />
Radhakrishnan 1961<br />
Gollancz 1960<br />
Heuss 1959<br />
Jaspers 1958<br />
Wilder 1957<br />
Schneider 1956<br />
Hesse 1955<br />
Burckhardt 1954<br />
Buber 1953<br />
Guardini 1952<br />
Schweitzer 1951<br />
Tau 1950
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
Aus Aus den den Archiven<br />
Archiven<br />
drinnen eine Riesenhalle, wo Bonnier empfängt und die Gäste sich nach rechts und links<br />
verteilen. Die Räume – eine herrliche Bibliothek, wie man mir sagte etwa ein Viertel der<br />
Produktion <strong>des</strong> Verlags – mit weit über 200 Gemälden von jenen Schriftstellern, die dem<br />
Verlag Ruhm gebracht haben und die den Verlag groß gemacht haben. Schriftsteller, Presseleute,<br />
Vertreter der Akademie, eine große Gruppe deutscher Emigranten, die heute im geistigen<br />
Leben Schwedens immer noch eine Rolle spielen. In einem der vielen Räume auf einem<br />
Sofa Nelly Sachs und Agnon, in ihrer nächsten Umgebung Dr. Holmquist mit Frau, der sie<br />
gegenüber zu viel Neugierigen absichert und mich bereits an diesem Abend in diesen Dienst<br />
einweist.<br />
Die Verleihung <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong> 1965: Nelly Sachs nimmt die Urkunde vom<br />
Börsenvereinsvorsteher Friedrich Wittig entgegen. © Meier-Ude/<strong>Friedenspreis</strong>archiv<br />
So habe ich denn bei sämtlichen Gelegenheiten eigentlich mit meinem breiten Kreuz immer<br />
abschirmend Bittstellern, Leute, die vorgestellt werden wollten usw., ordnen müssen, um<br />
einen zu stürmischen Überfall auf Nelly Sachs zu verhindern. Was angeboten und gereicht<br />
wurde, war mit deutschen Maßstäben aller Buchmesse nicht zu messen, es war eher bescheiden.<br />
Man kam nicht nach dort, um zu essen und zu trinken, sondern um Menschen zu<br />
treffen, Gespräche zu führen, Gedanken auszutauschen. Was Reichtum heißt, wurde einem<br />
da wieder einmal vor Augen geführt. Nach Erläuterungen kundiger Schweden gilt zwar das<br />
Interesse von Bonnier, der mit Kindern und Enkeln in reichem Maß auf dem Empfang vertreten<br />
war, immer noch in erster Linie dem Verlag, aber seine wirtschaftlichen Interessen gehen<br />
weit darüber hinaus. Zwei Zeitungen – Dagens Nyheter und eine Abendzeitung – gehören<br />
ihm genauso wie Wälder, Papierfabriken und andere Industrien. Außerdem soll er in Südamerika<br />
große wirtschaftliche Interessen haben, die er 1940, als er einen Teil seiner schwedischen<br />
Besitzungen verkaufte, dort erworben hat.<br />
Auf besonderen Wunsch von Dr. Holmquist und Nelly Sachs gingen meine Frau und ich dann<br />
auch noch zum Chanucka-Fest, dem Lichterfest der jüdischen Gemeinde. Mit gewissen<br />
Hemmungen folgte ich dieser Einladung, und es war mir nicht übermäßig angenehm, in der<br />
zweiten Reihe direkt hinter den beiden Nobelpreisträgern placiert zu werden. Die Feier<br />
selbst– es ließe sich viel darüber sagen –, aber es ist vielleicht wichtiger von einem anschließenden<br />
Gespräch zu berichten. Ich stand in einer Ecke und den Empfehlungen von Holmquist<br />
folgend, sprach ich nur schwedisch bzw. englisch, bis plötzlich ein Rabbiner der<br />
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Liao <strong>2012</strong><br />
Sansal 2011<br />
Grossman 2010<br />
Magris 2009<br />
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Friedländer 2007<br />
Lepenies 2006<br />
Pamuk 2005<br />
Esterházy 2004<br />
Sontag 2003<br />
Achebe 2002<br />
Habermas 2001<br />
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Stern 1999<br />
Walser 1998<br />
Kemal 1997<br />
Vargas Llosa 1996<br />
Schimmel 1995<br />
Semprún 1994<br />
Schorlemmer 1993<br />
Oz 1992<br />
Konrád 1991<br />
Dedecius 1990<br />
Havel 1989<br />
Lenz 1988<br />
Jonas 1987<br />
Bartoszewski 1986<br />
Kollek 1985<br />
Paz 1984<br />
Sperber 1983<br />
Kennan 1982<br />
Kopelew 1981<br />
Cardenal 1980<br />
Menuhin 1979<br />
Lindgren 1978<br />
Kołakowski 1977<br />
Frisch 1976<br />
Grosser 1975<br />
Frère Roger 1974<br />
The Club of Rome 1973<br />
Korczak 1972<br />
Dönhoff 1971<br />
Myrdal 1970<br />
Mitscherlich 1969<br />
Senghor 1968<br />
Bloch 1967<br />
Bea/Visser 't Hooft 1966<br />
Sachs 1965<br />
Marcel 1964<br />
Weizsäcker 1963<br />
Tillich 1962<br />
Radhakrishnan 1961<br />
Gollancz 1960<br />
Heuss 1959<br />
Jaspers 1958<br />
Wilder 1957<br />
Schneider 1956<br />
Hesse 1955<br />
Burckhardt 1954<br />
Buber 1953<br />
Guardini 1952<br />
Schweitzer 1951<br />
Tau 1950
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
Aus Aus den den Archiven<br />
Archiven<br />
der Gemeinde zu mir kam und mich auf deutsch ansprach und dann sagte, wir könnten uns<br />
ja auch weiter auf deutsch unterhalten. Es dauerte nicht lange und eine größere Gruppe<br />
ehemaliger Berliner – Emigranten – stand mit mir zusammen und erzählten. Sie alle, heute<br />
zum Teil pensioniert, haben gespielt bzw. spielen noch jetzt im wissenschaftlichen Leben<br />
eine große Rolle als Ärzte, Physiker, Chemiker und Theologen. Ihre Einstellung zu Deutschland<br />
ist natürlich sehr unterschiedlich und hebt sich stark von jener ab, die heute von den 40<br />
und 50jährigen vertreten wird. Aber diese Gruppe Berliner im Alter von 60 Jahren und darüber<br />
hat auch heute noch erstaunlich viel Good Will für Deutschland, fühlen sich nach wie<br />
vor als Deutsche, wissen es, daß sie es im Grunde nicht mehr sein können und leiden unter<br />
diesem Zwiespalt genauso wie wir es bei Nelly Sachs festgestellt haben.<br />
Das offizielle <strong>Friedenspreis</strong>foto.<br />
© Riwkin/<strong>Friedenspreis</strong>archiv<br />
10.12.<br />
Tag <strong>des</strong> Nobel-Festes. Alle öffentlichen Gebäude geflaggt. Geschäfte, die Fracks verleihen,<br />
seit Tagen ausverkauft. Taxis für diesen Tag überhaupt nicht zu bekommen, wenn nicht bereits<br />
Tage zuvor bestellt. Sturm peitscht Regen, Matsch und Schnee durch die Straßen, so daß<br />
die Damen, die Abendkleider bis über die Kniee geschürzt, in hohen Schaftstiefeln aus den<br />
Taxis steigen, um einigermaßen trocken ins Konzerthaus zu kommen. Das Konzerthaus, ein<br />
etwas verstaubter Bau noch aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg, und im Hinblick auf die Monarchie<br />
mit zwei Rängen ausgestattet. Die Garderoben festlich: die Damen nicht in Abendkleidern,<br />
sondern wirklich noch in Roben. Die Herren, abgesehen von einigen Studenten im<br />
3. Rang an der Seite auf Stehplätzen, nur im Frack mit Orden wie Weihnachtsbäume behängt.<br />
Selbst die Reporter von Fernsehen, Rundfunk und Presse alle im Frack. Den Ordnungsdienst<br />
versehen Studenten, ausgesucht hübsche Jungen, im Frack mit der weißen Studentenmütze<br />
und der blaugelben Schärpe, die min<strong>des</strong>tens zwei Fremdsprachen beherrschen. In der Reihe<br />
14, also im ersten Drittel <strong>des</strong> Parketts ist eine ganze Reihe nur für Freunde von Nelly Sachs<br />
reserviert. Dort u.a. Siegfried Unseld, Prof. Berendson, der Berliner Bankier Scheuermann mit<br />
Tochter, Werner Weber mit Frau usw. Der Einzug der Nobelgäste kann einen Spötter dazu<br />
bringen, von einer nicht hundertprozentigen Oper zu sprechen, aber man kann sich doch der<br />
Wirkung dieser ungebrochenen Tradition nicht entziehen. Die Reden zum Teil hervorragend,<br />
die Laudatio auf den Physiker, von einer Professorin gehalten, die anzusehen allein eine<br />
Freude war, abgesehen davon, daß auch dem Laien ihre Ausführungen verständlich waren.<br />
Die Laudatio auf die Mediziner hält ein Professor aus Stockholm, völlig frei ohne Konzept,<br />
einschl. der letzten drei, vier Minuten, wo er in die englische Sprache hinüberwechselt. Am<br />
nichtssagendsten die Rede auf die beiden Literaturpreisträger. Aber insgesamt eine sehr<br />
eindrucksvolle Feier.<br />
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Walser 1998<br />
Kemal 1997<br />
Vargas Llosa 1996<br />
Schimmel 1995<br />
Semprún 1994<br />
Schorlemmer 1993<br />
Oz 1992<br />
Konrád 1991<br />
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<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
Aus Aus den den Archiven<br />
Archiven<br />
Anschließend ging es zum Bankett ins Stadthaus, wobei meine Frau und ich zu den Glücklichen<br />
gehörten, denen von der Nobelstiftung ein Taxi gestellt wurde. Wer das Stadthaus von<br />
Stockholm nicht kennt, kann sich keine Vorstellung davon machen. Es ist das erste große<br />
Gebäude von Stockholm, in einer Gotik der Jahrhundertwende, das etwa 1918 fertig wurde<br />
ohne Mithilfe ausländischer Künstler. Es dient den großen repräsentativen Veranstaltungen,<br />
und zwar sowohl <strong>des</strong> öffentlichen wie auch <strong>des</strong> gesellschaftlichen Lebens. Im Goldenen Saal<br />
war für ca. 600 Personen gedeckt. Dazu kamen noch etwa 100 Gäste im Nebensaal und ca.<br />
200 Studenten in der Blauen Halle, die den Sälen vorgelagert ist. Auch hier hatte die Nobelstiftung<br />
bei der Tischordnung gewisse Interessenkreise berücksichtigt, und an unserem<br />
Tisch, der, wenn man eine Rangordnung aufstellen will, zu dem Viertel gehörte, das dem<br />
König am nächsten war, saßen Schriftsteller, Presseleute und Freunde von Nelly Sachs. Hier<br />
sprachen dann die Preisträger selbst. Und was wir bereits in Frankfurt erlebt haben, zeigte<br />
sich auch hier, daß Nelly Sachs mit ihrer kleinen zerbrechlichen Gestalt, nicht nur, weil sie<br />
Frau ist, sondern tatsächlich dank ihrer Ausdruckskraft, den stärksten Erfolg erzielte. Im<br />
Anschluß an das Essen war dann in der Blauen Halle (die in Wirklichkeit ziegelrot ist) der<br />
Aufmarsch der Studenten mit ihren Fahnen, ein zauberhaftes Bild. Die Laudatio der Studenten<br />
auf die Nobelpreisträger, zudem von einer entzückenden Studentin gehalten, ohne Konzept,<br />
in einem, wie mir nachher ein englischer Journalist sagte, fehlerfreien englisch.<br />
Auch beim <strong>Friedenspreis</strong> wird auf das Protokoll geachtet. Nelly Sachs bei der<br />
Ankunft vor der Frankfurter Paulskirche. © Lutz Kleinhans<br />
Die Studenten rückten wieder ab, stellten ihre Fahnen etwas pietätlos in die Ecke. Die Tanzkapelle<br />
intonierte einen Wiener Walzer, und wie kein Regisseur es auch nur annähernd hätte<br />
besser arrangieren können, rannten die Studenten zu ihren Studentinnen, und die Blaue<br />
Halle, die spielend 250 Tanzpaaren Platz bietet, begann zu leben, oder, wie es lt. Zeitplan<br />
hieß: 22,20 Uhr Beginn <strong>des</strong> Balls. Die Königlichen Hoheiten verschwanden, Nelly Sachs,<br />
umgeben von Holmquist, Unseld, Werner Weber und meiner Frau und mir, verdrückten sich<br />
an einen kleinen Tisch in der Ecke der Blauen Halle, und die geehrte Nobelpreisträgerin tat<br />
den Ausspruch: „Der König hat mich nur zu Wasser eingeladen, weil er meinte, in unserem<br />
Alter wäre es das gesün<strong>des</strong>te. Jetzt möchte ich aber auch noch ein Glas Sekt“. Und so hielt sie<br />
denn von allen Nobelpreisträgern am längsten aus, und es hätte nicht viel gefehlt, daß sie mit<br />
Unseld oder mir noch mal einen Walzer getanzt hätte. Sie tat es dann nachher nicht, weil sie<br />
meinte, es gehöre sich nicht; aber noch an den nächsten Tagen war ein kleines Bedauern ob<br />
dieser nicht ausgenützten Gelegenheit zu registrieren. Meine Frau und ich sind dann noch<br />
durch diese Riesenräume gegangen, haben auch selbst noch wie in jungen Jahren getanzt.<br />
Unseld war ob der schwedischen Studentinnen (auch ich habe selten soviel bildhübsche,<br />
gutgewachsene und gutangezogene Mädchen in solchem Rahmen gesehen) hell begeistert.<br />
Was Sie vielleicht besonders interessieren wird, daß ich von verschiedenen schwedischen<br />
Journalisten und Schriftstellern auf den <strong>Friedenspreis</strong> angesprochen wurde, wobei es zunächst<br />
einmal darum ging, Begriffe zurechtzurücken und zu betonen, daß der <strong>Friedenspreis</strong><br />
kein Literaturpreis ist.<br />
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Sansal 2011<br />
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Durch die Verleihung <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>es an Nelly Sachs hat dieser Preis <strong>des</strong> Buchhandels in<br />
ganz Skandinavien und, was auch ein Gespräch mit einem israelischen und einem englischen<br />
Journalisten ergab, entscheidend im Ausland an Bedeutung gewonnen. Es ist heute ein<br />
Preis, der über den Rahmen der deutschen Öffentlichkeit hinauswächst, wobei nicht zuletzt<br />
die Art der Verleihungsfeier und die Übertragung durch Fernsehen und Rundfunk eine entscheidende<br />
Rolle spielen.<br />
Nelly Sachs ‚schwebt‘ aus der Paulskirche hinaus. © Lutz Kleinhans<br />
11.12.<br />
An diesem Tag war offiziell nichts für mich vorgesehen, da am Tag nach der Nobelpreisverleihung<br />
immer der König die Vertreter der schwedischen Akademie und die Nobelpreisträger<br />
zu einem Essen ins Schloß bittet. Nelly Sachs hatte am Abend vorher gezögert, und es war<br />
rührend zu hören, wie sie jetzt die Worte <strong>des</strong> Königs wiedergab, der gesagt hatte, sie solle<br />
ruhig zu ihm ins Schloß kommen; im Schloß wären sie alle sehr nett, und außerdem habe er<br />
im Schloß sehr schöne Sachen, die er ihr persönlich zeigen wolle. Dieses Versprechen hat der<br />
König dann auch am Abend vor Beginn <strong>des</strong> Banketts in die Tat umgesetzt, und Nelly Sachs<br />
so einige alte Bücher, Stiche und besondere Steine und Porzellane gezeigt. Daß er außerdem<br />
mit ihr die ganze Zeit nur deutsch sprach und sie nicht in die Verlegenheit brachte, ihr<br />
schlechtes Schwedisch zu zeigen, war eine besonders schöne Geste <strong>des</strong> alten Herrn. An diesem<br />
Abend hatten sich jedoch auf Wunsch der Nobelpreisträgerin Werner Weber, Bengt<br />
Holmquist und Amos Elon (der im Herbst bei Kindler das Buch „In einem heimgesuchten<br />
Land“ veröffentlicht hat, das in der „Zeit“ und im „Spiegel“ sehr heftig diskutiert wurde) und<br />
ich zusammengefunden. Was die Ergiebigkeit von Gesprächen anbelangt, so war dieser<br />
Abend sicherlich am fruchtbarsten, für mich jedoch oft sehr schwierig. Wir haben etwa drei<br />
Stunden zusammengesessen und sind dann ins Schloß gefahren, um in einem der Vorräume<br />
Nelly Sachs in Empfang zu nehmen. Auch im Schloß gibt es Kurzschluß, und gerade in dem<br />
Augenblick, als die Gäste das Schloß verlassen sollten, brannten auf den großen Treppen<br />
keine Lichter. So kamen denn die Gäste, von Dienern mit Taschenlampen begleitet, die Treppe<br />
herunter. Als Letzte erschien Nelly Sachs, aber ihr wurde nicht mit Taschenlampen geleuchtet,<br />
sondern ein livrierter, uralter Diener trug einen Kerzenkandelaber voraus, und dann<br />
folgte diese kleine Frau, von einem Kammerherrn geleitet, bis wir sie dann durch Schnee und<br />
Eis wieder in ihren Nobel-Wagen setzen konnten.<br />
12.12.<br />
An diesem Tag gab die israelische Botschaft einen Empfang, der ja ursprünglich später geplant<br />
war. So hatte ich keine Einladung und war eigentlich recht froh, nicht hingehen zu<br />
müssen. Aber Nelly Sachs legte auf meine Begleitung entscheidenden Wert und ließ durch<br />
Bengt Holmquist bei der israelischen Botschaft für mich eine Einladung erbitten, die auch<br />
prompt kam. An diesem Mittag hatte Unseld ein Essen gegeben, an dem u.a. außer den<br />
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Freunden von Nelly Sachs noch Lagercrantz, Herausgeber der „Dagens Nyheter“ teilnahm,<br />
und anschließend ging es dann zu dem Empfang der israelischen Botschaft. Was dort angeboten<br />
wurde an Alkohol, kalten Platten usw. entsprach dem Rahmen der Frankfurter Buchmesse.<br />
Ich wurde während dieses Empfangs, wenn ich nicht gerade meinen Wachdienst bei Nelly<br />
Sachs versah, immer wieder von einem Rabbiner in Gespräche über Deutschland verwickelt.<br />
13.12.<br />
An diesem Tag war es mir möglich, eine große Anzahl von Büchern, die ich mit nach Schweden<br />
genommen hatte, von Nelly Sachs signieren zu lassen. Ich freue mich ganz besonders,<br />
daß sie dabei, was bei ihr eine große Seltenheit ist, ein Buch für Sie persönlich signiert hat.<br />
An diesem Tag habe ich dann auch etwas Privatsekretärdienste bei Nelly Sachs verrichtet<br />
und eine Reihe von Briefen gelesen und empfohlen, was mit ihnen geschehen soll. Die Bettelbriefe<br />
und die Wünsche um Äußerungen in bestimmten Dingen reichen ja von einem Extrem<br />
bis zum anderen. Die Inhaberin eines Geschäftes für Schiffsausrüstungen schrieb, daß<br />
ihre Firma Konkursanmelden müsse, wenn Nelly Sachs ihr nicht 100.000 Kronen schicke,<br />
und ein Junge. Lt. Brief 18 Jahre, aus dem Harz, wollte wissen, ob Nelly Sachs es für seine<br />
weitere Entwicklung für gefährlich hielte, wenn er noch Karl-May-Bücher liest. Zwischen<br />
diesen beiden Polen gab es Hunderte von Varianten: Glückwünsche sowohl aus Israel wie<br />
aus Danzig, aus Moskau, aus Polen. Dazu Blumen, Orchideen und Riesenstöße von Glückwunschadressen.<br />
Als ich das sah, habe ich Ihren Brief nicht, wie ich vorhatte, mit einer Rose<br />
übergeben, sondern ihn in eine Kiste mit Sekt, die meine Frau und ich ihr persönlich zu<br />
ihrem 75. Geburtstag schenkten, hineingesteckt. Ich will nicht sagen, daß dieses Geschenk<br />
ihr am meisten Freude gemacht hat, aber, da es der einzige Sekt war, den man ihr aus Anlaß<br />
<strong>des</strong> Nobelpreises überreicht hatte, wurde dieser Karton mit großer Aufmerksamkeit registriert,<br />
und sie hat mich gebeten, Ihnen auch sehr herzlich dafür zu danken, und Weihnachten<br />
würde sie, wenn die Flaschen geöffnet werden, auf unser Wohl trinken.<br />
14.12.<br />
An diesem Tag gab der deutsche Botschafter seinen Empfang. Der Kreis der Besucher war<br />
nicht sehr groß, vielleicht 50 oder 60, darunter u.a. Max Tau, Thomas v. Vegesack, wieder<br />
Olof Lagercrantz. Die Laudatio hielt Walter Jens, sehr gut, indem er auf die politische Situation<br />
von Deutschland einging. Die Gedichte von Nelly Sachs bezeichnete er als ein großes<br />
Geschenk an das deutsche Volk und sagte u.a., man solle Hitler nicht den Triumph gönnen,<br />
eine ewige Feindschaft zwischen Juden und <strong>Deutschen</strong> geschaffen zu haben. Die Resonanz<br />
dieser Worte war sehr stark. Ich wurde von vielen angesprochen. Es hieß, warum Walter Jens<br />
bisher in Deutschland mit keinem Preis ausgezeichnet sei. Auch der Botschafter kam noch<br />
extra zu mir und bezeichnete das als einen Skandal. Doch in Stockholm die Gründe aufzuzeigen,<br />
die dazu führen, daß Jens zwischen den Fronten steht, war nicht möglich, wobei ich<br />
vielleicht auch etwas befangen bin, da ich mit Walter Jens seit 15 Jahren gut bekannt, ja fast<br />
etwas befreundet bin. Mit Max Tau konnte ich auch noch länger sprechen. Er hat mir sehr<br />
herzliche Grüße an Sie aufgetragen und mich direkt beschworen, ich solle ja nicht vergessen,<br />
Ihnen diese Gründe zu bestellen. Dieser Empfang beim deutschen Botschafter war der Abgesang<br />
der festlichen Stockholmer Tage. Gewiß habe ich, wenn ich mit dem Taxi von einem<br />
Gespräch zum anderen fuhr – ich habe ja nicht jede Verabredung und jede Unterhaltung in<br />
diesem Bericht an Sie aufgezeichnet – manchmal geseufzt und es als Strapaze empfunden,<br />
aber jetzt rückblickend kann ich nur wieder sagen: es war ein ganz großes Erlebnis. Zwar<br />
habe ich bewußt vermieden, mich irgendwie nach vorne zu drängen, aber durch viele Gespräche<br />
ist es mir wohl gelungen, den Börsenverein und besonders auch den Stiftungsrat <strong>des</strong><br />
<strong>Friedenspreis</strong>es so zu vertreten, wie es sicherlich auch Ihnen entspricht. Die Zahl der Grüße,<br />
die mir an den Börsenverein, an den Stiftungsrat und auch teilweise an Sie persönlich aufgetragen<br />
wurden, ist sehr zahlreich. Die Tatsache, daß Nelly Sachs ohne den <strong>Friedenspreis</strong> wohl<br />
kaum den Nobelpreis erhalten hätte, wurde mir wiederholt ganz offen gesagt, auch in Gegenwart<br />
von Nelly Sachs. Der deutsche Buchhandel hat mit diesem Preis eine Möglichkeit,<br />
von der die meisten Mitglieder <strong>des</strong> Börsenvereins überhaupt nichts ahnen.<br />
Ihnen möchte ich noch einmal danken, daß Sie mich mit der Aufgabe, den Börsenverein und<br />
den Stiftungsrat <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>es in Stockholm zu vertreten, beauftragt haben.<br />
Ihr<br />
Hans-Heinrich Peters<br />
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Liao <strong>2012</strong><br />
Sansal 2011<br />
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Jaspers 1958<br />
Wilder 1957<br />
Schneider 1956<br />
Hesse 1955<br />
Burckhardt 1954<br />
Buber 1953<br />
Guardini 1952<br />
Schweitzer 1951<br />
Tau 1950
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
Vortrag Vortrag über über den den den <strong>Friedenspreis</strong><br />
<strong>Friedenspreis</strong><br />
Sonnenblumen & Wasserwerfer – Hinter den<br />
Kulissen der <strong>Friedenspreis</strong>verleihung<br />
Das Korsakow-System oder non-lineares Erzählen als Prinzip einer<br />
etwas anderen Vortrags-Form zur Geschichte <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>es<br />
+ + + September 1968: Studenten demonstrieren gegen die Verleihung <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>es an den senegalesischen<br />
Präsidenten Senghor. Die Demonstration endet in Gewalt. Außenminister Willy Brandt flüchtet mit dem Preisträger in<br />
einem Taxi in den Norden Frankfurts. + + + April 1995: Nach der Bekanntgabe, dass Annemarie Schimmel den <strong>Friedenspreis</strong><br />
erhält, wird lautstark Kritik an der Islamwissenschaftlerin geübt, nachdem ein Interview mit ihr im Fernsehen<br />
nicht vollständig wiedergegeben wird und so der Eindruck entsteht, sie würde die Fatwa gegen Salman Rushdie für<br />
richtig halten. + + + September 2001: Terroristen entführen Flugzeuge und verändern mit den Anschlägen auf das<br />
World Trade Center und das Pentagon das Weltgefüge. Die Menschen suchen nach Antworten auf die unfassbaren Terrorakt.<br />
Jürgen Habermas ändert seine <strong>Friedenspreis</strong>rede und versucht ein erstes Erklärungsmodell. + + + Oktober 2003:<br />
Susan Sontag erhält den <strong>Friedenspreis</strong>. Die deutschen Politiker bleiben der Verleihung fern. Liegt es an den gleichzeitigen<br />
Herbstferien oder an der Angst, die guten Beziehungen zu den USA, die bereits durch die Weigerung Deutschlands<br />
leiden, am Irak-Krieg teilzunehmen, noch weiter zu gefährden? + + + Oktober 2008: <strong>Friedenspreis</strong>träger Anselm Kiefer<br />
erläutert seine Faszination an der ästhetischen Wirkung von Gewalt und Zerstörung, von Trümmerhaufen und Völker<br />
trennenden Mauern. Frisch geschrittene Sonnenblumen hingegen sind ihm ein Graus. + + +<br />
Es ist spannend, die Geschichte <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>es im<br />
Spiegel der historischen Ereignisse zu betrachten. Noch<br />
interessanter und erkenntnisreicher kann es werden,<br />
wenn die lineare Abfolge verlassen und zudem neben den<br />
historischen Ereignissen ein Blick hinter die Kulissen<br />
gewagt wird. Mit dem Prinzip <strong>des</strong> Korsakow-Systems<br />
haben wir für den <strong>Friedenspreis</strong> eine Vortragsform übernommen,<br />
bei der das Publikum entscheidet, worüber der<br />
Vortragende spricht. Mit Hilfe von Laser-Pointern wählt es<br />
die Themen aus, kann Fragen stellen oder selbst einen<br />
Beitrag abgeben. Jede Veranstaltung nimmt dadurch einen<br />
anderen Verlauf. Der Vortragende verpflichtet sich dabei,<br />
drei Grundsätze zu beachten: den Grundgedanken <strong>des</strong><br />
<strong>Friedenspreis</strong>es zu vermitteln, das Publikum hinter die<br />
Kulissen <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>es blicken zu lassen und die<br />
durch das Publikum ausgewählten Themen inhaltlich<br />
miteinander zu verbinden, ohne den Weg der Wahrheit zu<br />
verlassen.<br />
Der russische Nervenarzt Sergej Sergejewitsch Korsakow<br />
(1854-1900) ist der Namensgeber <strong>des</strong> beschriebenen<br />
Korsakow-Systems. Nach Korsakow ist zudem eine Form<br />
32<br />
der von ihm diagnostizierten Amnesie benannt, die häufig<br />
bei Alkoholkranken festzustellen ist. Die Beeinträchtigungen<br />
<strong>des</strong> Gedächtnisses führen oft dazu, dass sich Patienten<br />
mit dem Korsakow-Syndrom nicht mehr in ihrer örtlichen<br />
und zeitlichen Umgebung zurechtfinden. Das Korsakow-Institut<br />
für non-lineare Erzählkultur in Berlin, das<br />
von Florian Thalhofer gegründet wurde, hat über diese Art<br />
von Amnesie und ihre Folgen einen Film gedreht und<br />
dafür das übliche Erzählmuster verlassen. Daraus wurde<br />
das Korsakow-System entwickelt, eine Software, mit der<br />
unter anderem Filme produziert werden können, bei denen<br />
die Geschichten nicht vorgegebenen Erzählsträngen<br />
folgen, sondern mit einer neuen Art der Erzählkunst experimentiert<br />
wird.<br />
Der 60-90minütige Vortrag über die Geschichte <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>es<br />
mit dem Titel „Sonnenblumen & Wasserwerfer<br />
- Hinter den Kulissen <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>es“ von Martin<br />
Schult eignet sich für Bibliotheken, Universitäts-Seminare<br />
und alle literarischen und geschichtsbewussten Kreise.<br />
Anfragen für einen Vortrag können an m.schult@boev.de<br />
gerichtet werden.<br />
Die „<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels“<br />
erscheinen mehrmals im Jahr. Die aufgeführten Meldungen und Termine sowie vieles mehr finden Sie auch unter<br />
www.friedenspreis-<strong>des</strong>-deutschen-buchhandels.de. Artikel, Terminhinweise und Anregungen sind herzlich willkommen!<br />
Mit einer Email an m.schult@boev.de können Sie sich für diese <strong>Mitteilungen</strong> an- oder abmelden.<br />
Kontakt:<br />
Börsenverein <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels<br />
Geschäftsstelle <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels – Martin Schult<br />
Schiffbauerdamm 5, 10117 Berlin<br />
Tel. 030/2800 783-44, Fax 030/2800 783-50<br />
Mail: m.schult@boev.de<br />
Internet: www.friedenspreis-<strong>des</strong>-deutschen-buchhandels.de