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Geschichte eines Medienhauses. (2,34 MB) - Ganske Verlagsgruppe

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Michael Jungblut<br />

herausforderungen<br />

und antworten<br />

die ganske<br />

<strong>Verlagsgruppe</strong><br />

geschichte<br />

<strong>eines</strong> <strong>Medienhauses</strong><br />

| Hoffmann und Campe |


1. auflage 2007<br />

copyright © 2007 by<br />

hoffmann und campe Verlag, hamburg


inhalt<br />

erstes kapitel schwarzbrot mit Marmelade 9<br />

Von nieten und Büchern 13<br />

start-up zu kaisers Zeiten 15<br />

es begann vor 300 Jahren 17<br />

altes gewerbe neu organisiert 20<br />

des hauses steuerruder ist ein gutes weib 22<br />

als die Boten immer kleiner wurden 25<br />

ein karren voller geld 28<br />

weniger geld, bessere geschäfte 30<br />

der Junior will groß werden 33<br />

die eroberung der hauptstadt 36<br />

ein Jubiläum ohne glanz und gloria 37<br />

Vorwärts in den abgrund 40<br />

ein solides kartenhaus 44<br />

Mit hut, weste und goldkette 47<br />

aufschwung in den abgrund 50<br />

nützliche packesel des regimes 52<br />

Zweites kapitel Zwei Männer, zwei frauen<br />

und ein geheimer plan 57<br />

politisch nicht zuverlässig 61<br />

kampf der königinnen 66<br />

Verboten, verbrannt, verschleiert 71<br />

gesucht: papier, farbbänder, Manuskripte 75<br />

eine nacht in der hölle 79<br />

Mit hammer, Besen und schaufel 84<br />

der geheimplan 90<br />

ein hauch von Merian 93<br />

Zwei schreibmaschinen für den »endsieg« 97


drittes kapitel der letzte gibt den schlüssel ab 107<br />

60 stunden und noch mehr 111<br />

am ende den anfang bedenken 113<br />

die wände stehen noch 116<br />

noch einmal davongekommen 118<br />

erst kommt das fressen … 124<br />

der tag, an dem das neue geld kam 128<br />

kleine Münzen, großer gewinn 130<br />

in der Mappe zum erfolg 136<br />

abschied vom gründer 141<br />

Viertes kapitel das goldige Bild der welt 145<br />

Die Stimme der Frau: Für Sie 149<br />

Mit Merian die welt entdecken 151<br />

Viel holz vor der hütte 155<br />

Bericht aus einem unbekannten land 162<br />

das goldene Blatt der stars 164<br />

Missratene tochter aus gutem haus 174<br />

auf der suche nach dem richtigen styling 177<br />

etwas Zeitgeist Für Sie 179<br />

ausstieg vor dem einstieg 183<br />

fünftes kapitel der feind im wohnzimmer 189<br />

wieder ein neuanfang 194<br />

die dritte front 197<br />

treue soll belohnt werden 199<br />

Bücher, platten, spiele 202<br />

der Mann mit den goldenen stiften 205<br />

lesen statt kochen 209<br />

wenn der kassettenmann kommt 211<br />

wiederentdeckung <strong>eines</strong> erfolgsmodells 213<br />

das restaurant im kühlschrank 214<br />

weder arm noch alt noch ungebildet 217<br />

sechstes kapitel sein längster tag 223<br />

auf Bestseller abonniert 230<br />

sinnlich und selbstbewusst 235<br />

ideen rund um haus und garten 238<br />

schöner wohnen – selbstgemacht 243


Man reist nicht nur, um anzukommen 245<br />

Besuch bei den rheinischen katholiken 250<br />

der unbekannte auf dem flur 252<br />

»da muss er jetzt durch« 257<br />

siebentes kapitel 100 Jahre und kein bisschen müde 265<br />

als die Mauer fiel 269<br />

Zurück auf anfang 271<br />

gute kunden muss man pflegen 272<br />

die firma bekommt etwas zurück 277<br />

achtes kapitel Mit tempo in neue dimensionen 283<br />

Zeit des umbaus 288<br />

Zeit des ausbaus 293<br />

Viel Zeitgeist, wenig Zeitgefühl 297<br />

Von fehlern leben 298<br />

Mit preiswerten Büchern akzente setzen 304<br />

kein wirklich schönes wochenende 309<br />

durststrecke inklusive 312<br />

neuntes kapitel die türen öffnen sich 317<br />

gemeinsam sind wir stärker 323<br />

die geheimen Millionäre 331<br />

spielwiese für kreative 339<br />

gut, wenn man von Marketing keine ahnung hat <strong>34</strong>3<br />

Bücher für genießer <strong>34</strong>6<br />

hausverbot für den frevler <strong>34</strong>9<br />

erfolg an der langen leine 355<br />

ungleiche schwestern 359<br />

die hamburger prinzen-garde 360<br />

lifestyle kombiniert mit nutzwert 363<br />

ein wort zum schluss 367<br />

nachbemerkung 371<br />

personenregister 372


erstes kapitel<br />

schwarZBrot Mit<br />

MarMelade


w er eine erzählung von siegfried lenz liest, den katalog<br />

von Mail:order:kaiser nach günstigen Buchangeboten<br />

durchstöbert, auf der suche nach den besten restaurants mit<br />

dem Feinschmecker-guide in der hand durch München oder<br />

frankfurt streift oder im Prinz nachsieht, wo in köln, Berlin<br />

und anderen deutschen Metropolen »der Bär tobt«, sieht vermutlich<br />

keinerlei Zusammenhang zwischen diesen höchst unterschiedlichen<br />

Medienangeboten. wer beim arzt oder friseur<br />

in einer der dort ausliegenden lesemappen petra oder Vital<br />

durchblättert, kommt wohl kaum auf den gedanken, dass es<br />

außer den heftklammern noch eine andere Verbindung zwischen<br />

den Magazinen und ihrem blauen umschlag geben<br />

könnte. und was sollte das hotel hohenhaus bei herleshausen<br />

mit dem BMW Magazin oder dem Verlag gräfe und unzer zu<br />

tun haben? auch zwischen ipublish, einem Münchner unternehmen,<br />

das sich der entwicklung innovativer navigationssysteme<br />

verschrieben hat, dem renommierten hamburger Verlag<br />

hoffmann und campe und dem leserkreis daheim wird kaum<br />

jemand eine Verbindung vermuten.<br />

und in die moderne Medienwelt scheint erst recht kein<br />

werftarbeiter aus kiel zu passen, der zu Beginn des vorigen<br />

Jahrhunderts mit dem niethammer in der hand das Brot für<br />

frau und kinder verdiente.<br />

es ist noch gar nicht so lange her, dass selbst innerhalb der<br />

unternehmensgruppe nur wenige Mitarbeiter wussten, dass<br />

der bundesweit vertretene leserkreis daheim, der hamburger<br />

Jahreszeiten Verlag, das szeneblatt Prinz, der Münchner rat-<br />

11


geberverlag gräfe und unzer, der spezialbuchversand frölich<br />

& kaufmann in Berlin oder der rhenania BuchVersand unter<br />

einem gemeinsamen dach zu hause sind. denn als Mitglieder<br />

der ganske <strong>Verlagsgruppe</strong> treten diese und eine reihe anderer<br />

unternehmen erst seit Juni 2001 gemeinsam auf.<br />

wann, wie und wo der grundstein für das komplexe unternehmensgebäude<br />

gelegt wurde, in dem heute zwei attraktive<br />

töchter leben, die deutlich älter sind als die Mutter, war daher<br />

lange Zeit nur wenigen insidern bekannt. und selbst die wussten<br />

kaum etwas über die ursprünge der Mediengruppe, deren<br />

Zentrale – von außen kaum als solche erkennbar – in einer mit<br />

türmchen und erkern verzierten gründerzeitvilla an der hamburger<br />

außenalster residiert. die anfänge des 1907 gegründeten<br />

unternehmens lagen bisher weitgehend im dunkeln – auch<br />

als folge der deutschen geschichte.<br />

Zeitzeugen leben nicht mehr. die geschäftsunterlagen aus<br />

den ersten Jahrzehnten sind im krieg verlorengegangen, nur<br />

wenige Bilder, Briefe und andere dokumente sind erhalten geblieben.<br />

auch durch hörensagen ist über die gründerjahre<br />

kaum etwas bekannt. die enkelkinder haben richard ganske,<br />

den gründer, zwar noch als gütigen alten herrn und »Bilderbuch-großvater«<br />

kennen- und lieben gelernt. thomas ganske,<br />

der heutige chef der gruppe, glaubt sogar zu wissen, dass sein<br />

großvater richard »im herzen ein echter sozialdemokrat« war.<br />

er meint auch, dass sein großvater allein wohl nicht auf den<br />

gedanken gekommen wäre, sein unternehmen über die grenzen<br />

von kiel auszudehnen. aber die enkel waren noch zu jung,<br />

um den alten herrn über die existenzgründung, seine geschäftsideen,<br />

seine erfolge und niederlagen ausfragen zu können.<br />

selbst aus den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts<br />

existiert in den unternehmensarchiven nur noch<br />

wenig schriftliches. was nicht im krieg den flammen zum opfer<br />

fiel, wurde später als folge <strong>eines</strong> rohrbruchs durch wasser<br />

zerstört.<br />

12


dass heute so wenig über die frühgeschichte des unternehmens<br />

bekannt ist, liegt aber auch an der unzuverlässigkeit<br />

<strong>eines</strong> herrn dr. carlsson, der sich im november 1942, als alle<br />

dokumente und Zeitzeugen noch greifbar waren, vertraglich<br />

verpflichtet hatte, eine geschichte der Branche und des unternehmens<br />

zu papier zu bringen. doch abgesehen von der unterschrift<br />

unter den autorenvertrag floss bis kriegsende keine<br />

einzige Zeile aus seiner feder. auch bei der einhaltung von<br />

Besprechungsterminen, der Vermittlung von kontakten und<br />

selbst bei der korrekten Übermittlung wichtiger adressen erwies<br />

sich carlsson als äußerst unzuverlässig. so war niemand<br />

wirklich erstaunt, als zu dem für anfang Januar 1944 vereinbarten<br />

abgabetermin noch keine einzige seite vorlag. der Ärger<br />

darüber dürfte sich allerdings schon wenig später in erleichterung<br />

verwandelt haben; denn 1945 wurde in einer aktennotiz<br />

festgehalten, dass »dr. carlsson als pg. [parteigenosse] und angestellter<br />

der reichspressekammer für die herausgabe […]<br />

nicht mehr tragbar ist«. neben dem Buch musste allerdings<br />

auch der für die damalige Zeit recht ansehnliche Vorschuss<br />

von 3000 reichsmark als verloren abgeschrieben werden. Verloren<br />

für die nachwelt sind dadurch jedoch auch viele daten,<br />

fakten und persönliche erinnerungen aus den gründerjahren,<br />

die dem saumseligen autor damals noch reichlich zur Verfügung<br />

gestanden hätten.<br />

Von nieten und Büchern<br />

aber immerhin, so viel lässt sich nachweisen: der am 16. dezember<br />

1876 als sohn <strong>eines</strong> schmiedes in nienburg an der<br />

saale geborene richard ganske zog im Januar 1903 gleich<br />

nach der hochzeit mit seiner frau anna auf der suche nach<br />

arbeit von thüringen an die ostseeküste. das junge paar ließ<br />

sich zunächst in pries nieder, einem späteren Vorort von kiel.<br />

dort gab es für jemand, der mit eisen und stahl umzuge-<br />

13


hen verstand, reichlich arbeit. kaiser wilhelm hatte kiel zum<br />

»reichskriegshafen« ernannt und ließ an der ostseeküste einen<br />

großen teil der kreuzer und schlachtschiffe bauen, mit<br />

deren hilfe er seinem reich die heißersehnte »weltgeltung«<br />

und einen »platz an der sonne« zu verschaffen hoffte.<br />

doch richard konnte nicht nur mit dem niethammer umgehen.<br />

er nahm zum erstaunen seiner kollegen auch Bücher<br />

in die hand. er begeisterte sich für Mathematik und war gern<br />

bereit, sein wissen über algebra an interessierte kollegen weiterzugeben.<br />

die schulbildung von arbeiterkindern war damals<br />

bescheiden. wer aber auf der werft nicht zeitlebens als handlanger<br />

schuften mochte, sondern weiterkommen wollte, musste<br />

mit Zahlen umgehen und mehr als nur seinen namen schreiben<br />

können. um beruflich voranzukommen und seinen Bildungshunger<br />

zu stillen, brauchte man Zeitschriften und Bücher.<br />

die aber waren damals für einen gewöhnlichen arbeiter<br />

fast unerschwinglich teuer. kollege richard war gern bereit,<br />

seine Bücher und Zeitschriften zu verleihen. als immer mehr<br />

daran interesse zeigten, erhob er eine kleine gebühr dafür.<br />

sie erlaubte es ihm, weiteren lesestoff anzuschaffen.<br />

seine arbeitskollegen nutzten offenbar immer öfter die gelegenheit,<br />

leihweise unterhaltendes und rat gebende lektüre<br />

für sich und ihre familien nach hause zu bringen. so konnten<br />

sie ihre frauen und kinder mit begehrten Blättern wie der<br />

Gartenlaube oder Reclams Universum, dem Häuslichen Ratgeber<br />

oder Dies Blatt gehört der Hausfrau und anderen postillen für<br />

gesundheit, garten und haushalt versorgen. sie waren froh,<br />

dass sie diese Zeitschriften bei ihrem kollegen richard gegen<br />

ein geringes entgelt für eine gewisse Zeit ausleihen konnten.<br />

den meisten machte es auch nichts aus, wenn sie ein Journal<br />

erst drei oder auch fünf wochen nach erscheinen bekamen.<br />

hauptsache, es kostete nicht so viel. aktualität spielte damals<br />

noch keine große rolle. die tipps zur gesundheits- und körperpflege,<br />

die rezepte zur preiswerten und bekömmlichen<br />

14


ernährung der in jener Zeit meist vielköpfigen familien oder<br />

die herzergreifenden erzählungen einer hedwig courths-Mahler<br />

waren auch ein paar wochen nach erscheinen noch so<br />

nützlich oder rührend wie am ersten tag.<br />

wer anfang des vorigen Jahrhunderts nach ablenkung, information<br />

und Bildung suchte, brauchte das gedruckte wort.<br />

andere Medien gab es noch nicht. offenbar war der lesehunger<br />

bei vielen werftarbeitern so groß, dass sich aus dem<br />

kollegialen Verleih schrittweise ein kleiner nebenverdienst entwickelte.<br />

richard ganske muss bald dahintergekommen sein,<br />

wie man sich die Bücher und Zeitschriften zu günstigen preisen<br />

auch direkt bei den Verlagen besorgen konnte. wer größere<br />

stückzahlen abnahm, erhielt rabatt. da blieb auch für<br />

den Verleiher etwas übrig – besonders dann, wenn die Blätter<br />

anschließend mehrfach ausgeliehen wurden.<br />

start-up zu kaisers Zeiten<br />

was als liebhaberei begonnen hatte, rechnete sich nun für<br />

richard ganske. das interesse für Zahlen erleichterte es ihm,<br />

aus dem kollegialen Verleih ein florierendes gewerbe zu entwickeln.<br />

er führte akkurat Buch über ausgaben und einnahmen<br />

und wusste auf diese weise immer, an wen er seine Zeitschriften<br />

und Bücher verliehen hatte, wann sie zurückkamen und an den<br />

nächsten kollegen weitergegeben werden konnten. er kalkulierte<br />

genau, wie viel er in der ersten oder fünften woche jeweils<br />

dafür bekommen musste, damit nach abzug aller kosten<br />

am ende auch für ihn noch etwas übrigblieb. es war offenbar<br />

so viel, dass er bereits vier Jahre nach seiner ankunft in kiel<br />

den niethammer aus der hand legte und es riskierte, sich ganz<br />

auf den handel mit Büchern und Zeitschriften zu verlegen.<br />

1907 tat er den entscheidenden schritt vom Verleiher im nebenerwerb<br />

zum selbständigen unternehmer: er gründete eine<br />

Buchhandlung und den »lesezirkel daheim richard ganske«.<br />

15


in den archiven der stadt kiel ist darüber heute nichts<br />

mehr zu finden. im adressbuch der stadt erscheint der name<br />

ganske erst im Jahr 1908. aus dem gleichen Jahr stammen zwei<br />

Zeilen im »adressbuch des deutschen Buchhandels«: »ganske,<br />

rich., kiel, wilhelminenstr. 49, Buchh.« sie belegen, dass die<br />

firma zu diesem Zeitpunkt schon existierte. aber ein eintrag<br />

im handelsregister der stadt kiel ist für die Jahre 1907 und<br />

1908 weder unter dem namen richard ganske noch unter<br />

dem stichwort lesezirkel oder Buchhandel enthalten. auch in<br />

den archiven anderer städte konnte die wirtschaftshistorikerin<br />

kristina Vogt bei ihren recherchen nur wenige spuren finden,<br />

die auf die regen aktivitäten richard ganskes und später<br />

s<strong>eines</strong> sohnes kurt in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts<br />

hindeuten. und obwohl der sitz des bis dahin schon<br />

stark gewachsenen unternehmens 1926 nach hannover verlegt<br />

wurde, lässt sich auch dort erst unter dem 10. november<br />

1930 ein eintrag im handelsregister finden.<br />

doch was auch immer der grund für die verspätete amtliche<br />

wahrnehmung sein mag – um ein geisterunternehmen<br />

handelte es sich gewiss nicht. denn der »lesezirkel daheim<br />

richard ganske« begann tatsächlich am 1. april 1907 damit,<br />

gewerbsmäßig fortzuführen, was der werftarbeiter zuvor schon<br />

als nebenerwerb betrieben hatte: lesestoff an einen festen Bezieherkreis<br />

gegen eine weit unter dem einzelverkaufspreis liegende<br />

gebühr im wochen-rhythmus zu verleihen. der 1. april<br />

1907 gilt daher auch als das offizielle gründungsdatum der<br />

heutigen ganske <strong>Verlagsgruppe</strong>, die 100 Jahre später in der dritten<br />

generation von thomas ganske, einem der enkel des zum<br />

unternehmer avancierten arbeiters, geführt wird.<br />

es ist nicht überliefert, ob richard ganske nach der unternehmensgründung<br />

noch für einige Zeit seinem arbeitsplatz<br />

auf der werft treu blieb, ehe er sich ganz auf den Buchhandel<br />

und den Zeitschriftenverleih konzentrierte. denn obwohl der<br />

kundenstamm rasch wuchs, war es anfänglich sicher nicht ein-<br />

16


fach, mit dem ertrag des Verleihgeschäfts eine familie zu ernähren.<br />

1904 war käthe, die erste tochter, zur welt gekommen<br />

und ein Jahr später, am 14. Januar 1905, sein sohn kurt.<br />

als schließlich 1912 mit hilde noch ein drittes kind folgte,<br />

stand der Betrieb schon auf festerem fundament. wie hart<br />

aber die ersten Jahre gewesen sein müssen, lässt eine Bemerkung<br />

ahnen, die richard ganske ende der fünfziger Jahre gegenüber<br />

werner hess, dem damaligen assistenten s<strong>eines</strong> sohnes,<br />

machte: »Meine frau und ich haben uns damals vor allem<br />

von schwarzbrot mit der billigsten Marmelade ernährt, die im<br />

konsum-laden zu finden war.« ehe geld für private Zwecke<br />

ausgegeben werden konnte, musste erst einmal die Miete für<br />

den laden bezahlt und der kauf von Büchern und Zeitschriften<br />

finanziert werden.<br />

dass der lesezirkel zunächst aus einer Buchhandlung heraus<br />

das Verleihgeschäft aufnahm, war k<strong>eines</strong>wegs ungewöhnlich.<br />

angesichts der niedrigen einkommen und hohen Buchpreise<br />

verkauften die meisten Buchhandlungen damals nicht<br />

nur periodika und Bücher, sondern betrieben zusätzlich noch<br />

einen Verleih. Bücher erschienen meist in kleinen auflagen<br />

und wurden handwerklich gefertigt. ihre distribution kostete<br />

viel geld, und die lagerhaltung band kapital. entsprechend<br />

hoch waren die preise. nur gutbetuchte konnten es sich leisten,<br />

Bücher zu kaufen und dann als Zeichen ihres wohlstands<br />

ins regal zu stellen. in den ärmeren schichten der Bevölkerung<br />

gingen die Bücher und Zeitschriften hingegen von hand<br />

zu hand.<br />

es begann vor 300 Jahren<br />

die idee, für die Verbreitung von Zeitungen und Zeitschriften<br />

lesegesellschaften oder lesezirkel zu gründen, war im damaligen<br />

deutschen kaiserreich nicht neu. im gegenteil. das gemeinschaftliche<br />

lesen hatte bereits eine lange tradition. der<br />

17


erste urkundlich erwähnte leserkreis existierte um 1610 im<br />

bayerischen kitzingen. Bei recherchen des hoffmann und<br />

campe Verlags anfang der vierziger Jahre wurden urkunden<br />

entdeckt, die aus den Jahren 1611 und 1618 stammen und sich<br />

auf lesezirkel in würzburg und leipzig beziehen. doch schon<br />

vorher hatten sich vermutlich an manchen orten angehörige<br />

der gebildeten stände zusammengetan, um den Bezug von Zeitungen<br />

gemeinschaftlich zu organisieren und zu finanzieren.<br />

Zunächst waren es handschriftliche Mitteilungsblätter, die gemeinsam<br />

bezogen wurden. der Beitritt zu einer lesegemeinschaft<br />

war ursprünglich ein luxus, den sich nur des lesens<br />

mächtige Besserverdiener erlauben konnten. in kitzingen hatte<br />

die lesegemeinschaft 17 Mitglieder, darunter sechs ratsherren,<br />

drei geistliche, zwei advokaten, den klosterverwalter und den<br />

stadtschreiber. sie bezogen gemeinsam handgeschriebene Zeitungen<br />

aus nürnberg, frankfurt und wien, um sich darüber<br />

zu informieren, was in der damals bekannten welt geschah.<br />

Von einem wohl wenig später entstandenen Journal-lesezirkel<br />

in süddeutschland weiß man, dass jedes Mitglied die neu eingetroffenen<br />

Zeitungen höchstens eine stunde behalten durfte,<br />

damit sie möglichst vielen interessenten zugänglich gemacht<br />

werden konnten.<br />

Bis ins 18. Jahrhundert breiteten sich die Zeitungs-lesezirkel<br />

immer weiter aus. auch die organisation machte fortschritte.<br />

die Blätter wurden nicht mehr von Mitglied zu Mitglied weitergereicht,<br />

sondern von Boten gebracht und wieder abgeholt. es<br />

gab festgelegte lesezeiten, die nicht überschritten werden<br />

durften und meist recht kurz bemessen waren. anders als dies<br />

später der fall war, wurde das Blatt aber nicht mit jeder weiteren<br />

ausleihung billiger. alle Mitglieder zahlten den gleichen<br />

preis; die Belieferung erfolgte in der reihenfolge des Beitritts<br />

zur lesergemeinschaft. Ähnlich wie bei den getreidemühlen<br />

galt das prinzip: »wer zuerst kommt, mahlt zuerst.« auch der<br />

Buchhändler august campe hatte im Jahr 1802 ein lesekabi-<br />

18


nett eröffnet, dessen angebot an periodischen schriften nach<br />

zeitgenössischen Berichten alle anderen einrichtungen dieser<br />

art in der hansestadt bei weitem übertraf. dass der »lesezirkel<br />

daheim richard ganske« und der Verlag hoffmann und<br />

campe fast 140 Jahre danach zusammentreffen würden, stand<br />

damals noch in den sternen.<br />

Zwischen 1800 und 1850 verdreifachte sich die Zahl der<br />

leih- und leseinstitute, wie einschlägige untersuchungen aus<br />

jener Zeit belegen. ob durch Boten zugestellt, in Buchhandlungen<br />

zur abholung bereitgelegt oder in Bibliotheken zur<br />

lektüre ausliegend, waren die Blätter immer einer Vielzahl<br />

von lesern zugänglich. sie wanderten oft monatelang von<br />

hand zu hand. angesichts der hohen preise für Zeitungen<br />

und Zeitschriften spielten einzelkäufer gegenüber dem gemeinschaftsbezug<br />

und der ausleihe lange Zeit kaum eine rolle.<br />

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schossen im damaligen kaiserreich<br />

lesezirkel und ähnliche einrichtungen wie pilze aus dem<br />

Boden. untersuchungen kamen zu dem ergebnis, dass es um<br />

die Jahrhundertwende in deutschland etwa 1200 lesezirkel<br />

gab. in vielen fällen handelte es sich dabei um Buchhändler,<br />

die lesemappen anboten. Meistens wurden sie nach den persönlichen<br />

wünschen der kunden zusammengestellt.<br />

an diese tradition knüpften auch die eigenständigen lesezirkel<br />

an, die neben dem Buchhandel entstanden. sie legten<br />

ihren kunden eine liste von Zeitschriften vor, aus denen die<br />

abonnenten die titel auswählen konnten, die sie wöchentlich<br />

beziehen wollten. die so zusammengestellten Mappen enthielten<br />

zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der regel sieben bis<br />

zwölf Zeitschriften und wurden zu preisen ab 20 pfennig verliehen,<br />

wie aus einer 1969 erschienenen untersuchung des<br />

Verbandes deutscher lesezirkel hervorgeht.<br />

als richard ganske 1907 sein unternehmen gründete, war<br />

er in seiner region k<strong>eines</strong>wegs konkurrenzlos. es gab um diese<br />

Zeit allein in hamburg 25 lesezirkel. auch in kiel und dessen<br />

19


umland traf ganske auf wettbewerber. so hatte detlev krumbeck,<br />

dessen nachfolger den familienbetrieb bis heute führen,<br />

schon 1901 in altona einen lesezirkel gegründet und sein liefergebiet<br />

schrittweise auf schleswig-holstein ausgedehnt. die<br />

weit überwiegende Zahl dieser lesezirkel bestand allerdings<br />

aus nebenerwerbsbetrieben oder anhängseln von Buchhandlungen.<br />

auch bei den krumbecks reichte der ertrag anfänglich<br />

nicht aus, um damit die familie zu ernähren. deshalb wurden<br />

neben Zeitschriften auch noch eier und anderes an der<br />

haustür verkauft.<br />

altes gewerbe neu organisiert<br />

war auch die geschäftsidee nicht neu, so unterschied sich doch<br />

die art und weise, in der richard ganske sein gewerbe organisierte,<br />

von anfang an wesentlich von den Methoden der meisten<br />

wettbewerber. er betrieb das geschäft nicht nebenher,<br />

sondern nutzte sein mathematisch geschultes denken, um<br />

eine akkurat geführte kundenkartei aufzubauen, das lager zu<br />

organisieren und die wege zu den kunden zu planen. er teilte<br />

die stadt in Zustellbezirke ein und bemühte sich, optimale strecken<br />

für die Boten festzulegen. sie sollten auf dem kürzesten<br />

weg zu ihren jeweiligen kunden gelangen – sei es zu fuß, mit<br />

dem handkarren oder hoch im sattel der sogenannten Bäckerfahrräder,<br />

mit denen damals nicht nur frische Brötchen<br />

durch die stadt gefahren wurden. es handelte sich dabei um<br />

dreirädrige Vehikel, an denen vor dem lenker ein großer<br />

Blechkasten mit deckel montiert war, in dem die waren verstaut<br />

und so auch vor regen oder schnee geschützt wurden.<br />

entscheidend für den erfolg aber war, was in den Blechkisten<br />

zu den kunden gebracht wurde. in einer Mitteilung zum<br />

50-jährigen Jubiläum wurde 1957 an die devise des gründers<br />

erinnert: »die lesemappe muss alle kreise der Bevölkerung<br />

ansprechen – den akademiker genauso wie den arbeiter.«<br />

20


ichard ganske machte sich immer wieder gedanken darüber,<br />

wie er dieses selbstgesteckte Ziel am besten würde erreichen<br />

können. was war für die wahlmappe geeignet und beschaffbar?<br />

welche Zeitschriften sollte die feste Mappe enthalten, um<br />

für möglichst viele abonnenten attraktiv zu sein?<br />

aus betriebswirtschaftlicher sicht musste er versuchen, möglichst<br />

viele kunden von den Vorteilen einer festen Mappe zu<br />

überzeugen. das ersparte nicht nur ein ständiges umsortieren<br />

der Blätter und vereinfachte die führung der kundenkartei.<br />

es ermöglichte auch den Bezug größerer stückzahlen bei den<br />

Verlagen und brachte dadurch höhere rabatte. es kam also<br />

darauf an, eine auswahl an Journalen zusammenzustellen,<br />

die möglichst vielen lesern zusagte – den ehemaligen kollegen<br />

auf der werft und ihren frauen ebenso wie dem Bäcker<br />

und dem schuster, dem lehrer und dem schreiber in einer<br />

amtsstube. dass er dabei erfolgreich war und die feste Mappe<br />

zur tragenden säule s<strong>eines</strong> lesezirkels machte, unterschied<br />

richard ganske nicht nur von der Mehrzahl der anderen anbieter.<br />

es bedeutete auch, dass er auf diese art viel wirtschaftlicher<br />

arbeiten konnte.<br />

um auch anspruchsvolle leser oder bestimmte interessentengruppen<br />

zu erreichen, mussten neben der standardmappe<br />

zusätzlich wahlmappen angeboten werden. statt dafür wie die<br />

meisten seiner konkurrenten eine feste liste vorzugeben, ging<br />

ganske hier ebenfalls einen etwas anderen weg. er versprach,<br />

»sämtliche in- und ausländischen Zeitschriften, geschenkwerke,<br />

kunstblätter, fachzeitschriften und Modejournale« zu liefern,<br />

wie es im Briefkopf seiner firma zu lesen war. das kostete<br />

zwar mehr als die feste Mappe, war aber damals wie heute für<br />

die kunden deutlich günstiger als ein kauf der titel beim<br />

Buchhändler oder am kiosk.<br />

an vielen orten wetteiferten mehrere lesezirkel um die<br />

gunst der kunden. in hamburg gab es zum Beispiel 1908<br />

nicht weniger als 25 lesezirkel, die pro woche immerhin<br />

21


48 000 Zeitschriften von den Verlagen bezogen, um sie anschließend<br />

kaskadenartig an ihre kundschaft zu verteilen. 1911<br />

wurden in leipzig 15 lesezirkel gezählt. der wettbewerb spielte<br />

sich dabei auf mehreren ebenen ab. neben der auswahl der<br />

titel unterschieden sich die Zirkel durch den preis für den<br />

erstbezug und die ermäßigung, die bei jeder weiteren woche<br />

nach erscheinen gewährt wurde, sowie durch die anzahl der<br />

Blätter, die jeweils bezogen werden konnten oder mussten.<br />

Vor allem über die Mindestgebühren, die die einzelnen anbieter<br />

für ihre Mappen verlangten, kam es zwischen konkurrierenden<br />

Betrieben häufig zu heftigen streitereien, die auch<br />

dann nicht endeten, als 1908 ein »Verband der Besitzer deutscher<br />

lesezirkel« gegründet wurde. obwohl es immer wieder<br />

Versuche gab, den wettbewerb »in geregelte Bahnen zu lenken«<br />

und neben den Bezugspreisen auch die löhne der Boten<br />

und die provisionen für werber zu vereinheitlichen oder die<br />

Zahl der lieferbaren hefte zu begrenzen, scheiterten selbst regionale<br />

kartellabsprachen meist schon nach kurzer Zeit wieder.<br />

1912 klagte der Verbandsvorstand, dass »das gegenseitige<br />

abjagen von kunden« an der tagesordnung sei. dabei würden<br />

»die unlautersten Mittel angewandt: Mehrlieferung von heften,<br />

rabattgewährung, zu niedrige leihgebühren und dgl.«.<br />

des hauses steuerruder ist ein gutes weib<br />

das änderte sich erst ende der dreißiger Jahre. in der staatlich<br />

gelenkten wirtschaft des »dritten reiches« war »wildwuchs«<br />

unerwünscht. 1937 wurde von der reichspressekammer exakt<br />

vorgeschrieben, wie viele Zeitschriften pro woche in wahl-<br />

und festmappen mindestens und höchstens enthalten sein<br />

mussten beziehungsweise durften und welche rabattstaffeln<br />

einzuhalten waren. so mussten die Bezieher fester Mappen,<br />

die ihre Blätter direkt nach erscheinen bekamen, mindestens<br />

45 prozent des regulären heftpreises bezahlen, bei wahlmap-<br />

22


pen durften 75 prozent des ladenpreises nicht unterschritten<br />

werden. nach einer woche sank der Mindestsatz auf 36 und<br />

50 prozent; ab der 13. woche durften nicht weniger als 8 beziehungsweise<br />

15 prozent des einzelverkaufspreises in rechnung<br />

gestellt werden.<br />

die auswahl der titel, die richard ganske in seine aus hartpappe<br />

angefertigten Mappen legen ließ, war auch damals nicht<br />

einfach. in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wuchs<br />

die Zahl der titel von Jahr zu Jahr. 1907, im gründungsjahr<br />

des lesezirkels, buhlten allein im Bereich Mode, hauswirtschaft<br />

und gesundheit schon mehr als 160 Blätter um die<br />

gunst ihrer meist weiblichen leserschaft, und jedes Jahr kamen<br />

neue titel hinzu. ratgeber in sachen hauswirtschaft<br />

spielten eine große rolle, da die Zeit der fertig verpackten nahrungsmittel<br />

und <strong>eines</strong> ganzjährig reichhaltigen angebots an<br />

obst und gemüse noch lange nicht angebrochen war. wer für<br />

den winter vorsorgen wollte, musste gemüse einwecken, kartoffeln<br />

einlagern, obst trocknen oder zu konfitüre verarbeiten.<br />

die gewöhnliche hausfrau nähte einen großen teil der<br />

Bekleidung oder der Bettwäsche damals noch selbst zu hause,<br />

sie strickte strümpfe und pullover für die ganze familie, wusch<br />

alles per hand, stärkte die hemden des Mannes, stopfte und<br />

flickte die socken und hosen der kinder. schließlich mussten<br />

kleider, Mäntel, Matrosenanzüge oder schuhe später auch von<br />

den kleineren geschwistern noch getragen werden.<br />

da war guter rat in sachen kochen und Backen, nähen<br />

und stricken, putzen und flicken gefragt. das galt auch für<br />

die gartenarbeit, die kleintierhaltung oder die häusliche<br />

krankenpflege. die leserinnen wollten nicht nur wissen, was<br />

bei husten und heiserkeit hilft, sie waren auch an Mittelchen<br />

gegen fußschweiß oder asthma interessiert, wie nicht nur die<br />

artikel, sondern auch die heute skurril anmutenden anzeigen<br />

in den damaligen Blättern belegen. dass sich nutzwertjournalismus<br />

damals mindestens so gut wie heute verkaufen ließ, geht<br />

23


schon aus den titeln oder untertiteln der zeitgenössischen<br />

postillen hervor: Der Hausfreund und Häuslicher Ratgeber hießen<br />

sie oder verkündeten Dies Blatt gehört der Hausfrau. Zum kreis<br />

der familienzeitschriften zählten aber auch Welt und Haus, Die<br />

Deutsche Romanzeitung oder Das Deutsche Familienblatt. andere<br />

versuchten den leserinnen mit untertiteln wie »des hauses<br />

steuerruder ist ein gutes weib« zu schmeicheln. aber auch humor<br />

und satire waren durchaus gefragt, wie die titel Simplicissimus<br />

und Kladderadatsch oder Lustige Blätter zeigen. periodika<br />

wie Filmwelt, Die Dame oder Elegante Welt lassen leicht erkennen,<br />

welche Zielgruppe ihre Verleger im auge hatten. ein beschaulicher<br />

titel wie Die Gartenlaube signalisierte, dass dieses Blatt<br />

seine geneigten leser vor allem mit Berichten aus der heilen<br />

welt beglücken wollte. es pflegte den patriotismus, unterhielt<br />

mit novellen und besinnlichen gedichten und erteilte gern<br />

ratschläge für den guten ton in allen lebenslagen.<br />

die Mappen enthielten im durchschnitt sieben bis zehn dieser<br />

Blätter und wurden zu preisen ab 20 pfennig verliehen. allerdings<br />

waren sie dann schon einige wochen alt. wenn es sich<br />

um auswahlmappen handelte, deren Zusammenstellung die<br />

Bezieher selbst bestimmen konnten, kostete ein Blatt wie die<br />

Berliner Illustrirte Zeitung 15 pfennig, wenn es direkt nach erscheinen<br />

geliefert wurde, und 3 pfennig, wenn es erst zehn wochen<br />

danach ins haus kam. der Simplicissimus war zu preisen<br />

zwischen 24 und 5 pfennig zu haben.<br />

Mit den titeln, die richard ganske aus dem breiten angebot<br />

auswählte, traf er offenbar den geschmack und die Bedürfnisse<br />

seiner Zeitgenossen recht genau, wie die rasch wachsende<br />

kundenzahl zeigte. in den ersten fünf Jahren nach der<br />

unternehmensgründung überzeugten er und seine werber<br />

gut 2000 kunden von den Vorteilen der Zeitschriftenleihe.<br />

das ist eine Zahl, die man erst dann richtig würdigen kann,<br />

wenn man weiß, dass die große Mehrzahl seiner konkurrenten<br />

mit wesentlich weniger abonnenten immer noch ganz gut über<br />

24


die runden kam. 1913 wagte sich ganske sogar an die eröffnung<br />

einer filiale in hannover, von der aus er schon bald 600<br />

kunden belieferte. warum er die fast 300 kilometer entfernte<br />

niedersächsische Metropole wählte, lässt sich nur vermuten.<br />

wahrscheinlich war es die zentrale lage der stadt im deutschen<br />

reich. sollten schon seinerzeit pläne bestanden haben,<br />

aus dem regional tätigen ein national agierendes unternehmen<br />

zu machen, war das angesichts der damaligen kommunikationsmöglichkeiten<br />

und Verkehrsverbindungen von kiel aus<br />

nur schwer möglich. Von hannover aus konnte man dagegen<br />

wie die spinne im netz agieren.<br />

als die Boten immer kleiner wurden<br />

doch statt aufbau stand erst einmal Zerstörung auf dem spielplan<br />

der weltgeschichte. anfang august 1914, wenige wochen<br />

nach Beginn des ersten weltkrieges, wurde richard ganske,<br />

37 Jahre alt, eingezogen und musste die folgenden vier Jahre<br />

dem kaiser als soldat dienen. anna ganske war wie so viele<br />

andere frauen von unternehmern, handwerkern oder einzelhändlern<br />

von heute auf morgen auf sich allein gestellt. sie<br />

musste nun die firma führen – so gut es eben ging. Überall in<br />

den Betrieben mussten sich frauen an die arbeitsplätze stellen,<br />

die von den Männern verlassen worden waren, um auf das<br />

»feld der ehre« zu ziehen. auch die kleinen mussten helfen,<br />

wenn die großen den krieg nicht nur spielten. anstelle der Boten<br />

fuhren nun deren kinder die Mappen aus. nur hilde, der<br />

jüngsten tochter der ganskes, blieb dies erspart – sie hatte gerade<br />

erst laufen gelernt. aber kurt und käthe, die zu Beginn<br />

des krieges neun und zehn Jahre alt waren, taten, was in ihren<br />

bescheidenen kräften stand. sie klebten Zettel mit den werbeaufdrucken<br />

örtlicher firmen auf die Mappen und tauschten<br />

nach der schule bei den kunden alte gegen neue Zeitschriften<br />

aus.<br />

25


Ännchen, wie die unternehmerin wider willen im familienkreis<br />

genannt wurde, schaffte es, den Betrieb aufrechtzuerhalten.<br />

die Buchhandlung blieb den ganzen krieg über geöffnet.<br />

auch wenn die hefte im laufe der Jahre dünner und unansehnlicher<br />

wurden, versorgte sie die inzwischen 3000 abonnenten<br />

in kiel weiterhin regelmäßig mit lektüre – jedenfalls<br />

solange es noch Zeitschriften gab. die filiale in hannover dagegen<br />

musste aufgegeben werden. sie ebenfalls weiterzuführen<br />

hätte die kräfte von Ännchen überfordert. sie war ohnehin<br />

durch die ereignisse vor eine aufgabe gestellt worden,<br />

für die sie eigentlich nicht geschaffen war. ihr enkel Michael<br />

ganske hat sie als eine sehr mütterliche, sehr abergläubische<br />

und vor allem stille frau in erinnerung, die noch ganz im geist<br />

einer Zeit erzogen war, in der es die wichtigste aufgabe der<br />

frau war, den Mann und die kinder zu umsorgen. selbst entscheidungen<br />

zu treffen hatte sie nicht gelernt. in den kriegsjahren<br />

musste sie es.<br />

wie es damals wohl auch im hause ganske aussah, lässt sich<br />

ahnen, wenn man liest, wie der Verband der lesezirkelbesitzer<br />

in den zwanziger Jahren die nöte in der Zeit des »unseligen<br />

krieges« im rückblick schilderte: »immer kleiner wurden die<br />

Boten, die uns zur Verfügung standen, immer geringer die<br />

Qualität derselben. wir mussten zu immer jüngeren Mädchen<br />

als Boten greifen – fast noch kinder. Mehr und mehr schwand<br />

ehrlichkeit und Moral unter dem einfluss des hungers, immer<br />

größer wurde die Zahl der Zirkel im reiche, welche den Betrieb<br />

einstellen mussten … herzlich gedankt sei unseren frauen,<br />

die überall tatkräftig einsprangen, wo es nötig war, die sogar<br />

zur karre gegriffen haben, um liegengebliebene touren<br />

zu fahren.«<br />

das tat auch sohn kurt, wenn er von der schule zurückkam.<br />

dabei trug er manchmal nicht nur Zeitschriften zu den kunden.<br />

»der andere Bote bringt immer den kohleneimer mit<br />

nach oben«, maulte zum Beispiel einmal ein abonnent, der im<br />

26


vierten stockwerk wohnte. kurt ließ sich das nicht zweimal sagen.<br />

er machte auf dem absatz kehrt, holte den eimer aus dem<br />

keller und brachte ihn danach immer gleich mit. weniger gern<br />

erinnerte er sich später daran, dass ihm einmal ein Mädchen<br />

die tür öffnete, für das er damals schwärmte. »ach, du trägst<br />

Mappen aus?«, rümpfte das Blondchen die nase.<br />

am ende gab es aber immer weniger auszutragen. in einer<br />

Mitteilung, die der reclam Verlag per postkarte am 17. februar<br />

1918 abschickte, hieß es: »infolge kohlemangels und anderer<br />

kriegsschwierigkeiten muss der ganze Betrieb der unterzeichneten<br />

Verlagsbuchhandlung zeitweise geschlossen bleiben. alle<br />

seit dem 8. februar eingegangenen Bestellungen … können<br />

erst nach Behebung der derzeitigen schwierigkeiten erledigung<br />

finden.«<br />

dennoch schaffte es Ännchen, ihrem Mann einen immer<br />

noch existierenden Betrieb zu übergeben. als richard ganske<br />

vom schlachtfeld heimkehrte, zumindest körperlich unversehrt,<br />

musste er wenigstens nicht fast bei null anfangen wie<br />

später sein sohn kurt nach dem Zweiten weltkrieg. es war zwar<br />

nicht mehr der florierende Betrieb, den er hinterlassen hatte,<br />

als er in den krieg gezogen war. aber er existierte noch. Überdies<br />

florierte außer dem schwarzhandel zu dieser Zeit kaum<br />

noch etwas in deutschland. aber immerhin: der lesezirkel<br />

hatte nicht nur den krieg und die zunehmenden Versorgungsengpässe<br />

überstanden, sondern auch die revolution, den totalen<br />

Zusammenbruch der staatlichen ordnung, die schweren<br />

tage und wochen, die dem aufstand der Matrosen und arbeiter<br />

in kiel gefolgt waren, die ausgerechnet im »reichskriegshafen«<br />

des kaisers den aufstand gegen ihre verblendete, starrsinnige<br />

führung gewagt und den kampf gewonnen hatten.<br />

nicht nur anna ganske, sondern auch die ältere tochter<br />

und der einzige sohn hatten in diesen schweren Jahren, als die<br />

familien und Betriebe ohne die generation der Väter auskommen<br />

mussten, »ihren Mann gestanden«. kurt schaffte es trotz<br />

27


der Mithilfe im väterlichen Betrieb und der vielen stunden,<br />

die er statt mit schulaufgaben mit dem sortieren der Zeitschriften,<br />

dem Zustellen von Mappen und dem kassieren von<br />

abo-gebühren verbracht hatte, die schule mit der mittleren<br />

reife abzuschließen.<br />

um ihn auf seine zukünftige aufgabe im unternehmen vorzubereiten,<br />

schickte ihn der Vater anschließend nach hamburg.<br />

eine kaufmännische lehre im im- und export sollte ihm<br />

das notwendige rüstzeug verschaffen und ihn im umgang mit<br />

Zahlen schulen. kurt ganske lernte zugleich, wie man in schwierigen<br />

Zeiten wirtschaftlich überlebt. denn im anschluss an<br />

seine lehre wurde er als Buchhalter weiterbeschäftigt und<br />

sah so aus nächster nähe, wie sich eine »galoppierende inflation«<br />

in den Büchern <strong>eines</strong> unternehmens niederschlägt –<br />

vor allem in nullen. der schweren wirtschaftskrise, die durch<br />

die hohen reparationszahlungen ausgelöst wurde, zu denen<br />

deutschland nach dem verlorenen krieg von den siegermächten<br />

gezwungen worden war, und der monatelangen arbeitsniederlegung,<br />

mit der die arbeiter auf die Besetzung des<br />

ruhrgebiets durch französische truppen antworteten, folgte<br />

schließlich eine inflation, wie sie die welt bis dahin noch nicht<br />

gesehen hatte.<br />

ein karren voller geld<br />

um seinen Zahlungsverpflichtungen im krieg und in der nachkriegszeit<br />

nachkommen zu können, ließ der staat immer mehr<br />

geld drucken. Bei kriegsausbruch 1914 war im deutschen<br />

reich Bargeld im wert von 2,4 Milliarden Mark im umlauf<br />

gewesen. ende Mai 1921 waren es schon 72 Milliarden. danach<br />

ging die unkontrollierte geldvermehrung geradezu explosionsartig<br />

weiter. im sommer 1923 ließ die reichsbank in 50 großdruckereien<br />

in tag- und nachtschichten Banknoten drucken,<br />

deren »wert« zudem immer weiter heraufgesetzt wurde. Zum<br />

28


schluss wurden geldscheine mit dem unvorstellbar hohen<br />

nennwert von 100 Billionen Mark in umlauf gebracht. ihr tatsächlicher<br />

wert war dagegen mehr als bescheiden. denn etwa<br />

zur gleichen Zeit musste für einen dollar ein wechselkurs von<br />

4,2 Billionen reichsmark bezahlt werden.<br />

entsprechend wahnwitzig entwickelten sich auch die löhne<br />

und vor allem die preise, die der einkommensentwicklung<br />

stets vorauseilten. das machte sich natürlich auch beim lesezirkel<br />

bemerkbar. so kostete beispielsweise das Blatt für die<br />

Hausfrau, das bei kriegsende noch für 30 pfennig am kiosk zu<br />

haben war, im Juli 1923 schon 1100 Mark. einen Monat später<br />

waren es bereits 20 000 Mark, und im september des gleichen<br />

Jahres mussten gar 135 000 Mark dafür hingeblättert werden.<br />

wenn richard ganske seine Zeitschriften beim grossisten abholte,<br />

musste er schließlich mit einem lieferwagen voll geld<br />

vorfahren, um sofort für die hefte zahlen zu können. niemand<br />

schrieb damals noch rechnungen. selbst wenn sie schon wenige<br />

tage später beglichen wurden, hatte das geld nur noch<br />

einen Bruchteil s<strong>eines</strong> ursprünglichen wertes.<br />

Ähnliche probleme gab es beim inkasso. Zwar war es bei<br />

lesezirkeln üblich, dass bei lieferung sofort an der haustür<br />

bezahlt wurde. doch wenn die Boten am nachmittag ihre tageseinnahmen<br />

ablieferten, hatte das geld bereits weiter an kaufkraft<br />

eingebüßt und musste möglichst schnell wieder zum Bezug<br />

neuer ware genutzt werden, damit in der Zwischenzeit die<br />

preise nicht davonliefen. aus dem gleichen grund wurde allen<br />

Mitarbeitern der lohn täglich ausgezahlt. sie mussten damit<br />

noch am selben abend Brot, Milch, eier und andere dringend<br />

benötigte waren für die familie einkaufen. schon am nächsten<br />

Morgen reichte es oft nicht mehr. auf dem höhepunkt<br />

der inflation kamen die Mitarbeiter mit waschkörben in den<br />

Betrieb, um ihren lohn, der schließlich aus einem großen<br />

Berg fast wertlosen papiers bestand, nach hause schaffen zu<br />

können.<br />

29


in dieser hektischen Zeit mussten auch die preise für die<br />

Mappen täglich neu kalkuliert werden. 1922 kostete eine lesemappe,<br />

deren preis in den Jahren zuvor noch in pfennigen<br />

berechnet worden war, je nach neuheit zwischen 50 und<br />

280 Mark. im Juli 1923 verlangten die Boten vom erstbezieher<br />

schon 3500 reichsmark. wenn die gelieferten Blätter bereits<br />

fünf wochen lang im umlauf waren, kosteten sie immer noch<br />

1600 rM. im august kassierten die Boten 70 000 rM für die aktuelle<br />

Mappe und 32 000 rM für eine Mappe mit Zeitschriften<br />

der klasse 5. im september lagen die entsprechenden abogebühren<br />

bei 350 000 und 160 000 rM. neben dem Berg an<br />

Mappen, den die Boten in ihren karren von tür zu tür schoben,<br />

mussten sie jetzt auch noch platz für einen großen geldsack<br />

finden, in den sie die scheine stopfen konnten.<br />

im Buchhandel mussten richard ganske und seine kollegen<br />

ebenfalls jeden Morgen neu kalkulieren. die Zeitungen<br />

veröffentlichten täglich neben anderen kennzahlen auch einen<br />

»Buchhändlerschlüssel«, mit dem die ursprünglichen preise multipliziert<br />

werden mussten, um den aktuellen tagespreis <strong>eines</strong><br />

Buches zu errechnen. wer von seinem tageslohn einen roman<br />

oder ein fachbuch erwerben wollte, tat also gut daran, noch<br />

am gleichen abend in den laden zu gehen. schon am nächsten<br />

tag war das begehrte werk um einige tausend Mark<br />

teurer.<br />

weniger geld, bessere geschäfte<br />

im november 1923 bereitete eine radikale währungsreform<br />

dem wahnsinn endlich ein ende. die Buchhandlung der ganskes<br />

und ihr lesezirkel in kiel hatten die inflation ebenso wie<br />

den weltkrieg und die nachfolgende wirtschaftskrise überlebt.<br />

Zwar waren während der politischen und wirtschaftlichen wirren<br />

kunden verlorengegangen und mussten nun mühsam von<br />

haustür zu haustür zurückgewonnen werden. doch mit der<br />

30


zunehmenden Qualität der Zeitschriften, die langsam wieder<br />

an umfang und inhalt gewannen, wuchs auch die leselust<br />

aufs neue.<br />

kurt ganske glaubte wohl, in seinen hamburger lehrjahren<br />

genug gesehen und gelernt zu haben. im alter von 19 Jahren<br />

kehrte er 1924 ins väterliche unternehmen zurück. was er<br />

dort sah, muss seinen inzwischen im lesen von Bilanzen geschulten<br />

augen gefallen haben. ein auch nur halbwegs gut geführter<br />

lesezirkel konnte sich in jenen Jahren zu einer wahren<br />

goldgrube entwickeln, obwohl es oft nicht leicht war, bei den<br />

Verhandlungen mit den Verlagen günstige einkaufspreise herauszuschlagen.<br />

die Zeitschriftenverleger lebten damals vor<br />

allem vom Verkaufserlös ihrer hefte. ein zusätzlicher absatz<br />

über die lesezirkel erhöhte zwar die auflage, aber jeder weitere<br />

prozentpunkt beim rabatt schmälerte den gewinn. an<br />

der heute für die werbeeinnahmen so wichtigen reichweite<br />

bei der leserschaft waren die Verlage damals noch nicht sonderlich<br />

interessiert. angesichts des vergleichsweise geringen<br />

anteils, den das anzeigengeschäft zum gesamtergebnis beitrug,<br />

spielte es für sie noch keine große rolle, wie viele Mitleser<br />

der käufer einer Zeitschrift hatte. sie befanden sich in einer<br />

ähnlichen lage wie heute noch die Buchverleger: nur der direkte<br />

absatzerfolg war wichtig. ob ein Buch oder eine Zeitschrift<br />

danach weitergegeben wurde, war wirtschaftlich uninteressant.<br />

eine Marktforschung oder leseranalyse im heutigen<br />

sinne gab es nicht einmal ansatzweise. daher hätte auch kein<br />

lesezirkel mit akkuraten Zahlen belegen können, wie stark<br />

sich die reichweite <strong>eines</strong> Blattes durch die Verbreitung über<br />

die Mappen erhöhte. tatsächlich waren die Zahlen gigantisch<br />

und würden heute jedem Marketingfachmann die tränen in<br />

die augen treiben. da die Mappen zehnmal und öfter ausgeliehen<br />

wurden, hatten sie eine enorme Multiplikatorwirkung<br />

für die darin gelieferten Blätter. Zudem wurden die Zeitschriften<br />

von der ganzen familie intensiv genutzt, weil es zum ge-<br />

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druckten wort in der damaligen Medienwelt fast keine alternative<br />

gab.<br />

auch wenn sich viele Verlagsherren beim gespräch über<br />

rabattstaffeln recht zugeknöpft gaben und es außerdem vom<br />

Verhandlungsgeschick des jeweiligen einkäufers abhing, welche<br />

Zugeständnisse er ihnen abhandelte, war der Zeitschriftenverleih<br />

ein einträgliches geschäft. da die Mappen bei jeder<br />

weiteren ausleihe unmittelbar einnahmen generierten, musste<br />

ein etablierter lesezirkel schon vieles falsch machen, damit<br />

am ende nicht doch noch eine recht auskömmliche rendite<br />

übrigblieb.<br />

daher erholte sich die Branche recht schnell wieder von<br />

den schäden, die krieg und inflation hinterlassen hatten. ehe<br />

mit dem Zweiten weltkrieg erneut eine katastrophe über das<br />

land hereinbrach, gab es in deutschland 297 lesezirkel, die<br />

53 363 erstmappen zusammenstellten und insgesamt 533 372<br />

feste kunden belieferten. das bedeutete, dass jede Mappe im<br />

durchschnitt zehnmal – wenn auch jedes Mal zu einem etwas<br />

niedrigeren preis – verkauft wurde. und es lässt sich leicht<br />

nachrechnen, dass ein lesezirkel im durchschnitt nur 180 erstmappen<br />

bestücken musste, um damit innerhalb von zweieinhalb<br />

Monaten knapp 1800 feste kunden der reihe nach versorgen<br />

zu können.<br />

tatsächlich hatten die meisten lesezirkel sogar deutlich weniger<br />

kunden. hinter den durchschnittszahlen, die der 1908<br />

gegründete Verband veröffentlichte, verbargen sich nämlich<br />

unternehmen höchst unterschiedlicher größe. 70 prozent der<br />

lesezirkel verteilten 1938 weniger als 100 erstmappen, ließen<br />

sie dafür aber oft monatelang zirkulieren. den »rekord« hielt<br />

damals das unternehmen grotjahn in Bremen, das zwar nur<br />

48 abonnenten für die aktuelle Mappe hatte, sie aber im durchschnitt<br />

mehr als 25-mal weiterreichte und so binnen <strong>eines</strong> halben<br />

Jahres 1219 kunden damit belieferte. Mancher leser erhielt<br />

daher erst zu pfingsten die weihnachtsausgabe seiner<br />

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Zeitschrift. die reichspressekammer, der die lesezirkel später<br />

zwangsweise angeschlossen wurden, ordnete deshalb an, dass<br />

»die in lesezirkeln geführten hefte nicht länger als 25 wochen<br />

nach erscheinen in umlauf gesetzt werden dürfen«.<br />

Mit einem etwa 3000 abonnenten umfassenden kundenstamm<br />

in kiel war richard ganske daher schon anfang der<br />

zwanziger Jahre ein kleiner riese in seiner Branche.<br />

der Junior will groß werden<br />

wenn man mit deutlich weniger abonnenten schon gut über<br />

die runden kam – um wie viel besser musste es dann einem<br />

unternehmer gehen, der sich nicht allein mit den kunden zufriedengab,<br />

die er in seinem örtlichen umfeld von den Vorteilen<br />

einer Mitgliedschaft im lesezirkel überzeugen konnte?<br />

dem jungen kurt ganske, der so viel unternehmerischen tatendrang<br />

in sich verspürte, dass er seinen wirkungskreis nicht<br />

auf kiel beschränkt sehen wollte, gelang es offenbar, seinen inzwischen<br />

fast 50-jährigen Vater davon zu überzeugen, noch<br />

einmal über die grenzen von kiel und umgebung hinauszugehen.<br />

im gleichen Jahr, in dem der sohn in die heimatstadt<br />

zurückkehrte, machte er sich auch schon auf, ganz deutschland<br />

zu erobern – zunächst in östlicher richtung. nur wenige<br />

wochen nach der währungsreform ging es los. 1924 wurden<br />

filialen in dresden und chemnitz eröffnet. schon im laufe<br />

dieses Jahres wuchs die Zahl der abonnenten von 3500 auf<br />

stolze 10 000. im Jahr darauf fand daheim auch in stettin,<br />

frankfurt, nürnberg und düsseldorf ein Zuhause.<br />

1926 trat der sohn offiziell in das väterliche unternehmen<br />

ein, und noch im oktober des gleichen Jahres wurde der sitz<br />

der firma verlegt. wieder war es hannover, die stadt, in der<br />

richard ganske schon einmal versucht hatte, seine in kiel gesammelten<br />

erfahrungen für eine expansion zu nutzen. diesmal<br />

war es ohne Zweifel die zentrale lage, die die stadt an der<br />

33


leine gegenüber kiel auszeichnete. denn von hier aus waren<br />

nicht nur die bereits bestehenden filialen besser zu erreichen.<br />

auch für die weiteren expansionspläne war der standort<br />

hannover besser geeignet als kiel, das inzwischen nicht nur<br />

geographisch am rande lag, sondern nach dem ende der von<br />

wilhelm ii. beschworenen »herrlichen Zeiten« auch an wirtschaftlicher<br />

Bedeutung eingebüßt hatte.<br />

ohne Zweifel war der sohn die treibende kraft. während<br />

der Vater wohl eine gemächlichere gangart bevorzugt hätte<br />

und mit dem zufrieden war, was er in kiel erreicht hatte, sah<br />

der Junior die chance, aus einem guten ein glänzendes geschäft<br />

zu machen. er wollte nicht nur teilhaber <strong>eines</strong> der damals<br />

schon größten deutschen lesezirkel sein, sondern der<br />

chef des Branchenführers werden. kurt ganskes Biograph<br />

emanuel eckardt hat in seinem Buch »halte schritt« alles zusammengetragen,<br />

was heute noch durch Zeitzeugen aus den<br />

Jahren um 1926 über den Jungunternehmer in erinnerung<br />

geblieben ist: »er zieht seine sache durch, planmäßig, schritt<br />

für schritt; fährt durchs reich, ein gründer, der den radius<br />

s<strong>eines</strong> Zirkels ständig erweitert, neue kreise zieht, von kiel und<br />

dann von hannover aus. er sinniert über landkarten und<br />

stadtplänen, rechnet Verbindungen aus, Vertriebswege, lieferbedingungen.<br />

er analysiert potenzielle leserschaften: wo sie<br />

leben, wie sie leben, was sie lesen. er wandert durch die städte,<br />

erkundet ihre topographie, nimmt Messtischblätter zu hilfe<br />

und zieht historische kupferstiche des Matthaeus Merian aus<br />

dem 17. Jahrhundert zu rate, die er zu sammeln beginnt. danach<br />

sucht er lager in Bahnhofsnähe, geschäftsräume, heuert<br />

leute an. Bevor er eine stadt besucht, kündigt er sein kommen<br />

an – per kleinanzeige im lokalblatt; wo er zu treffen ist<br />

und wann er sprechstunde hat. Meist wählt er dafür ein Zimmer<br />

in einem gasthof oder hotel. Meist stehen schlangen vor<br />

der tür. er schaut sich die leute an, fragt sie aus. prüft sie,<br />

stellt sie ein oder nicht und erwirbt sich in diesen gesprächen<br />

<strong>34</strong>


eine Menschenkenntnis, die ihm später manche enttäuschung<br />

erspart.«<br />

dem Vater wird manchmal angst und bange, als er sieht, mit<br />

welchem tempo kurt, der inzwischen als prokurist zeichnet,<br />

das unternehmen ausbaut, das nur wenige Jahre jünger ist als<br />

der nun 21-jährige Juniorchef. der bestellt 36 schreibmaschinen<br />

– ein modernes technisches gerät, das in den zwanziger<br />

Jahren noch längst nicht in allen Büros zu finden ist. er will<br />

200 bis 300 autos anschaffen, um noch mehr kunden noch<br />

schneller beliefern zu können – eine investition, die dem Vater<br />

fast größenwahnsinnig erschienen sein mag. ob es über diese<br />

und ähnliche pläne zu mehr oder weniger heftigen diskussionen<br />

oder gelegentlich gar zum streit zwischen Vater und sohn<br />

kam, ist nicht bekannt. Bekannt und von frau und enkeln bezeugt<br />

ist aber, dass beide bis zum tod des firmengründers ein<br />

gutes und enges Verhältnis hatten, sich gegenseitig respektierten<br />

und neben der leidenschaft für das geschäft noch eine<br />

zweite gemeinsame passion hatten: die Jagd.<br />

durch die weitere entwicklung ist eindeutig belegt, dass sich<br />

der sohn mit seinen expansionsplänen immer wieder durchsetzte.<br />

das lässt sich an dem tempo ablesen, mit dem sich das<br />

unternehmen immer weiter im reich ausdehnte. schon von<br />

kiel aus hatte der damals noch Minderjährige 1924 und 1925<br />

die ersten sechs filialen gegründet. 1926, im Jahr des umzugs<br />

nach hannover, verschärfte er das tempo noch: in gelsenkirchen,<br />

osnabrück, Mannheim und kassel entstanden weitere<br />

filialen, und selbstverständlich wurden auch um den neuen<br />

firmensitz hannover herum eifrig kunden geworben. 1928<br />

wurden weitere Zweigstellen in augsburg, Breslau, danzig,<br />

karlsruhe, Magdeburg und stuttgart errichtet.<br />

35


die eroberung der hauptstadt<br />

1929 war der lesezirkel daheim bereits in 17 großen deutschen<br />

städten mit filialen vertreten. eine 18. kam in diesem Jahr hinzu:<br />

Berlin. dieser schritt war nicht nur deshalb wichtig, weil<br />

damit die eroberung der deutschen hauptstadt mit ihren damals<br />

über vier Millionen einwohnern begann. in keiner anderen<br />

deutschen stadt gab es einen auch nur annähernd so großen<br />

Markt für einen lesezirkel. Mindestens so wichtig war aber,<br />

dass in Berlin viele der großen Verlage saßen, die die lesezirkel<br />

mit ihren periodika versorgten. in der hauptstadt der republik<br />

wurden mehr als ein Viertel der über 2600 Zeitschriften<br />

und 114 tageszeitungen redigiert und gedruckt, die damals in<br />

deutschland erschienen. kurt ganske konnte nun direkt mit<br />

den führenden Vertretern großer Verlage wie scherl, Mosse<br />

oder ullstein verhandeln – und zwar nicht als Bittsteller, sondern<br />

als ein ernstzunehmender partner, denn er konnte jetzt<br />

druck ausüben, wenn es um rabatte ging. er sprach nicht<br />

mehr als Vertreter <strong>eines</strong> kleinen lesezirkels aus der provinz.<br />

daheim war nicht mehr nur einer von insgesamt rund 300 lesezirkeln<br />

in deutschland, sondern das unternehmen hatte es<br />

innerhalb von nur fünf Jahren zum unbestrittenen Branchenprimus<br />

gebracht. die ganskes konnten einer neuen Zeitschrift<br />

am Markt zum durchbruch verhelfen, wenn sie sie in ihre Mappe<br />

aufnahmen – wie es zum Beispiel nach dem krieg auch<br />

beim Spiegel der fall war. und sie konnten ein Blatt ausmustern,<br />

was dann einen schmerzlichen rückgang der verbreiteten auflage<br />

nach sich zog.<br />

der erst 24-jährige und schon so erfolgreiche Jungunternehmer<br />

kurt ganske wollte in Berlin nicht nur mit einer weiteren<br />

filiale des lesezirkels vertreten sein, er wollte auch anderweitig<br />

in der hauptstadt präsenz zeigen. deshalb erwarb er<br />

in der kurfürstenstraße die angesehene Buchhandlung unter<br />

den linden. er richtete sich zudem neben hannover in Berlin<br />

36


einen zweiten wohnsitz ein. er scheute sich auch nicht, seinen<br />

wirtschaftlichen erfolg nach außen zu zeigen – unter anderem<br />

durch den kauf <strong>eines</strong> cadillac und die Beschäftigung <strong>eines</strong><br />

fahrers, der ihm auch persönlich zur hand ging, kochte und<br />

hemden bügelte.<br />

ein Jubiläum ohne glanz und gloria<br />

Man war also schon wer, als am 1. april 1932 das 25-jährige Bestehen<br />

des unternehmens gefeiert werden konnte oder – genauer<br />

gesagt – hätte gefeiert werden können. was bis dahin<br />

schon geschaffen worden war, konnte sich sehen lassen. schließlich<br />

hatte daheim innerhalb <strong>eines</strong> Vierteljahrhunderts nicht<br />

nur alle konkurrenten weit hinter sich gelassen, man verfügte<br />

auch als erster und einziger lesezirkel über ein weitverzweigtes<br />

filialnetz. doch statt <strong>eines</strong> rauschenden festes, großer reden<br />

und einer stolzen Jubiläumsschrift gab es nur einen Brief und<br />

ein paar dürre worte: »am 1. april 1932 besteht unsere firma<br />

25 Jahre«, hieß es in dem zweiseitigen schreiben aus hannover,<br />

das drei tage vor dem gedenktag an alle filialen verschickt<br />

wurde. »Bereits auf der geschäftsführertagung am 3. Januar<br />

ds. Js. ist von unserer seite darauf hingewiesen worden, dass<br />

wir diesen tag, den schwierigen Verhältnissen rechnung tragend,<br />

in aller stille, auch nach außen hin, begehen wollen.«<br />

trotzdem sollte es kein tag wie jeder andere sein. deshalb hieß<br />

es weiter in dem mit der schreibmaschine verfassten rundschreiben:<br />

»wir haben uns daher entschlossen, den Mitarbeitern, die<br />

am Jubiläumstage vier Jahre und länger bei uns beschäftigt sind,<br />

eine der augenblicklichen wirtschaftslage angepasste anerkennung<br />

zuteil werden zu lassen.«<br />

im anschluss daran wurde präzise angegeben, wer von dem<br />

geldsegen profitieren sollte – und in welcher höhe: die geschäftsführer<br />

von zehn filialen, die bereits lange genug im Betrieb<br />

waren, erhielten je 100 Mark. das Büropersonal in zwei<br />

37


filialen, nämlich ein fräulein hubert und ein fräulein kirchgeorg,<br />

durften sich über eine Jubiläumsprämie von je 20 Mark<br />

freuen. unter dem Boten- und lagerpersonal waren 52 glückspilze,<br />

die dank ihrer mehr als vierjährigen Betriebszugehörigkeit<br />

jeweils 10 Mark einheimsen konnten. auch die anderen<br />

gingen nicht völlig leer aus. wer seit dem 15. februar 1932 als<br />

geschäftsführer, schreibhilfe, lagerarbeiter oder Bote bei daheim<br />

tätig war, erhielt zumindest das Jubiläumsandenken: die<br />

geschäftsführung ließ jedem männlichen Mitarbeiter eine<br />

Brieftasche und allen weiblichen angestellten eine geldtasche<br />

überreichen.<br />

einer von denen, die zwar kein geld, aber eine Brieftasche<br />

bekamen, muss gustav eckardt aus augsburg gewesen sein,<br />

dem seine heimatzeitung einen kleinen artikel widmete, als er<br />

1973 in den ruhestand ging. er war schon 1929, kurz nach<br />

gründung der filiale augsburg, eingestellt worden und hielt<br />

dem unternehmen danach 44 Jahre lang die treue. im dienste<br />

des lesezirkels daheim zog er seinen mit Zeitschriftenmappen<br />

vollgepackten handkarren mehr als vier Jahrzehnte lang bei<br />

wind und wetter durch die ihm zugeteilten stadtviertel. auch<br />

später, als die Boten motorisiert wurden, wollte er seine zweirädrige<br />

karre nicht abgeben. er hatte keine lust, den führerschein<br />

zu machen.<br />

rund 114 000 kilometer hatte der getreue eckardt so im<br />

dienst von daheim zurückgelegt, ehe er sich mit Bedauern in<br />

den ruhestand verabschiedete. »ich werde meine kunden vermissen.<br />

nach so langen Jahren kennt man sich doch recht gut.«<br />

schließlich belieferten er und seine kollegen nicht nur friseure,<br />

rechtsanwälte oder Ärzte, die die Zeitschriften in ihren wartezimmern<br />

auslegten. die Zahl der privaten abonnenten, denen<br />

er die Mappen an die haustür brachte, war sogar noch größer.<br />

»da sah man die kinder heranwachsen, heiraten und aus dem<br />

haus gehen, und von manchem älteren kunden musste man<br />

für immer abschied nehmen.« einmal fand gustav eckardt<br />

38


einen abonnenten, mit dem er bei jedem Besuch ein wenig geplaudert<br />

hatte, tot im hausflur. »er hatte einen herzschlag bekommen.<br />

das war ein schlimmer schock für mich.« wie viele<br />

seiner kollegen machte wohl auch eckardt die erfahrung, dass<br />

es die großzügigeren trinkgelder meist nicht bei den »Besserverdienern«<br />

gab, die sich die erstmappen mit den aktuellen<br />

Zeitschriften liefern ließen. es waren oft die weniger gut betuchten<br />

Bezieher, die sich die Blätter erst in der achten oder<br />

zehnten woche leisten konnten, die regelmäßig noch ein paar<br />

pfennig für den Boten drauflegten, wenn er die wöchentliche<br />

leihgebühr kassierte.<br />

als gustav eckardt 1932 die Jubiläumsgabe überreicht wurde,<br />

wird er wohl die kolleginnen und kollegen ein wenig<br />

beneidet haben, die nicht nur eine geldbörse als andenken<br />

erhielten, sondern in der schlichten ledertasche mit dem eingestanzten<br />

firmenlogo auch noch ein paar scheine oder Münzen<br />

fanden. aber er wird dennoch dankbar dafür gewesen sein,<br />

und er hat sich offenbar die sätze zu herzen genommen, mit<br />

denen das Jubiläumsschreiben der unternehmensleitung und<br />

in den filialen sicher auch die kurze ansprache zur feier des<br />

tages endete: »wir wollen bei dieser gelegenheit nicht versäumen,<br />

den wunsch auszusprechen, dass alle Mitarbeiter auch<br />

fernerhin ihre ganze arbeitskraft dem geschäft widmen und<br />

wir weiter vorwärtskommen.«<br />

das alles klingt heute ein wenig komisch. Zum hintergrund<br />

muss man aber wissen, dass zweieinhalb Jahre zuvor, am 24. oktober<br />

1929, ein Börsencrash die welt erschüttert hatte. er beendete<br />

an der wall street eine beispiellose spekulationswelle,<br />

die die amerikaner jahrelang in ihren Bann gezogen hatte. ihr<br />

folgte eine ebenso beispiellose wirtschaftskrise, deren schockwellen<br />

mit einer gewissen Verzögerung schließlich auch europa<br />

erreichten. ebenso wie Österreich und andere nachbarländer<br />

geriet auch deutschland in den strudel der weltweiten finanzkrise.<br />

am 13. Juli 1931 mussten fast alle deutschen Banken ihre<br />

39


tore schließen, weil sie dem ansturm der von panik ergriffenen<br />

sparer nicht mehr standhalten konnten. die wirtschaftskrise,<br />

die dem Zusammenbruch der geldwirtschaft folgte, riss<br />

unternehmer und selbständige zu Zehntausenden in den Bankrott.<br />

Zehn Jahre nach der hyperinflation geriet das land in<br />

den würgegriff einer deflation.<br />

die folge war eine Massenarbeitslosigkeit, der das ohnehin<br />

dünne soziale netz nicht standhielt. auf dem höhepunkt der<br />

krise, im winter 1932/33, wurden in deutschland schließlich<br />

6,2 Millionen erwerbslose gezählt, von denen viele nicht einmal<br />

mehr anspruch auf arbeitslosenunterstützung hatten.<br />

und wer noch in lohn und Brot stand, verdiente immer weniger:<br />

die durchschnittlichen tariflöhne sanken zwischen 1930<br />

und 1933 bei facharbeitern von 1,03 rM auf 78,5 pfennig pro<br />

stunde. Bei ungelernten fiel der stundenlohn von 80,7 auf<br />

62,3 pfennig. in dieser lage mussten 10 oder 20 Mark, die angesichts<br />

<strong>eines</strong> Jahrestages zusätzlich verteilt wurden, wie ein<br />

geschenk des himmels erscheinen. Zehn Jahre nach der hyperinflation<br />

litt das land unter einer deflation.<br />

Vorwärts in den abgrund<br />

wenige Monate nach dem in aller stille begangenen 25-jährigen<br />

Jubiläum schien der von der geschäftsleitung geäußerte<br />

wunsch nach besseren Zeiten in erfüllung zu gehen. 1933 kamen<br />

die nazis in deutschland an die Macht und begannen damit,<br />

das land auf ihre art zu stabilisieren. wirtschaftlich gesehen<br />

ging es den meisten Menschen schon bald besser. die<br />

unternehmen machten wieder gewinne, die Zahl der arbeitsplätze<br />

nahm zu. wer in der privaten wirtschaft keine Beschäftigung<br />

fand, wurde von den neuen Machthabern in den arbeitsdienst<br />

gesteckt. erst heimlich, dann immer unverhohlener<br />

wurde die rüstungsindustrie auf touren gebracht. das schuf<br />

zwar keine wirklichen werte, sorgte aber für Beschäftigung<br />

40


und dafür, dass geld unter die leute kam. immer mehr familien<br />

konnten sich außer dem notwendigsten zum leben auch<br />

wieder etwas zum lesen leisten.<br />

dadurch erholte sich auch der lesezirkel daheim nach 1933<br />

bald wieder von den folgen der depression. es ging vorwärts.<br />

nach drei Jahren Zwangspause konnten neue filialen in görlitz<br />

und waldenburg eröffnet werden. Zum schnellen wachstum<br />

trug zudem der kauf bereits etablierter unternehmen bei.<br />

Mit dem erwerb des lesezirkels grüne Mappe in hamburg,<br />

der auch in Bremen und lübeck mit filialen vertreten war, begann<br />

19<strong>34</strong> eine Übernahmewelle, die bis heute anhält. aus<br />

einem anfang 1936 für das firmenarchiv der stadt augsburg<br />

ausgefüllten fragebogen geht hervor, dass zu diesem Zeitpunkt<br />

neben dem firmensitz in hannover bereits 23 filialen in deutschen<br />

städten bestanden.<br />

dem fragebogen der stadt augsburg folgte zwei Jahre später<br />

eine ähnliche statistische erhebung für die handelskammer.<br />

den erhalten gebliebenen dokumenten lassen sich einige<br />

betriebswirtschaftliche daten entnehmen, die für die lesezirkel-filialen<br />

in einer mittelgroßen deutschen stadt typisch gewesen<br />

sein dürften: in der anfang Mai 1928 gegründeten filiale<br />

wurden acht Jahre später in gemieteten räumen 14 arbeiter<br />

und angestellte beschäftigt, die im durchschnitt 48 stunden<br />

pro woche arbeiteten. der Jahresumsatz lag bei rund 55 000<br />

Mark. die jährliche lohnsumme wurde mit 29 867 Mark angegeben.<br />

die frage »welche kohlenarten (zum Beispiel saar-<br />

oder ruhrkohle) verwenden sie in ihrem Betrieb?« wurde mit<br />

dem beruhigenden hinweis beantwortet, dass es sich »nur um<br />

wenige Zentner handelt, die vom händler gekauft werden«.<br />

eine frage und eine antwort, die heute etwas seltsam anmuten.<br />

doch hinter diesem informationsbedürfnis verbarg sich<br />

nicht nur der weg in eine planwirtschaft, die alle warenströme<br />

zu kontrollieren versuchte, sondern auch die Vorbereitung auf<br />

eine kriegswirtschaft. schon bald wurden alle rohstoffe be-<br />

41


vorzugt den Betrieben zugeteilt, die für die rüstungsindustrie<br />

wichtig waren.<br />

noch war es nicht so weit. kurt ganske konnte seinen friedlichen<br />

eroberungszug im gewohnten tempo fortsetzen. 1937<br />

erweiterte er das bestehende netz durch Zweigniederlassungen<br />

in leipzig, halle, halberstadt, dessau, plauen und Zwickau. Bis<br />

1938 erhöhte sich damit die Zahl der filialen im gesamten<br />

reichsgebiet auf dreißig. Mit seiner kundenzahl überflügelte<br />

der lesezirkel daheim so innerhalb weniger Jahre alle seine<br />

konkurrenten. kurz vor ausbruch des Zweiten weltkrieges<br />

wurden wöchentlich 158 274 abonnenten mit Mappen beliefert,<br />

darunter waren 13 195 erstmappen. damit hatte sich richard<br />

ganskes unternehmen nicht nur mit weitem abstand<br />

vor der konkurrenz zum Branchenführer aufgeschwungen,<br />

sondern war zugleich auch »weltmeister« geworden – ein titel,<br />

den der leserkreis daheim bis heute für sich beanspruchen<br />

kann. in keinem anderen land der welt spielen lesezirkel<br />

eine so große rolle wie in deutschland.<br />

dieser erfolg wäre nicht möglich gewesen, wenn kurt ganske<br />

die von seinem Vater entwickelte organisation nicht weiterentwickelt<br />

und perfektioniert hätte. das galt für die tourenplanung<br />

am ort ebenso wie für die schnelle und rationelle<br />

Belieferung des sich immer weiter ausdehnenden filialnetzes<br />

mit druckfrischen Zeitschriften. es betraf die organisation<br />

des lagers, die Bestückung der Mappen mit Zeitschriften, werbebeilagen<br />

und reklame-aufklebern.<br />

das geschäft mit der werbung war so lukrativ, dass es vor<br />

allem von der örtlichen presse mit größtem Misstrauen beobachtet<br />

wurde. da die meisten lesezirkel nur regional verbreitet<br />

waren, konkurrierten sie beim kampf um reklame-aufträge<br />

von einzelhändlern, kinos, friseuren oder anderen örtlichen<br />

anbietern vor allem mit den kleinen tageszeitungen. das wurde<br />

ihnen 1937 kurzerhand verboten, da das reichspropagandaministerium<br />

der für seine Zwecke wichtigen lokalpresse ein<br />

42


auskömmliches geschäft sichern wollte. in der Begründung<br />

der Verfügung wurde das ganz ungeniert ausgesprochen: »das<br />

Bedrucken der umschläge mit anzeigen … wuchs sich zu einer<br />

gefahr für die heimatpresse aus, weil deren anzeigenpreise<br />

naturgemäß unterboten und die auflagen überboten werden<br />

konnten …« Vorbei war es mit den hinweisen auf die leckere<br />

wurst von Metzgermeister schmidt und die günstigen angebote<br />

im konsum-laden.<br />

Überregionale werbung blieb den lesezirkeln dagegen weiter<br />

gestattet. damit die kleinen lesezirkel von diesem kuchen<br />

auch etwas abbekamen und der staat das werbegeschäft leichter<br />

kontrollieren konnte, wurde die Vermittlung der lesezirkelwerbung<br />

den herkömmlichen werbeagenturen entzogen.<br />

das einsammeln und Verteilen von anzeigen und werbebeilagen<br />

durfte nur noch von wenigen, darauf spezialisierten agenturen<br />

betrieben werden, die dafür eine staatliche genehmigung<br />

benötigten.<br />

<strong>eines</strong> dieser spezialunternehmen war die 1938 in München<br />

gegründete »agentur für lesezirkelwerbung dr. hermann<br />

oschmann«, die später in »werbemerkur« umfirmierte. auffällig<br />

ist, dass sie von anfang an eine – zumindest räumlich –<br />

große nähe zu daheim hatte. wo ganskes lesezirkel eine niederlassung<br />

betrieb, da war auch ein Büro des werbemerkur<br />

meist nicht fern. nach dem krieg schrumpfte die von anfang<br />

an kleine Zahl der spezialagenturen immer weiter zusammen.<br />

»ein spezialmittler nach dem anderen gab sein geschäft auf,<br />

bis alle mit einer ausnahme durch eine firma aufgekauft waren«,<br />

wurde Mitte der achtziger Jahre in einer festschrift zum<br />

75-jährigen Bestehen des lesezirkel-Verbands vermerkt. wie in<br />

den meisten fällen wurde auch hier die »eine firma« nicht<br />

beim namen genannt. dabei wusste jeder in der Branche, dass<br />

es kurt ganske war, der 1964 den werbemerkur übernommen<br />

und damit ein Verhältnis besiegelt hatte, das wohl schon vorher<br />

recht eng gewesen war. die andere firma ist übrigens die<br />

43


daheim-werbung, die allerdings nur für das eigene haus<br />

arbeitet.<br />

inzwischen dient der werbemerkur der Branche seit über<br />

sechzig Jahren als agentur für lesezirkelwerbung. seit 1992<br />

tritt er als tochtergesellschaft des daheim lieferservice auf,<br />

steht aber als ehrlicher Makler bundesweit allen lesezirkel-organisationen<br />

zu diensten, so dass inserenten einen ansprechpartner<br />

für ihre nationale oder regionale Mediaplanung haben.<br />

allerdings ist er nicht mehr allein auf weiter flur. inzwischen<br />

gibt es einschließlich werbemerkur und daheim-werbung wieder<br />

neun »spezialmittler«.<br />

ein solides kartenhaus<br />

ganz besondere aufmerksamkeit widmete der Junior, wie er<br />

von den Mitarbeitern genannt wurde, der führung und organisation<br />

des karteikartensystems, an dem er ständig feilte und<br />

verbesserte. es wurde so gestaltet, dass alle wichtigen kundendaten<br />

von eingeweihten sofort zu erfassen waren. wenn ein<br />

Bote seine tour an einen anderen übergab, brauchten nicht<br />

viele worte gewechselt zu werden. Ähnlich wie bei einem arzt,<br />

der rasch einen Blick auf das krankenblatt wirft, ehe er sich<br />

dem nächsten patienten zuwendet, fand der kollege alle wichtigen<br />

daten auf der tourenkarte. sie enthielten in form <strong>eines</strong><br />

ausgeklügelten codes alle notwendigen informationen über<br />

die abonnenten: name und adresse, in welcher woche sie beliefert<br />

wurden, ob die Bezieher beim letzten Besuch angetroffen<br />

worden waren, ob sie regelmäßig zahlten, ob die Belieferung<br />

zeitweise eingestellt werden musste.<br />

kurt ganske reichte bei seinen Besuchen in den filialen<br />

meist ein Blick in die kartei, um zu erkennen, um welche kundentypen<br />

es sich handelte, wie es um die Zahlungsmoral bestellt<br />

war und ob ein abo häufig unterbrochen wurde. es war<br />

ersichtlich, wie oft Mappen »steckenblieben«, weil man kun-<br />

44


den nicht antraf. das war immer ärgerlich, weil dadurch die<br />

Zirkulation unterbrochen wurde. erfahrene Mitarbeiterinnen<br />

in den filialen, deren aufgabe es war, den Boten die für jede<br />

tour benötigten Mappen zuzuteilen, konnten dank des ausgeklügelten<br />

kartensystems recht genau abschätzen, wie viele ersatzmappen<br />

jeder Zusteller zusätzlich benötigte, um steckengebliebene<br />

Mappen zu ersetzen. das war eine knifflige aufgabe.<br />

es durften nicht zu wenige sein, sonst wären einige abonnenten<br />

nicht pünktlich beliefert worden. es durften nicht zu<br />

viele Mappen sein – nicht nur aus kostengründen, sondern<br />

auch, um die Boten nicht in Versuchung zu führen. denn nicht<br />

benötigte Mappen konnten heimlich »eigenen kunden« zugesteckt<br />

werden. dass Boten gelegentlich versuchten, sich mit<br />

»schwarzmappen« einen kleinen nebenverdienst zu verschaffen,<br />

war ein problem, mit dem alle lesezirkel zu kämpfen hatten.<br />

wenn Vermerke auf den karteikarten nicht schlüssig waren<br />

und der Verdacht bestand, dass jemand versuchte, in die<br />

eigene tasche zu wirtschaften, scheuten sich die filialleiter<br />

nicht, ihm heimlich zu folgen. wurde ein Bote auf frischer tat<br />

ertappt, war er seinen Job los.<br />

»wenn mein Vater oder der prokurist gustav dietzel eine<br />

filiale besuchten, galt ihr erster griff immer den karteikarten«,<br />

erinnert sich Michael ganske, der älteste sohn, der bei<br />

daheim seine ersten beruflichen erfahrungen sammelte. »Mein<br />

Vater achtete sehr darauf, dass neben dem geschäftsführer der<br />

filiale immer eine sehr verlässliche frau die führung der kartei<br />

in der hand hatte. andere durften sie nicht anrühren.«<br />

die karteikarten stellten den kern des firmenvermögens<br />

dar. eine filiale wäre bei einem Verlust so orientierungslos gewesen<br />

wie ein kapitän, der auf hoher see seinen kompass verliert.<br />

deshalb gab es die kartei immer in zweifacher ausfertigung.<br />

nachts mussten die karten im tresor eingeschlossen<br />

werden. auch die schreibmaschinen wurden in schränken<br />

eingeschlossen – nicht nur, weil sie ein wertvoller teil des in-<br />

45


ventars waren, sondern auch, damit niemand heimlich etwas<br />

an den karteikarten verändern konnte. sie bildeten auch die<br />

grundlage für die entlohnung der Boten.<br />

Zu den erfindungen kurt ganskes gehörte die »sorgfaltswerbung«.<br />

das bedeutete, dass in bestimmten stadtteilen oder<br />

sogar in einzelnen straßenabschnitten ganz gezielt nach kunden<br />

für die dritte, sechste oder achte Besetzung einer Mappe<br />

gesucht wurde, denn solange der umlauf in einem Zustellbezirk<br />

nicht lückenlos war, brachten die Mappen nicht den maximalen<br />

ertrag. Zudem wurde die reibungslose Zustellung durch<br />

»lücken« erschwert. wenn es mehr kunden für die sechste als<br />

für die fünfte Besetzung gab, mussten zusätzliche Mappen bereitgestellt<br />

werden.<br />

Vater und sohn achteten stets darauf, dass ihre Mappen<br />

auch den neunten und zehnten abonnenten noch in tadellosem<br />

Zustand erreichten. Magazine mit zerrissenen oder befleckten<br />

seiten wurden auch früher schon ausgetauscht. die<br />

heute durch plastiktüten verdrängten Mappen wurden in einer<br />

eigenen abteilung sorgfältig restauriert, wenn die oberfläche<br />

verkratzt, ecken beschädigt oder die schwarzen Bänder<br />

abgerissen waren, mit denen sie an drei seiten zugebunden<br />

wurden. »das waren künstler, die da saßen und die Mappen<br />

immer wieder in einen tadellosen Zustand brachten«, erinnert<br />

sich werner hess, der als assistent des chefs in den fünfziger<br />

Jahren die filialen oft besuchte.<br />

welche organisatorische und logistische leistung hinter<br />

der raschen expansion in den Jahren 1924 bis 1938 stand, wird<br />

erst richtig deutlich, wenn die damaligen konkurrenten zum<br />

Vergleich herangezogen werden: Von den insgesamt 297 lesezirkeln,<br />

die es zu dieser Zeit gab, lieferten nur zehn mehr als<br />

1000 erstmappen aus. der nach daheim zweitgrößte lesezirkel<br />

brachte es lediglich auf 2072 erstkunden. das war gerade<br />

mal ein sechstel der primärkunden, die daheim ende der dreißiger<br />

Jahre im reichsgebiet versorgte. auch beim Vergleich der<br />

46


durchschnittlichen Besetzung, wie man im Branchenjargon<br />

die Zahl der aufeinanderfolgenden ausleihungen beziehungsweise<br />

der wochen nennt, in der eine Mappe von kunde zu<br />

kunde weitergereicht wird, lag daheim mit einem umlauf von<br />

zwölf wochen an der spitze der großen lesezirkel. das bedeutete,<br />

dass die ganskes den maximalen ertrag aus ihren Blättern<br />

herausholen konnten. denn je öfter sie dasselbe Blatt ausliehen,<br />

desto mehr kam am ende in die kasse. wenn man weiß,<br />

dass eine Zeitschrift heute in der regel höchstens viermal die<br />

leser wechselt, ehe sie endgültig aus dem Verkehr gezogen<br />

wird, kann man einschätzen, was ein zwölfmaliger umlauf<br />

wirtschaftlich bedeutete.<br />

Mit hut, weste und goldkette<br />

wie einträglich das geschäft in den dreißiger Jahren war, lässt<br />

sich auch daran erkennen, dass die ganskes nicht nur die rasche<br />

expansion ihres unternehmens mühelos finanzieren konnten.<br />

kurt ganske verdiente mit dem Zeitschriftenverleih so gut,<br />

dass er es sich leisten konnte, in nordhessen ein ansehnliches<br />

rittergut mitsamt ausgedehnten ländereien zu erwerben. in<br />

den zum gut hohenhaus gehörenden wäldern konnte richard<br />

ganske, der inzwischen das tägliche geschäft weitgehend seinem<br />

umtriebigen sohn überlassen hatte, einer leidenschaft frönen,<br />

der auch der Junior anhing und die später auf die enkel<br />

und urenkel übersprang: der Jagd. Überdies erwies sich der<br />

nicht weit von eisenach gelegene landsitz im krieg als eine<br />

sichere Zuflucht für die familie. er diente vielen Mitarbeitern<br />

nach dem stress der Bombennächte als erholungsheim und<br />

wurde zum notlager für wertvolle Manuskripte, dokumente<br />

und firmenunterlagen. nach dem krieg bot das gutshaus unterschlupf<br />

für ausgebombte führungskräfte und war nach<br />

dem Zusammenbruch nazi-deutschlands die Zentrale, von der<br />

aus der wiederaufbau des lesezirkels gesteuert wurde.<br />

47


Mit der Zahl der filialen und kunden war auch die Mitarbeiterzahl<br />

sprunghaft gestiegen: ende der dreißiger Jahre<br />

schafften 1300 frauen und Männer die Zeitschriften zu den<br />

Zentralen, füllten damit die Mappen, versahen sie mit werbeaufklebern,<br />

brachten den neuen lesestoff zu den kunden, kassierten<br />

die abo-gebühren und sammelten die alten Mappen<br />

ein, um sie gleich anschließend wieder an die abonnenten der<br />

nächsten klasse weiterzugeben, ehe sie nach der elften oder<br />

zwölften ausleihe schließlich entsorgt wurden.<br />

angesichts der nähe zum kunden, die die Boten durch ihre<br />

wöchentlichen hausbesuche hatten, bot es sich an, den Zeitschriftenverleih<br />

auch mit anderen typischen haustürgeschäften<br />

zu verbinden. ein naheliegender gedanke war, das Vertrauensverhältnis,<br />

das die austräger im laufe der Zeit zu ihren<br />

kunden aufbauten, für den Vertrieb von Versicherungsleistungen<br />

zu nutzen. Bei den Boten, die immer gleichzeitig auch kassierer<br />

waren, wurde auf ordentliche kleidung, höflichkeit und<br />

seriöses auftreten größter wert gelegt. noch in den fünfziger<br />

Jahren forderte ein geschäftsführer wie gustav dietzel beim<br />

Besuch einer filiale die Boten auf, sich in einer reihe aufzustellen<br />

und ihm ihre hände vorzuzeigen. er prüfte höchstpersönlich,<br />

ob seine austräger saubere und ordentlich geschnittene<br />

fingernägel hatten. »stalin kommt«, hieß es deshalb, wenn<br />

er sich wieder einmal angekündigt hatte.<br />

wie groß das Vertrauen vieler abonnenten zu den Boten<br />

war, zeigt sich auch daran, dass sie zu vielen wohnungen einen<br />

schlüssel besaßen oder wussten, wo er versteckt war. sie tauschten<br />

dann die Mappen aus, nahmen den fälligen Betrag aus der<br />

schatulle oder vom küchenbord und legten das wechselgeld<br />

zurück – vielleicht abzüglich <strong>eines</strong> kleinen trinkgeldes, wenn<br />

der Bezieher ihnen dies gestattet hatte.<br />

erst recht waren die zahlreichen Vertreter, die von haus<br />

zu haus gingen, um Zeitschriftenleser von den Vorzügen des<br />

gemeinschaftlichen Bezugs im rahmen <strong>eines</strong> lesezirkels zu<br />

48


überzeugen, dafür geeignet, auch andere erklärungsbedürftige<br />

dienstleistungen zu verkaufen. es waren keine »drücker«,<br />

die den fuß in die tür klemmten und mit unlauteren Methoden<br />

und falschen Versprechungen die leute in geschäfte hineinquasselten,<br />

die sie oft schon bereuten, ehe die tinte unter<br />

den Verträgen trocken war. es waren herren mit hut und anzug,<br />

die eine goldene uhrkette über der weste und weiße Manschetten<br />

trugen. Jeder werber musste sich schriftlich verpflichten,<br />

»in höflicher, taktvoller form dem zu werbenden Bezieher<br />

die leistungen und Vorzüge der angebotenen druckschriften<br />

darzulegen«. es war untersagt, wettbewerber herabzusetzen<br />

oder in irgendeiner hinsicht »einen Zwang oder druck auszuüben«.<br />

falls der angesprochene nicht zur unterschrift zu<br />

bewegen war, durften ihm keine »nachteile zum Beispiel<br />

persönlicher, wirtschaftlicher, beruflicher oder sonstiger art«<br />

angedroht werden.<br />

tatsächlich gelang es den seriösen herren, neben dem Zeitschriften-abo<br />

auch verschiedene Versicherungsdienstleistungen<br />

mit erfolg zu verkaufen. Bezieher des »lesezirkels daheim<br />

richard ganske« konnten bei ihrem Zeitschriftenlieferanten<br />

eine sterbegeldversicherung abschließen, wenn sie bei Beginn<br />

des abonnements das 55. lebensjahr noch nicht überschritten<br />

hatten. im angebot waren weiterhin eine abonnenten-unfallversicherung<br />

sowie lebensversicherungs-policen, die in Zusammenarbeit<br />

mit der albingia oder der hamburg-Mannheimer<br />

Versicherung vertrieben wurden. allerdings waren das aktivitäten,<br />

die in einer Branche, in der schon immer laut über die<br />

»auswüchse« des wettbewerbs geklagt wurde, nicht gern gesehen<br />

waren. so heißt es in einer Verbandsgeschichte: »die<br />

hauptversammlungen 1926 in hamburg und 1927 in Berlin<br />

beschäftigten sich u. a. mit der inzwischen mehr und mehr aufkommenden<br />

abonnentenversicherung in Verbindung mit der<br />

lesemappe und zeigten ihr gegenüber im allgemeinen eine<br />

oppositionelle haltung.« kurt ganske scheint das gemecker in<br />

49


der Branche allerdings nicht sonderlich gestört zu haben, denn<br />

auch in der Zeit danach verkauften seine Vertreter neben den<br />

Mappen gern auch mal die eine oder andere police, wie sich an<br />

erhalten gebliebenen Versicherungsausweisen aus den dreißiger<br />

Jahren erkennen lässt.<br />

aufschwung in den abgrund<br />

wie die meisten anderen unternehmen profitierte auch der<br />

lesezirkel daheim von der wirtschaftlichen stabilisierung, von<br />

der ökonomischen scheinblüte, die das hitler-regime dem<br />

von der weltwirtschaftskrise bis in die grundfesten erschütterten<br />

land für einige Jahre bescherte. der ideologie der nationalsozialisten<br />

standen die ganskes allerdings fern. »unser Vater<br />

war nie ein nazi«, sind seine söhne Michael und thomas<br />

zutiefst überzeugt. obwohl es damals opportun war und den<br />

geschäften nützte, hielt ihr Vater ebenso wie großvater richard<br />

distanz zu den braunen genossen. ein parteibuch hat kurt<br />

ganske nie besessen. Briefe wurden nur dann mit »heil hitler«<br />

unterzeichnet, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ – bei<br />

schreiben an Behörden, bei geschäftspartnern, die man persönlich<br />

nicht gut genug kannte, wenn es um rechtsstreitigkeiten<br />

mit lieferanten ging oder die Mitarbeiter durch anschläge<br />

am schwarzen Brett über betriebliche dinge oder<br />

staatliche anordnungen unterrichtet werden mussten. auch<br />

später, nachdem sich kurt ganske an dem traditionsreichen<br />

hoffmann und campe Verlag beteiligt hatte, bei dem braunes<br />

gedankengut stets verpönt blieb, konnte der nazi-gruß nicht<br />

immer umgangen werden. wenn Bewerbern oder autoren absagen<br />

erteilt wurden, durfte man ihnen keine ansatzpunkte<br />

für eventuelle racheakte liefern.<br />

kurt ganske scheute sich nicht, Mitarbeiter einzustellen<br />

und ihnen Verantwortung zu übertragen, die wegen ihrer politischen<br />

einstellung aus dem staatsdienst entlassen worden wa-<br />

50


en. er hatte auch keine Bedenken, mit einem ausländer mitten<br />

im krieg gemeinsam ein unternehmen zu betreiben, wie<br />

er mit seiner Beteiligung am hoffmann und campe Verlag<br />

bewies.<br />

dennoch hinterließ die »Machtergreifung« der nazis auch<br />

im unternehmen der ganskes bald ihre spuren. der eilmarsch<br />

der deutschen in die diktatur wirkte sich bei Verlagen, Buchhandlungen,<br />

lesezirkeln und anderen Medienunternehmen<br />

noch schneller und tiefgreifender aus als bei der großen Mehrzahl<br />

der deutschen unternehmen. denn dafür, wie ein Bettenproduzent<br />

seine Matratzen oder ein fleischer seine würste<br />

füllte, spielte die herrschende ideologie keine rolle. die inhalte<br />

der Zeitungen und Zeitschriften, das sortiment der Buchhandlungen<br />

und die füllung der Zeitschriftenmappen dagegen<br />

waren für die braunen herren von größter Bedeutung. das<br />

zeigte sich schon innerhalb weniger Monate nach der »Machtergreifung«.<br />

die werke missliebiger autoren wie Joachim ringelnatz,<br />

egon friedell, kurt tucholsky, erich kästner oder heinrich<br />

heine mussten auf grund amtlicher anweisungen aus den regalen<br />

entfernt werden. hetzschriften wie »Mein kampf« oder<br />

»der Mythus des 20. Jahrhunderts« und andere Machwerke aus<br />

dem ideologischen waffenarsenal der nazis wurden dafür in<br />

den Bücherstuben an bevorzugter stelle ausgelegt. noch schneller<br />

wandelten sich die inhalte, mit denen die lesemappen gefüllt<br />

wurden. die titel der Zeitschriften änderten sich zwar<br />

nicht, aber ihre ausrichtung. sie wurden – wie die gesamte<br />

presse – gleichgeschaltet. die Zeitschriften färbten sich mehr<br />

und mehr braun ein oder verschwanden vom Markt. was gedruckt<br />

werden durfte, bestimmten Joseph goebbels und sein<br />

reichspropagandaministerium. Verleger und Journalisten, die<br />

sich widersetzten, wurden in den ruin getrieben, entlassen<br />

und in vielen fällen verhaftet. Verlage, die in jüdischem Besitz<br />

waren, wurden rücksichtslos »arisiert«.<br />

51


für die Betreiber von lesezirkeln wirkte sich die herrschaft<br />

der braunen Banditen in anderer form aus. ihre Betriebe<br />

wurden ihnen – sofern sie keine Juden waren – zwar nicht<br />

streitig gemacht. aber ebenso wie alle anderen unternehmer<br />

hatten sie einen »ariernachweis« zu erbringen. das galt selbstverständlich<br />

auch für die familie ganske. die industrie- und<br />

handelskammer hannover schrieb ihnen unter dem datum<br />

vom 13. august 1936: »wir haben uns zu der frage zu äußern,<br />

ob ihr unternehmen als rein deutsch/arisch anzusehen ist,<br />

und bitten sie, uns bejahendenfalls eidesstattlich versichern zu<br />

wollen, dass der oder die sämtlichen inhaber ihres unternehmens<br />

reichsbürger im sinne der nürnberger gesetzgebung<br />

sind.« schon zwei tage später wurde die gewünschte erklärung<br />

zur post gegeben und bestätigt, dass die inhaber in gestalt<br />

von richard ganske und seiner kinder kurt, käthe und<br />

hilde deutsche im sinne der rassegesetze seien. wenig später<br />

wurde der Verband der lesezirkelbesitzer zwangsweise – aber<br />

auch widerstandslos – in die reichskulturkammer eingegliedert.<br />

alle lesezirkel mussten dieser zur kontrolle und lenkung<br />

des gesamten kulturbetriebes geschaffenen institution<br />

19<strong>34</strong> beitreten.<br />

nützliche packesel des regimes<br />

den lesezirkelbesitzern blieb nur die wahl, sich zu fügen oder<br />

ihren Betrieb und damit die existenzgrundlage ihrer familien<br />

und der Mitarbeiter aufzugeben. auf den inhalt der Zeitschriften<br />

hatten sie damals wie heute keinen einfluss. das verbot zuvor<br />

die pressefreiheit und später das propagandaministerium.<br />

aber immerhin konnten sie vor 1933 den inhalt ihrer Mappen<br />

dadurch beeinflussen, dass sie bestimmte Blätter in ihr angebot<br />

aufnahmen oder aus der liste strichen. nun mussten<br />

sie ihr sortiment an frauenzeitschriften durch titel wie die<br />

NS-Frauenwarte ergänzen und ihren abonnenten die Brennessel<br />

52


und andere braune Blätter zumindest zum Bezug anbieten.<br />

der Illustrierte Beobachter war pflichtblatt und musste jeder lesemappe<br />

beigelegt werden.<br />

während jeder inhaber vor 1933 selbst entscheiden konnte,<br />

wie er seinen Betrieb organisierte und unter welchen konditionen<br />

er den kunden seine leistungen anbot, wurden seine unternehmerischen<br />

freiheiten nach der »Machtergreifung« mehr<br />

und mehr eingeschränkt. wie schnell sich der braune ungeist<br />

bis in die letzten winkel ausbreitete, lässt sich an der daheim-<br />

Betriebsordnung aus dem Jahr 19<strong>34</strong> ablesen. in ihrer gleichgeschalteten<br />

sprache entsprach sie dem Jargon der Zeit. Bereits<br />

die markige Überschrift ließ erkennen, woher der wind wehte:<br />

»in meiner eigenschaft als führer des Betriebes lesezirkel<br />

daheim richard ganske erlasse ich für die gesamte gefolgschaft<br />

des Betriebes folgende Betriebsanordnung.« im ersten<br />

abschnitt ist nicht etwa davon die rede, dass unternehmer<br />

und Mitarbeiter die firma gemeinsam aufgebaut hätten und<br />

weiter erfolgreich betreiben wollten. stattdessen hieß es schwülstig:<br />

»der Betrieb ist ein uns vom deutschen Volke anvertrautes<br />

gut. führer und gefolgschaft haben das gemeinsame Ziel, den<br />

Betrieb gesund und leistungsfähig zu erhalten.« im anschluss<br />

werden rechte und vor allem pflichten der gefolgschaft detailliert<br />

niedergelegt und festgestellt, dass im Betrieb ebenso wie<br />

im reich den anordnungen des führers gewissenhaft folge zu<br />

leisten sei. größere Verstöße gegen die Betriebsordnung konnten<br />

vom führer mit fristloser entlassung oder einer geldbuße<br />

in höhe <strong>eines</strong> tagesverdienstes geahndet werden. Bei kleineren<br />

Vergehen waren geldstrafen bis zu einem halben tageslohn<br />

möglich. in beiden fällen waren die einbehaltenen Beträge in<br />

voller höhe »zum Besten der ns-Volkswohlfahrt zu verwenden«.<br />

was dem wohl des Volkes diente oder den »Volkskörper«<br />

krank machte, bestimmte allein die partei. lesezirkel zählten<br />

für sie zu den einrichtungen, die zur pflege <strong>eines</strong> gesunden<br />

geistes geeignet waren. solange sie die gewünschten inhalte<br />

53


verbreiteten, waren sie sogar ein höchst nützliches instrument,<br />

um die propaganda des regimes auf rohstoffe sparende weise<br />

unter möglichst vielen lesern zu verbreiten. Bei kriegsausbruch<br />

versorgten die 297 beim reichspresseamt registrierten<br />

lesezirkel mit ihren 53 363 erstmappen einen fast zehnmal so<br />

großen kundenkreis, der insgesamt über eine halbe Million<br />

abonnenten umfasste. einschließlich der mitlesenden familienangehörigen<br />

und der vielen leser, die bei Ärzten und anwälten,<br />

in frisiersalons, cafés oder restaurants die Zeitschriften<br />

zur hand nahmen, garantierten die lesezirkel der propaganda<br />

einen noch weit höheren wirkungsgrad. Je knapper im<br />

laufe des krieges die papiervorräte wurden, je mehr engpässe<br />

bei der Belieferung mit druckerschwärze, ersatzteilen, strom<br />

und kohle auftraten, je mehr druckereien durch Bomben zerstört<br />

wurden, desto wichtiger wurde für das regime die intensive<br />

nutzung der Blätter, wie sie die lesezirkel durch ihr Verteilersystem<br />

garantierten.<br />

die reichspressekammer bedankte sich 1937 auf ihre art<br />

für die nützlichen dienste, die die lesezirkel – ob freiwillig<br />

oder notgedrungen – für das propagandaministerium leisteten.<br />

sie brachte erstmals »ordnung« in die Branche. das entsprach<br />

nicht nur der ideologie einer staatlich gelenkten wirtschaft,<br />

es gefiel auch vielen Betreibern kleiner lesezirkel.<br />

durch die »Berufsschutzanordnung« wurde ihnen so mancher<br />

langgehegte herzenswunsch erfüllt. Von stund an war es vorbei<br />

mit dem bei Verbandstagen früher gebetsmühlenartig beklagten<br />

»wildwuchs«. in den »geschäftsgrundsätzen für lesezirkel«<br />

wurde penibel geregelt, wie viele Zeitschriften eine<br />

Mappe zu enthalten habe, welche Mindestpreise von den abonnenten<br />

verlangt werden mussten und wie unterbietungen –<br />

man könnte es auch preiswettbewerb nennen – zu verhindern<br />

seien. Besonders erfreut waren sicherlich viele lesezirkelbetreiber<br />

darüber, dass konkurrenten jeder abwerbeversuch bei<br />

hotels, gaststätten oder friseuren ausdrücklich verboten wur-<br />

54


de. das hinderte leistungsfähige Betriebe wie daheim daran,<br />

einem weniger gut geführten lesezirkel diese lukrativen kunden<br />

mit günstigeren angeboten wegzuschnappen. Zu den vielen<br />

reglementierungen gehörte auch, dass die lesezirkel verpflichtet<br />

wurden, nach höchstens 25 wochen die Zeitschriften<br />

endgültig aus dem Verkehr zu ziehen und die Blätter zum einstampfen<br />

abzuliefern. das sicherte ihre wiederverwertung als<br />

altpapier – und war <strong>eines</strong> der vielen kleinen indizien dafür,<br />

dass für die rohstoffknappheit, die bei einem künftigen krieg<br />

zu erwarten war, Vorsorge getroffen wurde, schon lange bevor<br />

das unglück mit dem Überfall auf polen seinen lauf nahm.<br />

ihre rolle als nützliche esel des regimes bewahrte die lesezirkel<br />

davor, frühzeitig als »kriegsunwichtig« geschlossen zu<br />

werden. sie gehörten im gegenteil zu den letzten, die dem<br />

»endsieg« geopfert wurden. Bei anderen »kriegsunwichtigen<br />

Betrieben« waren die verbliebenen Mitarbeiter schon längst abgezogen<br />

worden, um entweder kanonen zu produzieren oder<br />

als kanonenfutter zu dienen. 1901 deutsche Verlage, 6155 Buchhandlungen<br />

und 910 leihbüchereien erhielten ihre schließungsverfügung<br />

am 26. august 1944. das vorläufige ende für<br />

die lesezirkel kam vier wochen später. da gab es ohnehin kaum<br />

noch etwas zu verleihen, weil keine neuen Zeitschriften mehr<br />

produziert wurden. um auch noch die letzten verfügbaren kräfte<br />

für die rüstungsindustrie zu mobilisieren, erhielten die Zeitschriftenverleiher<br />

ihre stilllegungsverfügung per 30. september<br />

1944, knapp acht Monate vor der bedingungslosen kapitulation<br />

der wehrmacht am 8. Mai 1945. Viele der vom schließungsbefehl<br />

erfassten Betriebe lagen zu diesem Zeitpunkt bereits in<br />

schutt und asche. das galt auch für die Zentrale und die meisten<br />

der 30 filialen des lesezirkels daheim. doch bis der vom<br />

hitler-regime entfesselte krieg mit einer totalen niederlage<br />

endete, waren schwierige Jahre zu überwinden, die den noch<br />

immer jungen unternehmer kurt ganske und seinen Vater vor<br />

manch schwere entscheidung stellten.<br />

55


Zweites kapitel<br />

Zwei Manner, ¨<br />

Zwei<br />

frauen und ein<br />

geheiMer plan


s iebzehn Jahre lang hatte kurt ganske mit wachsendem erfolg<br />

Bücher und vor allem Zeitschriften verkauft und verliehen,<br />

die andere konzipiert, geschrieben, redigiert und gedruckt<br />

hatten. Mit 36 Jahren wurde er selbst Verleger. warum?<br />

wollte er endlich ein eigenes Verlagsprogramm gestalten, themen<br />

aufgreifen oder setzen, autoren entdecken und fördern?<br />

das vermutlich auch. aber es gab noch einenheimlichen hintergedanken.<br />

ganske hatte sicher lange nach dem richtigen objekt gesucht,<br />

sich die programme verschiedener Verlage angesehen,<br />

vielleicht mit dem einen oder anderen inhaber gesprochen.<br />

gut möglich, dass er sich dabei absagen eingehandelt hatte.<br />

wer einen renommierten, wirtschaftlich gesunden Verlag besitzt,<br />

hat meist kein interesse daran, ihn zu verkaufen oder sich<br />

die »alleinherrschaft« mit einem partner zu teilen. wer ganz<br />

aus dem geschäft aussteigen will, hat dafür oft gründe, die einen<br />

investor abschrecken können. es gibt auch gute gründe<br />

für den Verkaufswunsch oder die suche nach einem partner –<br />

etwa wenn kein geeigneter nachfolger vorhanden ist oder ein<br />

weiteres wachstum nicht aus eigener kraft finanziert werden<br />

kann. nach 1933 gab es in deutschland aber auch schlechte<br />

gründe für einen Verkauf, nämlich druck, schikanen und gewalt<br />

von seiten des nazi-staates, wenn ein Verlag in jüdischem<br />

Besitz war.<br />

Mit wem kurt ganske vielleicht schon gesprochen hatte, ehe<br />

er seine entscheidung traf, ist nicht bekannt. es lässt sich heute<br />

auch nicht mehr mit sicherheit sagen, warum er sich schließ-<br />

59


lich für den traditionsreichen hamburger Verlag hoffmann<br />

und campe entschied. warum dieser und kein anderer? es gibt<br />

keine aktennotizen, tagebucheinträge oder andere aufzeichnungen,<br />

die darüber auskunft geben. fest steht nur, dass er<br />

anfang 1941 eine Beteiligung von zunächst 50 prozent erwarb.<br />

auffällig daran ist, dass er sich mitten im krieg für ein unternehmen<br />

entschied, das von einem ausländer geführt wurde.<br />

alleineigentümer war seit 1933 der däne Martinus christensen.<br />

Bemerkenswert ist zweitens die geradlinigkeit, die der<br />

Verlag bis dahin bewiesen hatte. hoffmann und campe war<br />

seit über 100 Jahren der Verlag heinrich h<strong>eines</strong> und anderer<br />

von der obrigkeit wenig geschätzter autoren. seit 1826 erschienen<br />

die Bücher des rebellischen dichters und anderer kritischer<br />

geister bei »hoca«. Bis ende der zwanziger Jahre, als<br />

die Buchproduktion wegen der inflation für einige Zeit eingestellt<br />

werden musste, waren h<strong>eines</strong> werke dort immer wieder<br />

neu aufgelegt worden. fünf Jahre später landeten sie auf dem<br />

scheiterhaufen. für die nazis zählte heine zu den »geistigen<br />

Volksschädlingen«. in den mehr als 200 Jahren Verlagsgeschichte<br />

haben außer heinrich heine auch zahlreiche andere,<br />

zu ihrer Zeit von der staatsmacht mit Misstrauen beobachtete<br />

autoren ihre schriften bei hoffmann und campe publiziert.<br />

dem seit 1781 existierenden Verlag des »Jungen deutschland«<br />

hatte das mehrfach schließungsandrohungen, einmal ein Verbot<br />

aller seiner Bücher und dem damaligen inhaber Julius<br />

campe 1855 sogar eine gefängnisstrafe eingebracht.<br />

seiner freigeistigen tradition war der Verlag auch treu geblieben,<br />

als nach 1933 erneut die Zensur das literarische leben<br />

zu ersticken drohte. als der damalige Verlagsleiter arnold<br />

fuß vor den nazis die flucht ergreifen musste, rückte der Verlag<br />

trotzdem nicht verängstigt von seiner programmatischen<br />

position ab. statt Blut-und-Boden-literatur druckte er weiter<br />

klassiker und publizierte in- und ausländische autoren, deren<br />

werke nicht vom braunen Zeitgeist durchweht wurden. land-<br />

60


serliteratur hat es nie gegeben. wenn frontausgaben produziert<br />

wurden, dann waren es titel wie »herrlich ist die welt«,<br />

die ein gegenbild zum grausamen alltag an der front boten.<br />

statt auf die völkische linie einzuschwenken, wurde 1937 mit<br />

der herausgabe einer »europa-Bibliothek« begonnen und 1939<br />

die broschierte taschenbuchreihe »geistiges europa« begründet.<br />

herausgeber war albert erich Brinckmann, ehemals ordinarius<br />

für kunstgeschichte in Berlin, dem seine professur<br />

zwei Jahre nach der Machtergreifung aberkannt worden war.<br />

an dieser linie hatte sich nichts geändert, als kurt ganske in<br />

das unternehmen eintrat. auch danach gab es nur hin und<br />

wieder minimale konzessionen.<br />

ein dritter bemerkenswerter punkt ist die person, die er zur<br />

wahrnehmung seiner interessen in den Verlag einbrachte. es<br />

war harriet wegener, das fräulein doktor, wie kurt ganske sie<br />

meist nannte. das fräulein war allerdings »eine wunderbare<br />

frau«, wie sich seine söhne thomas und Michael unisono erinnern,<br />

obwohl beide noch recht jung waren, als sie sie kennenlernten.<br />

werner hess, der ihr Mitte der fünfziger Jahre als<br />

assistent des Verlegers oft begegnete, beschreibt sie »als eine<br />

ganz großartige persönlichkeit«. siegfried lenz, der sie als<br />

junger autor kennengelernt hat, erlebte sie als »eine sehr liebenswürdige<br />

alte dame«. alle erinnern sich allerdings auch<br />

an den bläulichen nebel, der die kettenraucherin ständig umwehte.<br />

»Man schaute gebannt zu, wie die asche an der spitze<br />

ihrer Zigarette immer länger wurde, und erwartete, dass sie<br />

auf ihr kleid fallen würde«, schmunzelt lenz. »aber es passierte<br />

nie.«<br />

politisch nicht zuverlässig<br />

alles andere als nebulös war ihre politische haltung. »schwein<br />

bleibt schwein, auch wenn es perlen frisst«, pflegte sie über<br />

hitler zu sagen, wenn keine mutmaßlichen denunzianten in<br />

61


der nähe waren. kurz nach kriegsende schrieb sie in einem<br />

Brief an gerda ganske, die frau des Verlegers: »ich habe hitler<br />

und seine leute ja immer für Verbrecher gehalten, aber<br />

dass sie deutschland so bis in grund und Boden ruinieren und<br />

dann selbst ein so unrühmliches ende nehmen würden, hätte<br />

ich doch nicht gedacht. sie haben heldenmut wirklich immer<br />

nur von den anderen verlangt. aber da man das alles nicht ungeschehen<br />

machen kann, muss man so bald wie möglich an<br />

den wiederaufbau gehen. gott gebe, dass ihr Mann uns dabei<br />

helfen wird.« das war zu einem Zeitpunkt, als niemand wusste,<br />

ob und wann kurt ganske aus krieg und gefangenschaft zurückkehren<br />

würde.<br />

die 1890 in oberhessen geborene harriet wegener hatte in<br />

einer Zeit geschichte und nationalökonomie studiert und mit<br />

dem thema »frauenarbeit im kriege« zum dr. rer. pol. promoviert,<br />

als dies für junge frauen noch k<strong>eines</strong>wegs selbstverständlich<br />

war. sie beherrschte englisch, französisch und italienisch.<br />

ihr Versuch, sich später zusätzlich die russische sprache anzueignen,<br />

scheiterte, weil ihr lehrer 19<strong>34</strong> fluchtartig das land<br />

verlassen musste. sie selbst musste zwar nicht um leib und leben<br />

fürchten, verlor aber im gleichen Jahr aus politischen<br />

gründen ihren arbeitsplatz als Bibliothekarin des instituts für<br />

auswärtige politik. gleichzeitig wurden ihr alle pensionsansprüche<br />

gestrichen. ihr Verbrechen bestand darin, dass sie vor<br />

1933 Mitglied der deutschen demokratischen partei (ddp) gewesen<br />

war und sie eine enge freundschaft mit hamburgs erstem<br />

Bürgermeister carl wilhelm petersen verband, der ebenfalls<br />

kurz nach der »Machtergreifung« aus dem amt gejagt<br />

worden war. doch sie hatte auch danach »stets enge fühlung<br />

mit meinen jüdischen und linksgerichteten freunden gehalten«,<br />

wie sie später in einem Brief schrieb, als man so etwas wieder<br />

ohne gefahr zu papier bringen konnte.<br />

wegener war Mitglied des hamburger Zonta-clubs, <strong>eines</strong><br />

weiblichen gegenmodells zu den damals nur den herren der<br />

62


schöpfung vorbehaltenen rotariern oder lions. doch die<br />

selbstbewussten damen mussten sich bereits 1933, nur ein Jahr<br />

nach gründung ihres clubs, wieder aus dem Vereinsregister<br />

streichen lassen. danach konnten sie sich nur noch heimlich<br />

in privater umgebung treffen – nicht zuletzt deshalb, weil sie<br />

sich nicht von ihren jüdischen Mitgliedern trennen wollten.<br />

»ich finde emanzipation normal«, steht als Zitat unter harriet<br />

wegeners Bild in einer Vereinsgeschichte des nach dem krieg<br />

neu gegründeten hamburger Zonta-clubs.<br />

nach dem Verlust ihres scheinbar sicheren arbeitsplatzes<br />

war es für jemanden, der als »politisch unzuverlässig« abgestempelt<br />

wurde, sehr schwer, den lebensunterhalt mit einer<br />

angemessenen tätigkeit zu verdienen. harriet wegener fand<br />

aber sowohl bei der essener Verlagsanstalt als auch bei hoffmann<br />

und campe Menschen, die bereit waren, sie als freie<br />

Mitarbeiterin zu beschäftigen. so verdiente sie ihr geld mit<br />

aufsätzen, gutachten zu eingereichten Manuskripten, probeübersetzungen<br />

französischer oder italienischer autoren und –<br />

wenn deren Bücher daraufhin in das Verlagsprogramm aufgenommen<br />

wurden – später mit der kompletten Übersetzung<br />

dieser werke. daneben war sie auch als »themen-scout« für<br />

die Verlage tätig und machte auf ins programm passende neuerscheinungen<br />

im ausland aufmerksam oder gab hinweise<br />

weiter, die sie von englischen freunden erhalten hatte. aus<br />

dem regen Briefwechsel, den harriet wegener mit ilse tönnies,<br />

der in Berlin residierenden cheflektorin von hoffmann<br />

und campe, in den Jahren nach dem rauswurf führte, geht<br />

hervor, dass das so erzielte einkommen trotz allen eifers wohl<br />

in die kategorie »zum leben zu wenig, zum sterben zu viel«<br />

gehörte. denn für einen tipp aus Berlin bedankt sie sich mit<br />

den worten: »ich habe mich sofort für die lektorenarbeit gemeldet<br />

und danke ihnen für den hinweis. es wäre mir sehr<br />

lieb, solche nebenarbeit zu bekommen.« dass die aufträge oft<br />

spärlich flossen, lässt auch eine Bemerkung von tönnies vom<br />

63


februar 1940 ahnen, in der sie ihre freude darüber zum ausdruck<br />

bringt, »dass sie nun doch wieder eine Übersetzungsarbeit<br />

haben«. und sie erkundigt sich besorgt: »hoffentlich sitzen<br />

sie noch warm?«<br />

harriet wegener wird deshalb mehr als erfreut gewesen<br />

sein, als kurt ganske ihr 1942 anbot, in seine dienste zu treten.<br />

da er selbst abwechselnd auf seinem gut in hohenhaus<br />

und in hannover wohnte, wo sich die Zentrale des lesezirkels<br />

befand, und zudem regelmäßig zwischen seinen 30 daheimfilialen<br />

pendelte, brauchte er in hamburg eine person s<strong>eines</strong><br />

Vertrauens, die ihm über die entwicklung im Verlag, die programmplanung<br />

und die Verhandlungen mit den autoren berichtete.<br />

als er sich nach einer dafür geeigneten person umsah,<br />

müssen ihn ilse tönnies oder Martinus christensen auf die<br />

freie Mitarbeiterin hingewiesen haben, die damals schon seit<br />

mehr als sieben Jahren alle aufträge pünktlich und gewissenhaft<br />

erledigt und dabei ihre urteilskraft unter Beweis gestellt<br />

hatte.<br />

ganske fand an dem damals 52-jährigen »fräulein doktor«<br />

offenbar sofort gefallen. dennoch stellte er sie nicht als Verlagsmitarbeiterin<br />

ein. er setzte sie vielmehr auf die lohnliste s<strong>eines</strong><br />

lesezirkels. Über die gründe rätselten selbst sein partner<br />

christensen und ilse tönnies. es ärgerte sie sogar, wie erhalten<br />

gebliebene Briefe verraten, denn auf diese art durfte eine<br />

Betriebsfremde in Verlagsangelegenheiten mitreden. dass beide<br />

mit einer direkten anstellung beim Verlag gerechnet hatten,<br />

geht aus einem Brief von ilse tönnies hervor, den sie am<br />

11. november 1942 zur post gab. die absage <strong>eines</strong> auftrages<br />

verbindet sie nämlich mit dem geheimnisvollen hinweis, dass<br />

»die herren des Verlags, soviel ich hörte, eine ganz andere aufgabe<br />

für sie haben, die ich außerordentlich reizvoll finde und<br />

die ihnen zweifellos große freude machen wird. ich will aber<br />

noch nichts gesagt haben. sie werden es im Verlag ja dann<br />

selbst hören … herr christensen lässt sie für die nächste wo-<br />

64


che um ihren Besuch bitten.« es folgt dann noch ein diskreter<br />

hinweis, wie sie bei den Verhandlungen mit christensen über<br />

die abgeltung der bis dahin geleisteten arbeit taktieren solle.<br />

dazu »möchte ich ihnen privat und andeutungsweise die summe<br />

von 100 Mark nennen«.<br />

auch wenn er sich selbst gegenüber seinem partner darüber<br />

nicht äußerte, wird kurt ganske mindestens zwei gute gründe<br />

dafür gehabt haben, dass die »außerordentlich reizvolle aufgabe«<br />

erst viele Jahre später zu einer anstellung bei hoffmann<br />

und campe führte. Zum einen war auf diese weise ganz klar,<br />

wem harriet wegeners loyalität in erster linie galt. Zum anderen<br />

war es weniger auffällig, wenn eine frau, die politisch<br />

als vorbelastet galt, bei der grünen Mappe, der hamburger<br />

tochter des lesezirkels, angestellt wurde. dort konnte sie zwischen<br />

vielen anderen »gefolgsleuten« in der personalliste verschwinden.<br />

außenstehenden blieb verborgen, ob sie mit dem<br />

führen von karteikarten oder dem sortieren von Zeitschriften<br />

beschäftigt wurde. ganz anders wäre es gewesen, wenn die<br />

»politisch unzuverlässige« plötzlich bei einem dem regime<br />

nicht gerade nahestehenden Verlag aufgetaucht wäre, der weniger<br />

als zehn fest angestellte Mitarbeiter hatte – noch dazu als<br />

Vertraute des Verlegers.<br />

selbst diese konspirative lösung war nicht ganz unproblematisch.<br />

in einer aktennotiz vom 5. Mai 1942 über eine »Besprechung<br />

zwischen herrn ganske, frl. wegener und herrn<br />

nicodemus«, dem leiter der hamburger filiale, wurde festgehalten:<br />

»dr. wegener wird offiziell von der hamburger filiale<br />

grüne Mappe eingestellt werden, aber für die Zentrale in hannover<br />

und für den Verlag hoffmann und campe arbeiten …<br />

fräulein wegener ist mit jeder formellen regelung einverstanden,<br />

die sicherheit dafür gibt, dass der grünen Mappe dadurch<br />

keine neuen personalschwierigkeiten erwachsen.« filialleiter<br />

nicodemus erklärte sich bereit, harriet wegener den<br />

Betrieb zu zeigen und sie darin einzuweihen, wie ein lesezir-<br />

65


kel funktioniert. das sollte aber möglichst an einem sonntag<br />

geschehen. auch im backsteinroten chilehaus in der hamburger<br />

innenstadt, in dem die grüne Mappe damals ihren sitz<br />

hatte, sollten sich die dort tätigen Mitarbeiter möglichst keine<br />

gedanken darüber machen, wer die neue kollegin wohl sei<br />

und welche aufgaben sie habe.<br />

diese lösung hatte allerdings einen nachteil: es kostete<br />

harriet wegener in der ersten Zeit einige Mühe und viel nerven,<br />

das aufkeimende Misstrauen von Martinus christensen zu<br />

überwinden. er hielt zu ihrem Ärger mit informationen hinter<br />

dem Berg und nahm es ihr übel, wenn sie fragen stellte. er zog<br />

daraus den schluss, dass sie sich ein recht auf information anmaßte.<br />

er war der Meinung, dass es sich um einen gnadenakt<br />

des Verlegers handele, wenn er sein herrschaftswissen mit angestellten<br />

teilte. harriet wegener beklagte sich deshalb in ihren<br />

Briefen an kurt ganske immer wieder bitter darüber, dass<br />

christensen sie oft nicht ins Vertrauen ziehe, ihr Briefe vorenthalte<br />

oder sie von Besprechungen mit autoren ausschließe.<br />

»wahrscheinlich fürchtet er, dass sie mich <strong>eines</strong> tages als ihren<br />

Vertreter einsetzen.« umgekehrt beobachtete christensen<br />

mit argwohn, dass sie regelmäßig nach hohenhaus berichtete,<br />

wie sich die dinge in hamburg entwickelten. Bei einer dieser<br />

auseinandersetzungen verstieg er sich zu dem Vorwurf, es sei<br />

»einmalig in der wirtschaftsgeschichte«, dass sie ganske über<br />

Verlagsangelegenheiten informiere.<br />

kampf der königinnen<br />

als der partner sich wieder einmal in hamburg sehen ließ, kam<br />

es zur aussprache. es wurde vereinbart, dass die für ganske<br />

bestimmten Berichte nummeriert und christensen jeweils als<br />

durchschlag auf den schreibtisch gelegt werden sollten. so geschah<br />

es auch. was der däne nicht wusste: es gab daneben »inoffizielle«<br />

Briefe, deren laufende nummer harriet wegener<br />

66


auf Vorschlag ihres chefs mit einem »a« ergänzte. sie enthielten<br />

zusätzliche informationen, von denen fräulein doktor<br />

der Meinung war, dass sie – da sie sich oft auch auf geschehnisse<br />

bei der grünen Mappe bezogen – weder christensen<br />

noch tönnies etwas angingen. auch ihre »klagelieder Jeremiae«,<br />

die sie später gelegentlich noch anstimmte, wenn es um<br />

das schwierige dreiecksverhältnis christensen, tönnies und<br />

wegener ging, blieben den a-Briefen vorbehalten. umgekehrt<br />

»vergaß« aber auch ilse tönnies sehr oft, der hamburger kollegin<br />

– wie vereinbart – durchschläge ihrer Briefe an christensen<br />

zu schicken. »Meist liest mir herr chr. teile daraus vor«,<br />

berichtete harriet wegener nach hohenhaus. aber was er wegließ,<br />

dürfte sie noch mehr interessiert haben.<br />

dennoch versicherte harriet wegener im vertraulichen teil<br />

ihrer Berichte immer wieder, dass sie sich alle Mühe gebe, ein<br />

Vertrauensverhältnis zu dem dickschädeligen dänen aufzubauen.<br />

das gelang ihr zwar im laufe der Zeit recht gut, es gab<br />

aber immer wieder rückschläge. christensen erinnerte sie<br />

dann gern daran, dass ganske laut Vertrag nur einen »herrn<br />

mit langjähriger Verlagserfahrung« zu seinem Vertreter im<br />

Verlag ernennen dürfe. wegener bemühte sich, »ihm möglichst<br />

die Vorstellung zu nehmen, dass ich deshalb, weil ich für sie<br />

arbeite, gegen ihn sein muss«, und erklärte die ständigen<br />

Quengeleien christensens mit der feststellung: »irgendwo ist<br />

er ja so etwas wie ein misstrauischer Bauer.« Vertrauensbildende<br />

Maßnahmen wurden daher zu einem wichtigen teil<br />

ihrer tätigkeit.<br />

um für ihre chefs nicht nur in fragen der literatur, sondern<br />

auch in anderen Verlagsangelegenheiten eine gleichwertige<br />

gesprächspartnerin zu sein, war die 53-Jährige sogar<br />

bereit, neben ihren vielfältigen aufgaben auch noch eine<br />

Buchhändler- oder Verlagslehre zu absolvieren und wie jeder<br />

andere »stift« eine prüfung vor der industrie- und handelskammer<br />

abzulegen. doch das führte zu neuen problemen.<br />

67


»eine schwierigkeit für meine anmeldung als lehrling ist, dass<br />

kein lehrlingsvertrag vorliegt und ich überhaupt nicht bei<br />

h.u.c. angestellt bin«, berichtete harriet wegener über neue<br />

probleme nach hohenhaus. »wenn ich daher in der richtung<br />

etwas unternehme, wird herr christensen es zum Vorwand<br />

nehmen, auf anstellung beim Verlag zu drängen; und was soll<br />

ich dann sagen?« irgendwie muss darauf eine antwort gefunden<br />

worden sein, denn selbst in den letzten wochen vor kriegsende<br />

ließ sich die akademikerin noch regelmäßig von einer<br />

Buchhändlerin auf die lehrlingsprüfung vorbereiten, die im<br />

März 1945 stattfinden sollte. doch in den letzten kriegsmonaten<br />

war daran nicht mehr zu denken. und später war es nicht<br />

mehr erforderlich.<br />

auch das Verhältnis zu der in Berlin residierenden cheflektorin<br />

ilse tönnies blieb nicht spannungsfrei. solange harriet<br />

wegener fleißig gutachten geschrieben und Übersetzungen<br />

abgeliefert hatte, war der ton der Briefe immer herzlich und<br />

über die beruflichen anliegen hinaus von persönlicher anteilnahme<br />

geprägt. wenn die zwölf Jahre jüngere ilse tönnies in<br />

hamburg war, besuchte sie die geschätzte Mitarbeiterin gern<br />

in ihrem haus im hamburger Vorort flottbek und bewunderte<br />

ihren mit großer liebe gepflegten garten. Man tauschte<br />

sich über das Verlagsprogramm aus und sinnierte darüber,<br />

welche Bücher die Menschen wohl lesen wollten, wenn endlich<br />

wieder frieden sei. Beide erkundigten sich regelmäßig nach<br />

dem wohlergehen der familienangehörigen. der literarische<br />

gedankenaustausch wurde gelegentlich durch den austausch<br />

von kochrezepten ergänzt, mit deren hilfe man auch in kriegszeiten<br />

schmackhafte gerichte auf den tisch zaubern konnte.<br />

regelmäßig erkundigten sich die beiden damen, die sich gegenseitig<br />

auch nach vielen Jahren der Zusammenarbeit immer<br />

noch mit fräulein doktor anredeten, mitfühlend, wie es um<br />

die gesundheit bestellt sei, ob es ausreichend kartoffeln gebe<br />

oder ob die andere noch kohlen im keller habe.<br />

68


nachdem harriet wegener mit ihrer arbeit im Verlag begonnen<br />

hatte, wurde der ton spitzer. ilse tönnies konnte es<br />

nur schwer ertragen, dass ihre ehemalige Mitarbeiterin nun<br />

überall mitreden wollte, sich einmischte, wenn es um Verlagsangelegenheiten<br />

ging. es störte sie, dass die kollegin nicht nur<br />

das ohr des neuen Verlegers besaß, sondern nun auch den<br />

standortvorteil hatte, dass ihr schreibtisch in der nähe des<br />

alten Verlegers stand. harriet wegener bemühte sich immer<br />

wieder um deeskalation: »ich bedauere, ihren Zorn so sehr erregt<br />

zu haben, bedauere es umso mehr, als sie im augenblick<br />

ja schon Ärger und Mühe genug haben … es liegt mir vollkommen<br />

fern, in ihre kompetenzen hinsichtlich der ›europa-Bibliothek‹<br />

eingreifen zu wollen«, schrieb sie ilse tönnies.<br />

in ihren Briefen an kurt ganske aber klagte sie: »in<br />

der neuen reihe macht dr. tönnies so ziemlich, was sie will.<br />

herrn christensens gelegentliche einwände schiebt sie beiseite,<br />

manchmal in einer form, die mich an seiner stelle ärgern<br />

würde.« was sie selbst maßlos ärgerte, weil sie dagegen nur<br />

schwer mit argumenten ankam, war die raffinesse, mit der die<br />

kollegin ihren strategischen Vorteil in Berlin nutzte, um wegener<br />

und manchmal auch christensen auszutricksen. »sie<br />

lässt alle künste spielen, um mir die arbeit unmöglich zu machen,<br />

wobei sie den trumpf, der alles sticht, nämlich die angeblichen<br />

geheiminformationen aus dem promi [propagandaministerium]<br />

über die papierbewilligungen in der hand hat.<br />

immer hat sie irgendwelche geheimen Quellen, aus denen sie<br />

weiß, dass für die dinge, die sie gerade plant, papier da ist etc.<br />

und für anderes nicht.«<br />

kurt ganske hat das offenbar alles nicht so tragisch genommen.<br />

sein sohn thomas erinnert sich, dass er später immer<br />

vom »kampf der königinnen« sprach, wenn er diese auseinandersetzungen<br />

erwähnte. im laufe der Zeit entspannte sich das<br />

Verhältnis zwischen den beiden damen auch wieder. ilse tönnies<br />

freute sich auf ein wiedersehen und bedankte sich artig<br />

69


für das angebot, ihr ein weiteres päckchen grieß zu besorgen.<br />

harriet wegener ihrerseits bedauert, dass die kollegin nicht<br />

mit eigenen augen erleben kann, wie herrlich gerade ihr garten<br />

blüht. die wachsenden sorgen und gemeinsamen nöte<br />

drängten die persönlichen Querelen in den hintergrund.<br />

wenn das gegenseitige Vertrauen nicht stärker gewesen wäre<br />

als die eifersüchteleien, hätte harriet wegener in ihren Briefen<br />

sicher nicht so riskante sätze wie diese zu papier gebracht:<br />

»es ist die allerhöchste Zeit, dass sich europa nach einer dauernden<br />

Betonung des die einzelnen länder trennenden auf<br />

die gemeinsamen geistigen wurzeln und das gemeinsame geistige<br />

werden besinnt«, schrieb sie im august 1942 nach Berlin.<br />

»es ist außerdem anzunehmen, dass die seit der französischen<br />

revolution andauernde Zuspitzung des nationalen ins nationalistische<br />

ihren höhepunkt erreicht hat und bereits jetzt eine<br />

Besinnung auf das gemeinsam-europäische umzuschlagen beginnt«,<br />

fuhr sie fast prophetisch fort.<br />

wie schwierig solche ideen umzusetzen waren, geht wiederum<br />

aus einem Brief hervor, der von Berlin nach hamburg<br />

ging. unter Bezug auf die »europa-Bibliothek« und ähnliche<br />

projekte schrieb tönnies ihrer kollegin im april 1943: »ich<br />

glaube, dass auch jedes thema, das mit der antike zusammenhängt,<br />

einen großen reiz für den immer mehr wachsenden<br />

kreis von Menschen haben wird, die auf die grundlagen unserer<br />

kultur zurückgehen wollen. es ist nur fraglich, ob wir das<br />

jetzt durchbringen können, denn der humanistische gedanke<br />

ist nach wie vor ein sehr heißes eisen, und ich muss da sehr vorsichtig<br />

sein.«<br />

auch wenn es immer wieder mal zu heftigen kontroversen<br />

kam, ging es in der schriftlichen und telefonischen kommunikation<br />

zwischen den beiden frauen und in den Berichten, die<br />

sie an ihre Verleger schickten, vorwiegend um das Verlagsprogramm,<br />

um die schwierigkeiten mit der Zensur, um Ärger mit<br />

autoren oder die sorge um deren schicksal.<br />

70


obwohl Martinus christensen sich in hamburg um die täglichen<br />

geschäfte kümmerte, nahm kurt ganske regen anteil<br />

an den Überlegungen zum programm. er ließ sich von harriet<br />

wegener die von ihr erarbeiteten analysen und gutachten<br />

schicken, entschied von hannover oder hohenhaus und später<br />

sogar noch aus der kaserne heraus mit darüber, welche Manuskripte<br />

angenommen oder abgelehnt wurden. er machte sich<br />

in seinen antworten gedanken über den möglichen käuferkreis<br />

<strong>eines</strong> italien-Buches, gab rat beim erwerb von rechten. er<br />

bewertete eine rilke-Biographie als »angenehm zu lesen und<br />

ganz interessant geschrieben«, zeigte sich aber gleichzeitig<br />

überzeugt, dass »es früher oder später eine bessere Biographie<br />

über rilke geben wird«. er war sich überdies mit wegener einig,<br />

dass rilke »sicher weder antisemit noch anti-slave gewesen<br />

ist. evtl. könnte man den autor veranlassen, den ausführungen<br />

hierüber die schärfe zu nehmen.« das allerdings war<br />

zu dieser Zeit ein heikles unterfangen.<br />

Verboten, verbrannt, verschleiert<br />

trotz sorgfältiger Vorbereitung und geschickter Begründung<br />

scheiterte manche idee an den staatlichen Zensoren. so berichtete<br />

ilse tönnies im Mai 1943 aus Berlin, dass zwar das<br />

»europa-archiv« bewilligt worden sei, »europa im wandel«<br />

habe man dagegen strikt verboten, und zwar »so kategorisch«,<br />

dass nichts zu machen gewesen sei. tönnies schlug vor, die<br />

pläne dennoch nicht aufzugeben, sondern der publikation »einen<br />

anderen, unverfänglicheren titel zu geben« und eine andere<br />

form dafür zu suchen.<br />

Manches ließ sich so mit geschick und guten Beziehungen<br />

doch durchsetzen. Biographien über rudolf Virchow, Justus<br />

von liebig und alexander von humboldt zum Beispiel winkten<br />

die prüfer im propagandaministerium nach einigem hin und<br />

her schließlich durch, wie harriet wegener dem in einem sa-<br />

71


natorium bei wien weilenden Martinus christensen hocherfreut<br />

mitteilte. »sünder und heiliger« fanden ebenfalls gnade<br />

vor den augen der Zensoren. für die zehn Bände »geistiges<br />

europa« wurde das papier selbst im november 1943 noch genehmigt.<br />

sogar werke des franzosen paul hazard wie »krise<br />

des europäischen geistes« konnten erscheinen, übersetzt von<br />

harriet wegener. allerdings nur auf papier der klasse 3, wie<br />

wegener bedauerte. das bedeutete stark holzhaltig, schnell<br />

vergilbend, hart, unansehnlich.<br />

Besonders kurios: für eine 1941 abgelehnte Moltke-Biographie<br />

von hanns Martin elster gab es zwei Jahre später plötzlich<br />

doch papier – vielleicht weil harriet wegener oder ilse tönnies<br />

wieder einmal einen trick angewendet hatten, der während<br />

des krieges mehrfach funktionierte: ein von der »prüfstelle<br />

zum schutz der ns-literatur« oder einer anderen kontrollstelle<br />

abgelehntes werk wurde mit neuem titel und einer anderer<br />

Begründung erneut zur prüfung vorgelegt – und möglichst auf<br />

den schreibtisch <strong>eines</strong> anderen Zensors bugsiert.<br />

im fall der Moltke-Biographie war die freude über das gelungene<br />

Manöver allerdings nur kurz. denn als das Buch endlich<br />

gesetzt und gedruckt war, verbrannte der gesamte Bestand,<br />

weil das lager von Bomben getroffen worden war. wieder<br />

musste mühsam papier beschafft und eine noch unzerstörte<br />

druckerei gefunden werden. dort kam die Biographie des politisch<br />

denkenden strategen in eine warteschlange, denn verschärfte<br />

druckvorschriften führten dazu, dass der Moltke nur<br />

die dringlichkeitsstufe iii bekam. es dauerte Monate, bis das<br />

Buch endlich aus der Maschine lief. und dann wiederholte<br />

sich das trauerspiel: 1944 fielen die 5000 frisch gedruckten<br />

exemplare erneut den flammen zum opfer. ein schicksal, das<br />

im laufe des krieges viele werke ereilte. solange sie nicht<br />

beim leser waren, wusste man nie, ob der kampf mit der<br />

Zensur, die Mühen der papierbeschaffung und die schwierige<br />

suche nach einer noch funktionierenden druckerei nicht letzt-<br />

72


lich vergebliche Mühen gewesen waren. noch beim spediteur<br />

konnte sich alles in rauch und asche auflösen.<br />

einmal sollte bei hoffmann und campe doch frontliteratur<br />

erscheinen. es ging um die gedichte <strong>eines</strong> offiziers. es<br />

waren ernste und schwermütige gedanken, die günther von<br />

stünzner zu papier gebracht hatte. <strong>eines</strong> trug den titel »Mutter<br />

des gefallenen spricht«. ilse tönnies hoffte trotzdem, dass<br />

man es im propagandaministerium durchsetzen könne. »es<br />

stimmt ja durchaus nicht, dass man an der front nur ablenkende<br />

und leichte dinge lesen will, ganz im gegenteil sogar.<br />

und in letzter Zeit trägt man von oben her diesem Verlangen<br />

auch rechnung. es kann durchaus von tod und ernst die rede<br />

sein.« Überdies könne man im papierantrag darauf hinweisen,<br />

dass der dichter frontkämpfer sei. sie mahnte bei christensen<br />

eine rasche entscheidung an, da sie zusammen mit dem dichtenden<br />

soldaten noch einige »schleifungen« an seinen Versen<br />

vornehmen wollte, günther von stünzner aber bald wieder in<br />

den osten gehe, wo sein einziger Bruder bereits gefallen sei.<br />

»wir schaden unserem ansehen mit diesen sachen auf keinen<br />

fall«, schrieb sie nach hamburg und fügte als weiteres argument<br />

hinzu, auch hoffmann und campe müsse »einmal einen<br />

Beitrag zur kriegsliteratur bringen«.<br />

doch aus dem Beitrag wurde nichts – trotz der trickreichen<br />

Begründung. in einer aktennotiz vom 11. Mai 1944 wurde festgehalten:<br />

»stünzner-gedichte sollen für truppen auf schallplatte<br />

aufgenommen werden. Bewilligt stünzner zuliebe, obgleich<br />

uns papier abgeschlagen. wirkung der platten abwarten,<br />

dann ev. antrag erneuern.«<br />

Manchmal allerdings waren die staatlichen stellen auch<br />

entgegenkommender, als es dem Verlag lieb war. so berichtete<br />

ilse tönnies während einer Besprechung mit wegener und<br />

christensen, zu der sie 1944 aus Berlin angereist war, dass das<br />

amt zur Betreuung ausländischer truppen mehrere werke des<br />

Verlags in deren sprachen beziehen wolle. Man war sich aber<br />

73


einig, dass »Vorsicht geboten« sei. allenfalls eine begrenzte<br />

Zahl von werken sei dafür geeignet. dazu zählten titel wie<br />

»erasmus von rotterdam« oder »auguste rodins Vermächtnis«.<br />

Man wollte sich nämlich eine spätere fremdsprachige ausgabe<br />

nicht »dadurch unmöglich machen, dass wir jetzt Übersetzungen<br />

mit stark propagandistischem Zweck vorwegnehmen«.<br />

in der regel erschien ilse tönnies aber nicht als neinsagerin,<br />

sondern als Bittstellerin im propagandaministerium. neben<br />

ideologisch begründeten ablehnungen, die sie sich dort<br />

immer wieder einhandelte, war es vor allem der zunehmende<br />

papiermangel, der dem Verlag in den kriegsjahren zu schaffen<br />

machte. selbst eine amtliche Bewilligung war nicht viel wert,<br />

wenn einfach kein papier aufzutreiben war. anfänglich halfen<br />

die guten Beziehungen ein wenig, die Martinus christensen zu<br />

den skandinavischen ländern hatte. im Mai 1941 berichtete<br />

er seinem kompagnon, er habe bei einem Besuch in kopenhagen<br />

je einen Buchdrucker, Buchbinder und papierlieferanten<br />

gesichert, »die vorzugsweise uns beliefern werden«. ob das<br />

auch tatsächlich gelinge, hänge allerdings noch von Verhandlungen<br />

zwischen den zuständigen staatlichen stellen beider<br />

länder ab. »die papierfrage hier in deutschland bleibt nach<br />

wie vor katastrophal, indem einfach alles abgelehnt wird.« es<br />

sollte noch viel schlimmer kommen.<br />

im herbst 1941 ließ propagandaminister goebbels ein<br />

schema für die Zuteilung von druckpapier entwerfen, bei dem<br />

die »kriegswichtigkeit« der verschiedenen produktionen das<br />

entscheidende kriterium für die Versorgung der Verlage und<br />

druckereien war. wer Bücher in größerer Zahl verkaufen wollte,<br />

musste Mittel und wege finden, um über die immer spärlichere<br />

Zuteilung hinaus an die benötigten papiermengen zu<br />

kommen. dafür brauchte man die sogenannten papierschecks.<br />

nur über diese Zuteilungsscheine konnte ein Verlag nach der<br />

genehmigung durch die »wirtschaftsstelle Buch« in einem<br />

komplizierten bürokratischen Verfahren eine papierzuteilung<br />

74


erhalten. dazu musste von mehreren staatlichen und militärischen<br />

stellen die »kriegswichtigkeit« <strong>eines</strong> projekts bestätigt<br />

werden. es konnte mehrere Monate dauern, bis ein Verlag legal<br />

an die gewünschte lieferung kam oder die jeweils genehmigte<br />

Menge seinen eigenen Vorräten entnehmen durfte. wie<br />

bei jedem planwirtschaftlichen system verlockte daher auch<br />

die von Bürokraten gelenkte kriegs- und Mangelwirtschaft<br />

dazu, die komplizierten Zuteilungsverfahren zu umgehen und<br />

die Behörden auszutricksen.<br />

Von den geringen Mengen, die für die Buchproduktion zur<br />

Verfügung standen, ging auch noch vieles in flammen auf.<br />

Über die folgen <strong>eines</strong> schweren angriffs auf leipzig berichtete<br />

tönnies im dezember 1943 nach hamburg, dass außer dem<br />

ebenfalls schwer getroffenen reclam Verlag alle anderen Verlage<br />

total ausgebombt seien, ebenso die kommissionäre, bei<br />

denen die Bücher lagerten. Vernichtet seien auch sämtliche papierlager.<br />

die katastrophe von leipzig ändere daher vollkommen<br />

die Versorgungslage, da »nur noch ganz wenige firmen<br />

in deutschland überhaupt papier zugeteilt bekommen«.<br />

gesucht: papier, farbbänder, Manuskripte<br />

das wog umso schwerer, als vier Monate vorher hoffmann und<br />

campe in hamburg selbst schwere Verluste erlitten hatte. die<br />

beiden spediteure, bei denen papier gelagert worden war, und<br />

der Buchbinder, bei dem unter anderem »die krise« sowie<br />

»europa und die welt« auf ihre fertigstellung warteten, waren<br />

völlig ausgebrannt. da half es wenig, dass man im propagandaministerium<br />

eine genehmigung und die notwendigen papierschecks<br />

erhalten hatte – wenn das papier nicht aufzutreiben<br />

war, wenn es in bedrucktem oder unbedrucktem Zustand verbrannte,<br />

waren alle anstrengungen vergeblich gewesen. »diese<br />

dampfwalze, die allmählich über alles hinweggeht, ist wirklich<br />

schrecklich«, schreibt wegener an ganske. »es wird Zeit<br />

75


für ihr wunder, finde ich. es muss bald kommen, sonst nützt<br />

es nichts mehr. aber wie immer nützt das klagen nichts. Man<br />

muss neue gute Bücher machen und alte gute nachdrucken,<br />

sobald man irgend kann.«<br />

neben dem großen problem papiermangel gab es eine wachsende<br />

Zahl kleiner Versorgungsengpässe, die daheim und den<br />

Verlag ebenso plagten wie alle anderen deutschen Betriebe.<br />

sie machten die arbeit nicht unmöglich, aber immer unerfreulicher.<br />

Man behalf sich und half sich gegenseitig, so gut es eben<br />

ging. ilse tönnies fragte bei ihrem Verleger an, ob er ihr wohl<br />

»etwas durchschlagpapier« senden könne, weil die kopien des<br />

hundertfach verwendeten kohlepapiers kaum noch zu entziffern<br />

waren – insbesondere wenn in der not mit lila durchschlagpapier<br />

auf rosa seidenpapier geschrieben wurde. ein<br />

anderes Mal entschuldigte sie sich dafür, dass ihr Brief stellenweise<br />

kaum lesbar sei, »aber mein farbband ist schon recht<br />

schlecht, und ich darf noch kein neues abholen. Vielleicht<br />

könnte ich eins aus hamburg erhalten?« diese Bitte zog sie später<br />

wieder zurück, da sie »inzwischen mit hilfe <strong>eines</strong> uniformierten<br />

Bekannten <strong>eines</strong> aufgetrieben« hatte. weiterhin teilte<br />

sie stolz mit, dass es ihr gelungen sei, bei der firma stolzenberg<br />

eine Bestellung über kartothekkarten, zwei kästen und<br />

hefter vormerken zu lassen« – was noch lange nicht heißt, dass<br />

sie das Büromaterial jemals bekommen hat. Ähnliche Bitten<br />

tauchten auch in wegeners Briefen an den chef immer wieder<br />

auf. einmal bat sie ihn um die Beschaffung <strong>eines</strong> füllfederhalters.<br />

in einem anderen Brief hoffte sie, dass er ihr vielleicht<br />

ein paar ablagemappen zukommen lassen könne, da sie ihre<br />

Briefe, konzepte, notizen und die Berichte an ihn gern etwas<br />

ordnen wolle.<br />

das problem wurde offenbar gelöst, wie die runenartigen<br />

Zeichen erkennen lassen, mit denen kurt ganske die eingehende<br />

post zu verzieren pflegte. eine art Z, mit dickem grünstift<br />

über eine seite oder einzelne absätze gemalt, bedeutete<br />

76


»noch zu erledigen« oder »als termin eintragen«. war die sache<br />

erledigt, kam ein zweiter schrägstrich dazu, so dass aus<br />

dem Z so etwas wie ein X wurde. Über der Bitte um Mappen<br />

zum Beispiel prangt ein solches X. doch damit war nur <strong>eines</strong><br />

der kleineren probleme gelöst. gegen den zunehmenden Mangel<br />

an Brennholz und kohle, der nicht nur das leben zu hause<br />

in den kalten Monaten immer ungemütlicher machte, sondern<br />

auch die arbeit im Büro erschwerte, konnte man im laufe der<br />

kriegsjahre immer weniger ausrichten. Mit klammen fingern<br />

und wollhandschuhen ließ sich nicht gut schreiben und redigieren.<br />

auch im privaten Bereich half man sich gegenseitig aus.<br />

harriet wegener, die selbst eine starke raucherin war, schickte<br />

ihrem chef immer mal wieder ein paar Zigaretten. seine frau<br />

versorgte sie dafür mit Milchkarten, die auf dem land nicht so<br />

dringend gebraucht wurden wie in der großstadt. wurstpakete<br />

aus hohenhaus füllten die leere speisekammer gelegentlich<br />

ein wenig auf und waren angesichts der immer knapperen<br />

nahrungsmittelzuteilungen stets hochwillkommen.<br />

selbst der wichtigste rohstoff <strong>eines</strong> Verlags, die Manuskripte,<br />

wurde zur Mangelware. irgendwie lösbar war da noch der fall<br />

<strong>eines</strong> autors, der zwar sein handschriftliches Manuskript fertiggestellt<br />

hatte, es aber nicht abschreiben lassen konnte, weil er<br />

kein schreibmaschinenpapier besaß. ernster zu nehmen war<br />

die klage von ilse tönnies, sie könne kaum noch Mitarbeiter<br />

für wissenschaftliche Veröffentlichungen finden. neben den<br />

jüngeren dozenten würden nun auch ältere professoren eingezogen<br />

oder stünden kurz davor. da hätten sie keine lust, noch<br />

aufträge anzunehmen oder auch nur zu besprechen, klagt sie.<br />

im dezember 1943 berichtet sie, dass es für sie immer schwerer<br />

werde, ihrer arbeit als lektorin nachzugehen, weil sich »jeder<br />

weigert, Manuskripte in luftgefährdete gebiete zu senden«.<br />

das galt nicht nur für Berlin, sondern auch für hamburg.<br />

angesichts der ständigen Bombenangriffe musste ein autor<br />

77


fürchten, dass die arbeit von Jahren in einer nacht vernichtet<br />

werden könnte. Viele besaßen nur ein handschriftliches exemplar.<br />

fotokopien oder andere speichertechniken waren damals<br />

noch nicht verfügbar. selbst wenn ein Manuskript mit der<br />

schreibmaschine geschrieben worden war, gab es bestenfalls<br />

eine oder zwei schlecht lesbare kopien auf dünnem papier. die<br />

konnte man bei alarm mit in den luftschutzkeller nehmen.<br />

aber selbst da waren sie gefährdet.<br />

dass die furcht vor einem Verlust nicht unbegründet war,<br />

geht aus einem Bericht von harriet wegener hervor, der aus<br />

dem gleichen Monat wie der hilferuf ilse tönnies’ stammt.<br />

das Manuskript zu »herrlich ist die erde« sei verbrannt, notiert<br />

sie. Möglicherweise habe tönnies in Berlin ein duplikat<br />

gehabt, sie könne es aber nicht finden. ihre einzige hoffnung<br />

bestehe darin, dass es zusammen mit anderen wichtigen papieren,<br />

archivmaterial und Manuskripten nach hohenhaus ausgelagert<br />

worden sei. dorthin wurde aus hamburg und hannover<br />

während des krieges kistenweise unersetzliches Material<br />

evakuiert – immer in der hoffnung, dass es nicht unterwegs im<br />

postlager oder Zug verbrannte. im keller des gutshauses war<br />

die chance größer, Manuskripte, fotos oder deren negative<br />

über den krieg zu retten als in den vom Bombenkrieg heimgesuchten<br />

großstädten. doch es war schwierig, in den hastig zusammengepackten<br />

kartons einzelne dokumente bei Bedarf<br />

wiederzufinden.<br />

tönnies selbst hatte glück im unglück. einer freundin in<br />

leipzig hatte sie nicht nur silber und wertvolles porzellan zur<br />

sicheren aufbewahrung anvertraut, sondern auch ein noch<br />

unveröffentlichtes Manuskript, an dem sie lange gearbeitet<br />

hatte. sie hoffte, dass es in leipzig sicherer aufgehoben sei als<br />

in Berlin. doch das haus wurde bei einem angriff schwer getroffen.<br />

die freundin und ihre Mutter kamen nur knapp mit<br />

dem leben davon. silber und porzellan waren verloren. das<br />

Manuskript dagegen blieb unbeschädigt. die freundin hatte<br />

78


es am tag vor dem bis dahin schwersten angriff auf die sächsische<br />

stadt zu Verwandten aufs land gebracht.<br />

wie schwierig es geworden war, unter den herrschenden Verhältnissen<br />

weiterzuarbeiten, macht auch ein Vorschlag deutlich,<br />

den harriet wegener ihren Verlegern ein Jahr vor kriegsende<br />

unterbreitete. sie fragte, »ob wir nicht gewisse Bücher<br />

auch ohne papierbewilligung setzen und notfalls matern lassen<br />

wollen, trotz der Mehrkosten, als kapitalanlage. es müssen<br />

natürlich Bücher sein, von denen man annimmt, dass sie auch<br />

nach dem krieg gut gehen.« allerdings fielen geeignete Manuskripte<br />

oder bereits gematerte texte immer wieder Bombenangriffen<br />

zum opfer.<br />

es verschwanden oder verbrannten nicht nur Manuskripte,<br />

sondern es wurden auch immer weniger texte zu papier gebracht.<br />

Von Jahr zu Jahr gestaltete sich die suche nach geeigneten<br />

autoren schwieriger. »niemand hat mehr die ruhe und<br />

die konzentration, und von den Jüngeren werden immer mehr<br />

eingezogen«, klagte tönnies 1943. Viele der bewährten autoren<br />

kamen auf den schlachtfeldern um. andere wurden opfer<br />

des Bombenkrieges. so machte sich harriet wegener wenige<br />

Monate vor kriegsende große sorgen um ihren autor walter<br />

erben. er hatte einen schweren Bombenangriff überlebt, aber<br />

der staub der zertrümmerten häuser hatte seine lungen so<br />

sehr geschädigt, dass er in einem lazarett an der niederländischen<br />

grenze behandelt und mit Morphium versorgt werden<br />

musste. seit es dort zu gefechten gekommen war, hatte man in<br />

hamburg kein lebenszeichen mehr von ihm erhalten.<br />

eine nacht in der hölle<br />

um dennoch neue autoren zu finden, resignierende zu ermutigen,<br />

sich nach dem stand der arbeit zu erkundigen und neue<br />

pläne zu besprechen, machte ilse tönnies auch während des<br />

krieges regelmäßig rundreisen zu den von ihr betreuten Mit-<br />

79


arbeitern des Verlags. selbst im vierten kriegsjahr verzichtete<br />

sie nicht auf diese autorenbesuche, obwohl »auf reisen keine<br />

dispositionen mehr möglich sind und man von tausend Zufällen<br />

und widrigen umständen abhängig ist«.<br />

es war ein besonders widriger Zufall, dass tönnies bei einer<br />

ihrer Motivationstouren im Juli 1943 ausgerechnet in der nacht<br />

in köln war, als die stadt einen angriff erlebte, der alle vorherigen<br />

Bombardements als kleine Vorübungen erscheinen ließ.<br />

sie hatte in der domstadt übernachten müssen, weil sie in<br />

Bonn, wo sie einen ihrer schützlinge hatte treffen wollen, keine<br />

unterkunft gefunden hatte. statt in köln hätte sie allerdings<br />

auch gleich in der hölle nächtigen können. Über harriet wegener<br />

erfuhr kurt ganske, wie ilse tönnies jene nacht erlebte<br />

und überlebte: »sie konnte sich aus dem keller des brennenden<br />

hotels ›Zur ewigen lampe‹ eben noch auf den platz davor retten,<br />

wo sie sich von zwei uhr nachts bis morgens um sieben<br />

uhr aufhalten musste, weil die seitenstraßen lichterloh brannten.<br />

ihr ganzes gepäck ist verbrannt. sie fuhr ohne hut und<br />

gepäck auf dem dampfer nach Bonn, da die eisenbahn ausfiel,<br />

und brachte sich bei prof. rothacker halbwegs in ordnung.<br />

Jetzt liegt sie in Berlin im Bett. ihre augen waren angegriffen<br />

von den phosphordämpfen.«<br />

tönnies blieb nicht lange im Bett, obwohl ihr das Maschineschreiben<br />

noch schwerfiel. »die schrecknisse dieser schaurigen<br />

kölner nacht können ja nicht spurlos verwischen. wenn<br />

ihnen in hamburg und uns in Berlin noch bevorsteht, was ich<br />

in der nacht durchgemacht habe, dann wird wohl nicht viel<br />

Brauchbares von uns übrigbleiben«, schrieb sie an christensen.<br />

nach dieser hellsichtigen Bemerkung ging sie zum geschäftlichen<br />

über und berichtete dabei auch über die letzte station<br />

ihrer reise. die fahrt nach Bonn habe sie ihren »erschöpften<br />

kräften noch abgerungen, denn es hätte mich zu sehr gekränkt,<br />

wenn nicht das wesentlichste meiner reise erledigt<br />

worden wäre«.<br />

80


obwohl trotz solcher erlebnisse in hamburg und Berlin so<br />

gut es ging nach dem prinzip business as usual verfahren wurde,<br />

litt die Verlagsarbeit immer stärker unter den folgen des<br />

krieges. schon im Mai 1941 hatte wegener nach Berlin berichtet,<br />

dass es einige nächte lang sehr ungemütlich gewesen sei.<br />

»in der letzten alarmnacht hat es uns die haustür herausgerissen<br />

und einige fenster zertrümmert.« das war sehr zurückhaltend<br />

ausgedrückt. da das haus im papenkamp nicht unterkellert<br />

war und harriet wegener und ihre alte Mutter sich nur<br />

mit ihren Bettdecken schützen konnten, wenn es in der nähe<br />

krachte, müssen den beiden die splitter um die ohren geflogen<br />

sein, als die scheiben platzten. wegen Blindgängern im<br />

garten war der Zugang zum haus tagelang gesperrt, was das<br />

leben ebenso erschwerte wie der Mangel an handwerkern, die<br />

die schäden am haus hätten beheben können. deshalb entschuldigte<br />

sich harriet wegener dafür, dass sie mit der letzten<br />

Überarbeitung einer deutsch-italienischen Übersetzung nicht<br />

so schnell vorankam, wie sie gehofft hatte.<br />

nachdem es in den ersten kriegsjahren noch relativ ruhig<br />

geblieben war, traf der Bombenkrieg 1943 auch die hansestadt<br />

mit voller wucht. wenige tage nach dem kölner horror<br />

ging am 24. Juli über hamburg ein feuersturm hinweg, wie<br />

ihn kaum jemand in der stadt für möglich gehalten hatte.<br />

doch schon zwei tage später schaffte es harriet wegener, ihrem<br />

chef einen ersten Bericht über das ausmaß der Zerstörungen<br />

zu schicken – ungewiss, ob ihn die nachricht überhaupt<br />

erreichen werde: »wir haben glück gehabt, wir und das<br />

haus sind heil, aber herr christensen ist völlig ausgebrannt.«<br />

das galt auch für zwei Mitarbeiter, über deren schicksal sie<br />

schon etwas in erfahrung bringen konnte. um festzustellen,<br />

ob der Verlag und die grüne Mappe noch standen, war wegener<br />

mit dem rad in die innenstadt gefahren, zweimal von<br />

erneutem Bombenalarm unterbrochen. als sie das Büro erreichte,<br />

das damals die adresse alsterufer 16 hatte, war schon<br />

81


wieder alarm, die meisten leute im keller und die tür zu den<br />

Büroräumen verschlossen. aber immerhin existierte das haus<br />

noch. sie wollte an diesem tag eigentlich auch noch zur grünen<br />

Mappe radeln, was aber bei dem andauernden tagesalarm,<br />

vereinzelten Bombenabwürfen und fortwährendem flakfeuer<br />

zu viel Zeit gekostet hätte. wie sich später herausstellte, hielten<br />

sich wie durch ein wunder auch beim lesezirkel die schäden<br />

in grenzen. sie bat ganske um Verständnis, dass sie während<br />

der nächsten zwei tage »das experiment einer fahrt in die innenstadt«<br />

nicht wiederholen wollte. der etwa zehn kilometer<br />

lange weg führte nämlich »mitten durch die übelste gegend.<br />

Bahrenfeld und altona. es gibt da eigentlich nur trümmer.«<br />

dennoch war harriet wegener schon am nächsten tag erneut<br />

im Verlag. am 27. Juli schrieb sie ihrem Verleger, von dem<br />

sie nicht wusste, ob, wann und wo er ihre Briefe erhalten würde:<br />

»ich nehme an, dass sie schon Verschiedenes über den furchtbaren<br />

angriff auf hamburg in der sonnabendnacht gelesen<br />

haben, ein angriff, der auch in dieser stunde noch nicht aufgehört<br />

hat. die Verwüstungen sind beispiellos; ein drittel von<br />

hamburg-altona ist ein trümmerhaufen, und das Bild der innenstadt<br />

ist trostlos. Man muss dort dauernd in einer dicken<br />

staubwolke gehen.« gas, wasser und elektrizität gab es nur in<br />

ausnahmefällen. die meisten telefonverbindungen waren gekappt,<br />

die öffentlichen Verkehrsmittel funktionierten nicht<br />

mehr. es war kaum möglich, mit Verwandten, Bekannten oder<br />

kollegen aus der firma Verbindung aufzunehmen, um zu erfahren,<br />

ob sie den feuersturm überlebt hatten. deshalb machte<br />

sich harriet wegener auch am nächsten und übernächsten<br />

tag wieder per fahrrad auf den weg, um festzustellen, ob vom<br />

Verlag und lesezirkel nach weiteren schweren angriffen etwas<br />

übriggeblieben war.<br />

Bis sie ihr Ziel erreicht hatte, musste sie sich jedes Mal durch<br />

dicke staubwolken und beißenden Qualm kämpfen. sie musste<br />

ihr rad über trümmerberge schieben und Bombenkratern<br />

82


ausweichen. dabei kam sie einmal nur knapp mit dem leben<br />

davon. passanten bewahrten sie im letzten Moment durch laute<br />

warnrufe davor, auf ein am Boden liegendes starkstromkabel<br />

zu treten. aber sie schaffte es, bis in die innenstadt zu kommen,<br />

und begann zwei tage nach dem inferno zusammen mit<br />

einer sekretärin und einem Boten, die ebenfalls schon wieder<br />

zum dienst erschienen waren, mit den aufräumarbeiten. »ich<br />

versuche, einige stunden so gut wie möglich die evtl. vorkommenden<br />

wichtigen aufgaben zu erledigen. so lange die angriffe<br />

andauern – tag und nacht gehen die sirenen –, ist natürlich<br />

an einen normalen geschäftsgang nicht zu denken.«<br />

sie bat zugleich um Verständnis, wenn sie nicht immer den<br />

ganzen tag im Büro verbringe, sondern stattdessen »ein wenig<br />

arbeit« mit nach hause nehme. auch dafür, dass sie »einige<br />

der früher besprochenen dinge zurzeit etwas willkürlich und<br />

langsam in angriff nehme«, bat sie ganske um nachsicht.<br />

Vier tage später versuchte sie erneut, den chef über die<br />

lage in hamburg zu informieren: »ich weiß zwar weder, ob sie<br />

leben, noch ob sie dieser Brief erreicht, da ja auch in hannover<br />

ein schwerer angriff war.« doch sie hatte immerhin ein<br />

paar gute nachrichten. nach der dritten großen angriffswelle<br />

hatte sie es endlich geschafft, bis zur grünen Mappe vorzudringen.<br />

obwohl es ringsherum immer noch brannte, ragte das<br />

chilehaus weitgehend unversehrt aus den trümmerbergen heraus.<br />

nur die scheiben waren infolge des enormen luftdrucks<br />

zerborsten.<br />

es dauerte oft lange, bis diese Briefe den adressaten erreichten.<br />

daher wussten kurt ganske und ilse tönnies, die sich anfang<br />

august in Berlin zu einer Besprechung trafen, zu diesem<br />

Zeitpunkt immer noch nicht, ob ihre kollegen und der partner<br />

das inferno überlebt hatten. »nach unserer traurigen unterredung<br />

… sind nun wieder tage vergangen und noch immer<br />

keine spur von herrn christensen, noch von den anderen Mitarbeitern<br />

des Verlags«, schrieb tönnies verzweifelt an ganske.<br />

83


auch von frl. dr. wegener habe sie keine nachricht. »wenn sie<br />

nicht inzwischen etwas von ihrem Mitarbeiter hörten, der nach<br />

hamburg ging, entschwindet mir bald die letzte hoffnung.«<br />

doch dieser Mitarbeiter konnte ihr in einem Brief vom 6. august<br />

immer noch nichts konkretes über das schicksal des Verlags<br />

und seiner Mitarbeiter berichten. im gegensatz zu harriet<br />

wegener hatte er es nicht geschafft, sich bis zum alsterufer<br />

durchzukämpfen.<br />

am 9. august versuchte es harriet wegener mit einem telegramm:<br />

»christensen ausgebombt … wahrscheinlich in dänemark.«<br />

doch auch diese nachricht kam nie in Berlin an.<br />

Martinus christensen hatte sich ebenfalls sofort bemüht,<br />

seinem partner ein lebenszeichen zu geben. da er weder telefonisch<br />

durchkam noch ein telegramm abschicken konnte,<br />

versuchte auch er es mit einem Brief – der aber erst wochen<br />

später ankam. noch während des angriffs, »der zu dieser<br />

stunde noch nicht aufgehört hat«, teilte er darin mit, »dass das<br />

alsterufer 16 noch intakt ist«. er selbst habe seine wohnung<br />

mit allem, was darin war, verloren. auch die Mitarbeiter ketelsen<br />

und fusz seien total bombengeschädigt. Vier tage später<br />

folgte ein zweiter Brief an ganske. »da hamburg eine ruinenstadt<br />

ist und mit weiteren großangriffen gerechnet wird, um<br />

noch den rest der stadt zu zerstören, verlasse ich heute hamburg.<br />

ich will versuchen, mit meiner frau zu meinen Verwandten<br />

in nordschleswig zu kommen. sobald sich die lage in hamburg<br />

beruhigt hat – ich rechne mit 8 bis 14 tagen –, werde ich<br />

sofort wieder hier sein.«<br />

Mit hammer, Besen und schaufel<br />

die hoffnung, dass sich die lage wieder bessern werde, erfüllte<br />

sich nicht. das gegenteil war der fall, wie ein lagebericht<br />

zeigt, den harriet wegener ende august ihrer immer<br />

noch von angst und ungewissheit geplagten kollegin nach<br />

84


Berlin schickte. da man mit den überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln<br />

ein paar stunden brauche, fahre sie nach wie vor<br />

mit dem fahrrad in den Verlag, was aber sehr anstrengend sei,<br />

schreibt sie. »Besonders die ersten Male (ich war nach jedem<br />

angriff dort) war es eine ziemliche tortur, denn vom stadtgürtel<br />

an verschwand die sonne in staub und rauchwolken, so<br />

dass man manchmal absteigen musste, weil man seinen weg<br />

nicht sah. die häuser brannten zum teil noch, die straße lag<br />

so voll glas, dass man das rad häufig tragen musste.« die fast<br />

unersetzlichen reifen und schläuche durften nicht zerschnitten<br />

werden. ständige tagesalarme zwangen wegener dazu, in<br />

»irgendwelche grässlichen keller zu gehen«, und hinderten sie<br />

daran, all das zu erledigen, was sie sich für den tag vorgenommen<br />

hatte. ihr weg in die innenstadt führte sie durch die besonders<br />

schlimm getroffenen stadtteile Bahrenfeld und altona.<br />

»durch diesen gürtel des grauens musste man sich jedes Mal<br />

durcharbeiten.« der anblick erinnerte sie an die Bilder von<br />

stalingrad in der wochenschau. »es gibt da eigentlich nur<br />

trümmer.«<br />

Beim Verlag hatte sie zunächst vor verschlossenen türen gestanden,<br />

da weder christensen noch sonst jemand anwesend<br />

war. sie radelte dann weiter zur grünen Mappe, um auch dort<br />

nach dem rechten zu schauen. erst als wegener nach der dritten<br />

großen angriffswelle abermals in die stadt fuhr, um nachzusehen,<br />

ob der Verlag immer noch existierte, fand sie eine<br />

durch den luftdruck aufgesprengte tür und konnte sich in<br />

den räumen umschauen. in christensens Büro waren alle<br />

scheiben zerborsten. aus den meisten anderen fenstern war<br />

das glas ebenfalls herausgeflogen. und »es war kein stück<br />

pappe, kein hammer, kein nagel, kein Besen zu finden. dass<br />

außer frau wille niemand mehr da war, wusste ich nicht … ich<br />

rückte die schreibtische weg, rollte den teppich auf, nahm die<br />

weißen gardinen herunter und ließ das Verdunklungsrollo<br />

herunter, um den regen abzuhalten. Mehr konnte ich im au-<br />

85


genblick nicht tun. Bei einem meiner nächsten Besuche gelang<br />

es mir aber, Verbindung mit frau wille zu bekommen. wir verabredeten<br />

uns, haben ordnung geschafft und alles reingemacht.<br />

Vorher hatte ich erreicht, dass von der grünen Mappe<br />

leute herüberkamen, welche die fenster abgedichtet haben.<br />

außerdem haben wir Bücher, akten, das archiv und überhaupt<br />

so viel wie möglich in die schränke gestopft gegen den infernalischen<br />

staub und dreck. in hamburg läuft ja immer noch<br />

kein wasser, so dass man nach solchen arbeiten dreckig, wie<br />

man ist, nach flottbek radeln muss. außerdem musste man<br />

schaufel, Besen, staubtuch und hammer mitbringen … frau<br />

wille hat nach aufforderung ganz nett geholfen. im allgemeinen<br />

litt sie aber an der allgemeinen krankheit, der stimmung:<br />

es hat ja doch keinen Zweck, beim nächsten angriff geht doch<br />

alles entzwei. es ist eine stimmung, gegen die ich überall angekämpft<br />

habe. warum das wenige gerettete auch noch verkommen<br />

lassen?«<br />

der Verlag war ähnlich wie die grüne Mappe wieder einmal<br />

davongekommen – allerdings bot sich ringsherum ein grauenhaftes<br />

Bild. um ihrer kollegin tönnies eine Vorstellung von<br />

der lage in hamburg zu geben, nannte harriet wegener ihr<br />

Zahlen, die offiziell nicht veröffentlicht werden durften. »Von<br />

dem Maß der Zerstörung machen sie sich schwerlich einen Begriff.<br />

obdachlose haben wir zwischen 800 000 und einer Million,<br />

tote zwischen 65 000 und 100 000. Beides sind schätzungen<br />

aus sehr guter Quelle.« die Briefkästen seien zwar weiterhin<br />

entleert, die post aber fast vier wochen lang nicht zugestellt<br />

worden, schreibt sie. es gäbe daher keine andere Möglichkeit,<br />

als nach jedem angriff mit dem rad durch die stadt zu fahren,<br />

um persönlich nachzusehen, ob freunde, Bekannte oder kollegen<br />

noch lebten. »ich weiß noch heute von vielen Menschen<br />

nicht, wo sie sind. unzählige suchen ihre angehörigen.«<br />

heute wissen wir, dass die schätzungen »aus guter Quelle«<br />

unter dem eindruck des grauens zu hoch gegriffen waren.<br />

86


aber wir wissen auch, dass allein zwischen dem 24. Juli und<br />

dem 3. august 1943 im rahmen der operation gomorrha<br />

sieben schwere Bombenangriffe stattfanden, bei denen über<br />

32 000 Menschen umkamen und 263 000 wohnungen zerstört<br />

wurden.<br />

es gab jedoch auch positives zu vermelden: »die Verpflegung<br />

war sehr gut. Milch und gemüse oder obst gab es reichlich.«<br />

wer die Zeit hatte, in der stadt herumzufahren, konnte sogar<br />

»phantastisch einkaufen. aber ich gehörte nicht zu den glücklichen.<br />

nur den relativen obst- und gemüsereichtum habe ich<br />

dazu benutzt, noch etwas einzumachen, da ich ja im winter für<br />

vier bis fünf personen statt für zwei bis drei sorgen muss.« das<br />

bezog sich auf die ausgebombten, die in ihr bis dahin nur wenig<br />

beschädigtes haus eingewiesen wurden. Zur allgemeinen<br />

stimmung merkte sie an, sie sei »erstaunlich ruhig. die ausgebombten,<br />

auch die, denen frau und kinder in den armen gestorben<br />

sind, gehen ruhig an ihre arbeit.« Viele seien geflohen,<br />

daneben erlebe man aber immer wieder Beispiele »von außergewöhnlichem<br />

pflichtgefühl«.<br />

die sekretärinnen des Verlags zeigten ebenfalls nerven<br />

und pflichtgefühl – und was Menschen zu ertragen in der lage<br />

sind: »fräulein fusz und frau wille sind noch in dem Zustand,<br />

dass sie jede nacht bis drei uhr im Bunker auf holzbänken sitzen.<br />

sie kommen aber trotzdem regelmäßig morgens brav zur<br />

arbeit.« Zu christensens adresse konnte sie der kollegin nur<br />

mitteilen, wo er in dänemark unterkommen wollte. sie konnte<br />

vor seinem weggang nicht mehr mit ihm sprechen, und er<br />

hatte ihr auf seinem schreibtisch auch keine anweisungen<br />

oder nachrichten hinterlassen.<br />

dieser Brief erreichte ilse tönnies offenbar ebenso wenig<br />

wie das telegramm. deshalb verstand harriet wegener zunächst<br />

auch nicht, warum drei wochen nach den Bombardements<br />

erneut ein völlig verzweifeltes schreiben aus Berlin eintraf.<br />

»wir sind doch alle hier seit mehr als einer woche wieder<br />

87


in arbeit«, antwortete sie, als hätte es sich nur um einen kleinen<br />

Zimmerbrand gehandelt. Zwar habe sie sich in den ersten<br />

tagen vor allem um die ausgebombten kümmern müssen und<br />

sei dann herumgefahren, um festzustellen, »was an druckereien<br />

und spediteuren noch heil war«. aber jetzt lese sie schon<br />

wieder Manuskripte. tönnies war endlich beruhigt. sie hatte<br />

schon versucht, sich ein auto zu beschaffen, um selbst in hamburg<br />

nachzusehen, was aus dem Verlag und den Menschen geworden<br />

war, »weil ich mir schon die schlimmsten Bilder vorstellte<br />

und kaum noch schlief«.<br />

kurt ganske dagegen schaffte es schließlich, nach hamburg<br />

zu kommen. er ließ sich von harriet wegener und filialleiter<br />

nicodemus, dem chef der grünen Mappe, über die noch<br />

bestehenden arbeitsmöglichkeiten im Verlag und in der Zentrale<br />

des lesezirkels informieren und besuchte die außenstellen.<br />

Mit einem noch brauchbaren lieferfahrzeug fuhr er am<br />

13. august durch die ruinenlandschaft, die von der hansestadt<br />

übriggeblieben war. er wollte einen eindruck vom ausmaß der<br />

Zerstörung gewinnen und prüfen, wie eine Zustellung der<br />

Mappen an die noch bestehenden adressen organisiert werden<br />

könnte. harriet wegener versuchte, ihm Mut zu machen. das<br />

Bild, das er gewonnen habe, sei wohl schlimmer als die realität.<br />

»es werden doch viele, die ausgebombt sind, leser bleiben.«<br />

ilse tönnies wird es nicht schwergefallen sein, sich eine Vorstellung<br />

von der hölle zu machen, durch die die hamburger<br />

während der tagelangen angriffe gegangen waren. sie hatte<br />

nach köln auch in Berlin schon manchen angriff erlebt. erst<br />

war ihre gesamte hauswäsche in der waschanstalt verbrannt,<br />

dann das in leipzig untergestellte porzellan und familiensilber<br />

vernichtet worden. ihre wohnung in wilmersdorf wurde<br />

zweimal getroffen, ehe sie völlig ausgebombt wurde. Vier wochen<br />

nach den angriffen auf die hansestadt musste sie selbst<br />

eine »Bombennacht im stile hamburgs« durchstehen. anders<br />

als dort durfte sie sich aber nicht wenigstens kurzfristig über<br />

88


eine »phantastische Versorgung« freuen, sondern lebte mit ihrer<br />

familie tagelang von rohen haferflocken. doch fast noch<br />

mehr als um ihre angehörigen sorgte sie sich um den fortbestand<br />

des Verlags. sie lebte in der ständigen angst, dass mit<br />

den Büroräumen auch sein geistiges Vermögen in flammen<br />

aufgehen könnte. es trieb sie die sorge um, dass Manuskripte<br />

und adressen, die sorgsam aufgebaute kartothek, wertvolle fotos<br />

und deren negative, in kriegszeiten kaum wiederbeschaffbare<br />

Bücher und nachschlagewerke ein raub der flammen<br />

werden könnten. immer wieder beschwor sie christensen und<br />

ganske, das Berliner lektorat ebenso wie den Verlag in hamburg<br />

zu evakuieren. sie bettelte geradezu darum, Mitarbeiter<br />

und archive in kleineren und – wie sie meinte – sichereren<br />

orten unterzubringen.<br />

doch christensen hatte ihre Vorschläge immer wieder<br />

abgelehnt. »ich würdige selbstverständlich ihre Bedenken«,<br />

schrieb er ihr schließlich im september 1943 nach Berlin.<br />

»aber trotz allem ist an meinem entschluss, hierzubleiben,<br />

nicht mehr zu rütteln.« er war zu diesem Zeitpunkt überzeugt,<br />

dass es »keine gegend in deutschland gibt, die sicher ist«. er<br />

verwies auf die vielen evakuierten, die die stadt panikartig verlassen<br />

hätten, es aber inzwischen bitter bereuten, da sie es<br />

draußen auf dem land nicht lange aushielten, schlecht versorgt<br />

würden und keine Bleibe finden könnten. Bei einer<br />

flucht müsse man damit rechnen, dass es in den nächsten fünf<br />

bis zehn Jahren keine chance für eine rückkehr geben werde.<br />

»ich will ehrlich bekennen, dass ich nicht die geringste lust<br />

verspüre, diese Jahre m<strong>eines</strong> lebens in irgendeinem kleinen,<br />

langweiligen ort zuzubringen.« der ausgebombte, der nach<br />

wenigen wochen aus dem sicheren dänemark zurückgekehrt<br />

war, harrte lieber inmitten der trümmer hamburgs aus.<br />

tönnies musste sich fügen – und tat es dennoch nicht. »es<br />

lässt mir keine ruhe, dass das gesamte Material des Verlags,<br />

das hamburger und das Berliner, auf Messers schneide steht,<br />

89


das eine in einer stadt, die schwerstgeschädigt und noch nicht<br />

aus der gefahr ist, das andere in einer, die unter der unmittelbarsten<br />

und schwersten Bedrohung steht«, schrieb sie schließlich<br />

christensen. »nach dem totalen schweigen aus hamburg,<br />

das herrn ganske und mir die größten sorgen machte, habe<br />

ich das Berliner Material in einem tempo, bei dem es kaum<br />

atem und schlaf gab, zusammengepackt und geordnet.« einen<br />

teil hatte sie im Zentrum untergestellt, einen anderen in ihrem<br />

neuen domizil in Berlin-nikolassee in den keller geschafft.<br />

»ich arbeite mit dem nötigsten Material aus einem koffer,<br />

den ich jeden tag sprungbereit halte.« das hatte sich inzwischen<br />

auch harriet wegener angewöhnt, die ebenfalls »jeden<br />

abend einen größeren koffer packt«.<br />

ilse tönnies war froh, eine Möglichkeit gefunden zu haben,<br />

ihren arbeitsplatz aus der besonders gefährdeten innenstadt<br />

in einen Vorort zu verlegen, der dem Bombenhagel nicht so<br />

heftig ausgesetzt war. ein anderer Verlag war dem an alle einwohner<br />

gerichteten aufruf der Behörden gefolgt, die stadt so<br />

schnell wie möglich zu verlassen. der Verlagsleiter hatte ihr<br />

angeboten, seine Villa in nikolassee während der Zeit der<br />

schwersten Bedrohung zu beziehen. das war eine chance, die<br />

tönnies sofort ergriff – ohne vorher in hamburg nachzufragen<br />

und ohne zu ahnen, welche folgen das später für sie haben<br />

sollte.<br />

der geheimplan<br />

trotz der mit pappe vernagelten fenster und der ständigen<br />

angst vor neuen Bombardements wurde in Berlin und hamburg<br />

nicht nur darüber nachgedacht, wie man neue Buchprojekte<br />

durch die Zensur bringen, verbrannte Bücher nachdrucken<br />

und dafür papier beschaffen könne oder welche literatur<br />

wohl für die Zeit nach dem krieg geeignet sei. harriet wegener<br />

hatte daneben auch noch einen »geheimauftrag«. auch ilse<br />

90


tönnies arbeitete daran mit, allerdings ohne genau zu wissen,<br />

worum es dabei wirklich ging.<br />

kurt ganske hegte nämlich die absicht, aus dem Buchverlag<br />

hoffmann und campe auch einen Zeitschriftenverlag zu<br />

machen. Vielleicht war dies von anfang an ein Motiv für den<br />

erwerb der Beteiligung an hoca gewesen. Möglicherweise war<br />

es sogar das wichtigste Ziel. denkbar, dass ihm der gedanke<br />

auch erst später gekommen ist. seinen kompagnon Martinus<br />

christensen jedenfalls weihte er bis ende des krieges nicht in<br />

diese pläne ein. dafür, dass er sich bei seiner Beteiligung an<br />

hoffmann und campe von vorneherein mehr vorgenommen<br />

hatte, als nur Bücher zu produzieren, spricht aber eine klausel<br />

im Vertrag. danach war keiner der beiden partner verpflichtet,<br />

sich an neuen projekten zu beteiligen, wenn er dazu aus finanziellen<br />

oder anderen gründen nicht bereit oder in der lage<br />

war. der kauf <strong>eines</strong> Zeitschriftenverlags war ein solcher fall. er<br />

hätte die Möglichkeiten von Martinus christensen bei weitem<br />

überschritten.<br />

harriet wegener dagegen wurde schon früh in die pläne ihres<br />

chefs eingeweiht und dafür eingespannt. ihr gab er den<br />

auftrag, sich diskret nach geeigneten objekten – wie etwa dem<br />

Türmer – umzusehen. was er ihr mündlich schon gesagt hatte,<br />

schärfte er ihr anfang september 1943 noch einmal schriftlich<br />

ein: »in der türmer-angelegenheit bzw. überhaupt in der<br />

Zeitschriftenfrage liegt mir vor allen dingen daran, dass lesezirkel-<br />

und Zeitschriftenverlegerkreise, die mit lesezirkeln zu<br />

tun haben, nichts über meine absichten erfahren. ich bin mir<br />

darüber klar, dass auf die dauer keine sicherheit gegeben ist,<br />

mein Vorhaben zu verheimlichen. ich bin aber bemüht, mich<br />

so zu verhalten und die eingeweihten personen zu einem gleichen<br />

Verhalten zu veranlassen, dass die interessierten kreise<br />

nicht informiert werden. wenn nun also von ihnen mit persönlichkeiten<br />

über Zeitschriftenvorhaben des hoffmann und<br />

campe Verlags gesprochen wird, ohne dass ein Zusammen-<br />

91


hang mit dem lesezirkel bzw. mit mir besonders erwähnt wird,<br />

so sehe ich eigentlich keine Bedenken, es sei denn, es handelt<br />

sich bei den persönlichkeiten um fachleute, die das gebiet<br />

und die Zusammenhänge übersehen.«<br />

im klartext: kurt ganske suchte nach eigenen Zeitschriften<br />

für seine lesemappe. er wollte nicht auf dauer vom wohlwollen<br />

anderer Verleger abhängig sein. die sorge, dass sie ihn<br />

irgendwann nicht mehr beliefern oder ihre preise so erhöhen<br />

könnten, dass das geschäftsmodell des lesezirkels nicht mehr<br />

funktionieren konnte, trieb ihn zeitlebens um. er wollte natürlich<br />

nicht, dass ein verkaufswilliger Zeitschriftenverleger dieses<br />

Motiv von vorneherein durchschaute. das wäre preistreibend<br />

gewesen. noch weniger wollte er, dass seine pläne vorzeitig in<br />

der Branche bekannt wurden. das hätte sie schnell zunichte<br />

machen können. denn dass sich bei den konkurrenten sofort<br />

widerstand formieren würde, war so sicher wie das amen in<br />

der kirche. sie hätten nicht tatenlos zugesehen, wie die ohnehin<br />

überragende stellung von daheim weiter ausgebaute<br />

wurde. eine intervention bei der dem freien wettbewerb ohnehin<br />

abholden reichsschrifttumskammer hätte kurt ganskes<br />

Bemühungen um mehr unabhängigkeit und diversifikation<br />

sicherlich schon im keim erstickt.<br />

trotz aller geheimhaltung ließ es sich nicht vermeiden, ilse<br />

tönnies in die suche nach geeigneten objekten einzuschalten.<br />

Berlin war nicht nur die hauptstadt des reiches, sondern auch<br />

Mittelpunkt der Zeitschriftenproduktion. dort war am ehesten<br />

ein geeignetes objekt zu finden. da tönnies aber nicht wirklich<br />

eingeweiht wurde und das eigentliche Ziel nicht kannte,<br />

war sie nur halbherzig bei der sache. sie suchte eher nach Zeitschriften,<br />

die zur literarischen tradition des Verlags passten<br />

als in die Mappe <strong>eines</strong> lesezirkels und entwickelte zum Missfallen<br />

von ganske und wegener eigene pläne, mit denen deshalb<br />

wenig anzufangen war. aus diesem grund wurde harriet<br />

wegener anfang oktober 1943 etwas deutlicher. sie erklärte<br />

92


der Berliner kollegin, dass man bei der Zeitschriftenfrage unbedingt<br />

weiterkommen müsse, zum einen, »weil herr ganske<br />

sie mir als dringlichstes ans herz gelegt hat«, zum anderen,<br />

»weil mir eine durch den lesezirkelabsatz gesicherte Zeitschrift<br />

tatsächlich für den Verlag in den schweren Zeiten, denen wir<br />

entgegengehen, etwas sehr positives zu sein scheint«. doch es<br />

half nichts. ilse tönnies muss aus Berlin melden, dass ihre Bemühungen<br />

auf diesem gebiet bisher fruchtlos geblieben waren.<br />

niemand wolle verkaufen. nach der katastrophe von leipzig<br />

glaubte sie außerdem, dass es nur noch papier »für Zeitschriften<br />

mit staatlicher initiative« geben werde, also für propagandablätter.<br />

ein hauch von Merian<br />

harriet wegener selbst war auch unschlüssig, welche Blätter<br />

überhaupt in frage kommen könnten. eine Zeitschrift wie Der<br />

Goldene Born fand sie für den geschmack des damaligen publikums<br />

»zu brav, gesinnungstüchtig und innerlich«. Man müsse<br />

es zu einem Mittelding zwischen ihm und der Deutschen Rundschau<br />

machen, sinnierte sie. am Türmer hatte ihr ein Beitrag<br />

über heine missfallen, »der an unsachlichem antisemitismus<br />

nichts zu wünschen übrig ließ«. der gedanke einer romanzeitschrift,<br />

die aber nicht schnulzen drucken, sondern zu<br />

einem Blatt wie der Europäischen Literatur ausgebaut würde, in<br />

der Besprechungen erscheinen sollten und die auf junge autoren<br />

aufmerksam machen würde, gefiel ihr dagegen sehr.<br />

doch das war sicher auch nicht das, was kurt ganske für seine<br />

lesezirkelmappen suchte.<br />

obwohl der Bombenkrieg kein ende nahm und bis zur kapitulation<br />

kaum ein tag verging, an dem die arbeit oder der<br />

schlaf nicht mehrfach durch luftalarm unterbrochen wurde,<br />

schmiedeten kurt ganske und harriet wegener weiter an Zukunftsplänen.<br />

dabei deutete sich schon an, welche richtung<br />

93


der Verleger einschlagen wollte – und es nach dem krieg mit<br />

seinem Jahreszeiten Verlag auch tatsächlich tat. Bei konferenzen<br />

in hohenhaus, in telefonaten und Briefen wurden bereits<br />

titel genannt, wenn es um die Zeitschriftenpläne ging. in<br />

einer Zeit, in der Millionen familien heim und heimat verloren<br />

hatten und täglich weitere wohnungen in schutt und<br />

asche fielen, diskutierten ganske und wegener unverdrossen<br />

über einen titel wie Die Frau und ihr Heim und darüber, wie ein<br />

solches Blatt ein ganz eigenes gesicht bekommen könnte. sie<br />

machten sich gedanken, wie man sich vom genormten Bildmaterial<br />

der agenturen durch die Beschäftigung eigener fotografen<br />

unabhängig machen könne, die zeitnah und in direktem<br />

Zusammenhang mit den geplanten themen nach Motiven<br />

suchen sollten – und zwar »unter dem gesichtspunkt dessen,<br />

was wir wollen«. Mit einer fotografin, der sie das zutraute, und<br />

auch mit einer geeigneten redakteurin war harriet wegener<br />

bereits im gespräch. die aspirantin war ehemals direktorin<br />

der staatlichen schule für frauenberufe gewesen und hatte<br />

ebenso wie wegener 19<strong>34</strong> ihren arbeitsplatz verloren, weil sie<br />

»nach gesinnung und konnexionen nicht genehm war«. wegener<br />

wusste natürlich auch, dass sich konkrete pläne für die<br />

ausgestaltung der Zeitschrift zu diesem Zeitpunkt noch nicht<br />

machen ließen, »weil man nicht so recht weiß, wie die wirklichkeit<br />

aussieht, in die sie passen soll«.<br />

im august 1944 war sogar von einer reisezeitschrift die<br />

rede. für deren redaktion interessierte sich ein kurz zuvor<br />

eingezogener 50-jähriger leutnant der reserve. er hatte ein<br />

erfolgreiches Mittelmeerbuch als referenz vorzuweisen und<br />

ging davon aus, dass er sich nach dem krieg ohnehin für einen<br />

neuen Beruf entscheiden müsse. ein hauch von Merian wehte<br />

bereits durch die Zeilen, als wegener mögliche inhalte des Magazins<br />

skizzierte: neben landschaft, architektur, bildender<br />

kunst und Volkssitten sollte auch die literatur der betreffenden<br />

länder nicht vergessen werden, empfahl sie. nach so viel<br />

94


elend sollten die Menschen wieder lernen, des lebens schöne<br />

seiten zu entdecken.<br />

gegen kriegsende gingen Briefe mit derartigen Überlegungen<br />

meist nicht mehr nach hannover oder hohenhaus. harriet<br />

wegener und die filialleiter mussten ihre Berichte an eine<br />

feldpostnummer oder an die daheim-filiale in der nähe einer<br />

kaserne adressieren. denn die hoffnung, dass kurt ganske<br />

wie so viele andere unternehmer vom dienst an der waffe verschont<br />

bleiben würde, weil er im Betrieb unentbehrlich war,<br />

hatte sich nicht erfüllt. im september 1943 wurde er zur wehrmacht<br />

eingezogen. die anträge auf freistellung waren ebenso<br />

fruchtlos geblieben wie zuvor schon bei vielen seiner führungskräfte,<br />

obgleich dabei die höchste karte ausgespielt worden<br />

war, die man damals in der hand hatte: »Von seiten der reichspressekammer<br />

ist wiederholt auf die anordnung des führers<br />

hingewiesen worden, dass die gesamten tageszeitungen gesichert<br />

bleiben sollen. darüber hinaus wird auch immer wieder<br />

auf die wichtigkeit der presse in der gegenwärtigen Zeit hingewiesen«,<br />

versuchte man den obersten götzen des reiches für<br />

sich einzuspannen, um dann die kurve zum eigenen Betrieb<br />

zu bekommen: »hieraus ergibt sich, dass auch dem Vertrieb<br />

von Zeitungen und Zeitschriften eine besondere Bedeutung<br />

beizumessen ist.«<br />

es half alles nichts. nicht nur die filialleiter, die noch nicht<br />

deutlich über 50 Jahre alt waren, wurden an die front geschickt.<br />

auch der 38-jährige kurt ganske wurde schließlich gezwungen,<br />

eine uniform anzuziehen und als gefreiter zu dienen.<br />

der chef von über 1300 Mitarbeitern musste sich plötzlich von<br />

unteroffizieren und feldwebeln herumkommandieren lassen,<br />

von denen er manche nicht einmal als Boten oder lagerarbeiter<br />

eingestellt hätte.<br />

in der ersten Zeit konnte ganske gelegentlich aus einer telefonzelle<br />

vor der kaserne rat und anweisungen geben, sich<br />

über planungen und – immer häufiger – über Bombenschäden<br />

95


informieren lassen. war wieder einmal eine filiale von daheim<br />

völlig verwüstet worden, bekam er als Betriebsführer meist ein<br />

paar tage sonderurlaub, um einen notbetrieb zu organisieren.<br />

ansonsten aber musste er sich darauf verlassen, dass die<br />

verbliebenen Mitarbeiter in seinem sinne handelten. Manchmal<br />

blieb ihm während <strong>eines</strong> urlaubs die Zeit, um rasch in<br />

hannover, hohenhaus oder hamburg nach dem rechten zu<br />

sehen, an Besprechungen teilzunehmen, seine Meinung zu geplanten<br />

Veröffentlichungen zu sagen oder über seine konspirativen<br />

Zeitschriftenpläne zu diskutieren. Manchmal gelang es<br />

jedoch nicht, die Mitarbeiter rechtzeitig von einem solchen<br />

Blitzbesuch zu informieren. als er es im september 1944 bis<br />

hamburg-eidelstedt schaffte, erfuhr harriet wegener erst tage<br />

später durch einen Brief davon. »wie betrüblich, dass sie mich<br />

nicht erreichen konnten, ich hätte ja herüberradeln können.<br />

wie vieles wäre zu besprechen gewesen!« unter anderem, dass<br />

der Verlag inzwischen geschlossen worden war.<br />

sie hatte kurt ganske auch nicht erreichen können, als die<br />

amtliche Verfügung plötzlich in hamburg im Briefkasten lag.<br />

sie musste ihm die traurige nachricht an seine feldpostnummer<br />

schicken: »nachdem vorgestern telefonisch aus hohenhaus<br />

die höchst erfreuliche nachricht kam, dass sie im augenblick<br />

nicht so gefährdet wären, wurde heute unsere freude<br />

wieder gedämpft durch die nachricht von der schließung des<br />

Verlags.«<br />

was die Bomben nicht vermocht hatten, sollte nun ein stück<br />

papier bewirken: ein abruptes ende der Verlagsarbeit, das ende<br />

aller pläne, den tod sämtlicher projekte. »die totale Mobilisierung<br />

erfordert den einsatz aller kräfte für den sieg«, lautete<br />

der erste satz der Verfügung, mit der der präsident der reichsschrifttumskammer<br />

am 26. august 1944 die sofortige schließung<br />

anordnete. das traf allerdings nicht nur hoffmann und<br />

campe, sondern mehr als 80 prozent aller deutschen Verlage.<br />

was wegener vier wochen vorher noch als eine vage Möglich-<br />

96


keit betrachtet hatte, war plötzlich bittere realität geworden<br />

und anscheinend unabänderlich. »Beschwerden gegen diese<br />

schließungsverfügung sind nicht zulässig und können daher<br />

nicht bearbeitet werden«, hieß es barsch am ende des kurzen<br />

schreibens.<br />

Zwei schreibmaschinen für den »endsieg«<br />

Martinus christensen und harriet wegener waren dennoch<br />

nicht bereit, sich widerstandslos zu fügen. sie nutzten die unklaren<br />

und zum teil widersprüchlichen ausführungsbestimmungen,<br />

um die abwicklung in die länge zu ziehen.<br />

christensen wollte versuchen, wenigstens die Bücher fertigzustellen,<br />

die bereits in der herstellung waren. wegener setzte<br />

darauf, dass sich einige Bürokraten bei aller linientreue vielleicht<br />

einen rest an Vernunft bewahrt hatten. denn der nutzen,<br />

den die rüstungsindustrie aus der schließung <strong>eines</strong> renommierten<br />

Verlags wie hoffmann und campe hätte ziehen<br />

können, war mehr als bescheiden. wegener zählte offiziell<br />

nicht zu den angestellten. der Verleger kurt ganske und der<br />

prokurist Johannes rohrsen standen bereits im feld. christensen,<br />

der zweite Verleger, sowie der zweite prokurist John ketelsen<br />

waren längst ausgemustert. der Verlagsbote, die Buchhalterin<br />

und eine sekretärin waren zu alt, ilse tönnies zu krank,<br />

um noch an der front oder in der rüstungsindustrie eingesetzt<br />

zu werden. außer einer sekretärin und zwei alten schreibmaschinen<br />

konnte der Verlag daher nichts zum »endsieg«<br />

beitragen.<br />

selbst für den fall, dass die sekretärin abgezogen und der<br />

zu diesem Zeitpunkt noch nicht betroffene lesezirkel geschlossen<br />

werden sollte, hatte harriet wegener zusammen mit christensen<br />

eine rückzugslinie besprochen. sie wollte sich dann als<br />

stenotypistin bei hoffmann und campe einstellen lassen, da<br />

sie wegen ihres alters für die rüstungsindustrie nicht in frage<br />

97


kam. »Mein gedanke dabei war, alles irgend mögliche zu tun,<br />

um den Verlag über wasser zu halten«, schrieb sie per feldpost<br />

an ihren inzwischen an einem gefährlichen frontabschnitt im<br />

osten eingesetzten chef. »wie sie wissen, sind mir prestigefragen<br />

nicht sehr wichtig.« ilse tönnies dagegen, die christensen<br />

gern als freie Mitarbeiterin in der statistik verstecken wollte,<br />

bestand darauf, in dem fragebogen, den jeder Verlag ausfüllen<br />

musste, als »lektorin und sachwalter« des Verlags aufgeführt<br />

zu werden.<br />

obwohl es an sich nicht zulässig war, stellte christensen zunächst<br />

den antrag, aus gründen der offensichtlichen unsinnigkeit<br />

den schließungsbefehl aufzuheben. das wurde am 1. dezember<br />

abgelehnt, verbunden mit der Mitteilung, dass über<br />

eine Verlängerung der abwicklungsfrist erst Mitte des Monats<br />

entschieden werden könne. damit waren seit eingang der<br />

Verordnung immerhin schon fast vier Monate Zeit gewonnen.<br />

harriet wegener nutzte sie, um die kreisverwaltung einzuschalten.<br />

sie wandte sich an einen offensichtlich wohlwollenden<br />

Beamten, der ihr aus besseren Zeiten bekannt war, wie der<br />

Verzicht auf das sonst obligatorische »heil hitler« am ende<br />

einer solchen petition vermuten lässt. nach der aufzählung<br />

der minimalen Beiträge, die hoca im besten fall zum letzten<br />

aufgebot des »größten feldherrn aller Zeiten« leisten könnte,<br />

verwies sie auf die wesentlich höheren materiellen und immateriellen<br />

schäden, die eine schließung nach sich ziehen würde.<br />

in den letzten Monaten des krieges waren immerhin noch<br />

15 Bücher in der herstellung und 50 Manuskripte in arbeit.<br />

daneben wurden 63 autoren betreut, und für 11 aktuelle<br />

werke waren Übersetzungsrechte ins ausland verkauft worden.<br />

nicht nur die damit verbundenen aufgaben hätten bei<br />

einer schließung nicht mehr erfüllt werden können. harriet<br />

wegener scheute sich auch nicht, auf einen weiteren drohenden<br />

Verlust hinzuweisen: nach dem krieg wolle man in einer<br />

»den traditionen unseres Verlags entsprechenden art dem<br />

98


wiederaufbau dienen: dem hamburgs, dem deutschlands, dem<br />

europas«.<br />

dem um hilfe gebetenen dr. lindemann gelang es tatsächlich,<br />

eine Verlängerung der abwicklungsfrist bis zum 31. März<br />

1945 zu erreichen. wegener freute sich, dass das gaupropagandaamt<br />

sogar bereit war, sich danach für eine weitere Verlängerung<br />

einzusetzen. doch das erübrigte sich: am 3. Mai<br />

wurde hamburg von den Briten besetzt. am 4. Mai meldete<br />

sich radio hamburg mit der britischen nationalhymne und<br />

den worten: »This is Radio Hamburg, a station of the Allied Military<br />

Government.« Jetzt waren andere für genehmigungen zuständig.<br />

selbst für diesen fall hatte sich harriet wegener schon Monate<br />

vorher gedanken gemacht. obwohl sie bei einer Besetzung<br />

mit chaotischen Zuständen rechnete, wollte sie die stadt<br />

nicht verlassen, hatte sie kurt ganske schon acht Monate vor<br />

der kapitulation erklärt. denn dann sei jede unbewohnte wohnung<br />

vogelfrei. auch wenn man wegen seiner irdischen habe<br />

nicht das leben riskieren dürfe, müsse man nicht nur wissen,<br />

wovor man fliehe, sondern auch, wohin. da niemand vor seinem<br />

schicksal davonlaufen könne, wolle sie »den gefahren<br />

schon lieber auf der schwelle m<strong>eines</strong> hauses begegnen. Jede<br />

form von weglaufen ist eine Beschäftigung, die mir ausgesprochen<br />

zuwider ist.« sie nahm daher in den letzten Monaten des<br />

krieges auch die wiederholten einladungen von gerda ganske<br />

nicht an, wenigstens für einige wochen zu ihr aufs land zu<br />

kommen. »ich kann mich nicht recht entschließen, hier wegzugehen«,<br />

schrieb sie der frau ihres Verlegers. »es wird stark<br />

auch mit einer landung hier gerechnet, und dann muss jemand<br />

da sein, der die entscheidungen trifft.« kurt ganske war<br />

dazu nicht in der lage. keine der beiden frauen hatte zu diesem<br />

Zeitpunkt kontakt zu ihm. sie wussten nicht einmal, wo er<br />

eingesetzt war, ob er noch lebte oder in gefangenschaft geraten<br />

war. wegener nannte noch einen zweiten triftigen grund<br />

99


dafür, in hamburg auszuharren: es kamen zweimal Bohnen,<br />

die einmal eingeweckt und einmal eingesalzen werden mussten.<br />

das hatte gewicht in diesen tagen.<br />

als die Briten kamen, ging es zur großen erleichterung der<br />

Bevölkerung doch nicht so chaotisch zu, wie wegener ursprünglich<br />

befürchtet hatte. im augenblick der Besetzung habe es<br />

zwar »einige plünderungen gegeben, vor allem auch seitens<br />

der fremdarbeiter, mit ausnahme der franzosen, die sich tadellos<br />

benommen haben«, berichtete sie. aber alles in allem hielten<br />

sich die Übergriffe in grenzen. so wie vorher das leben<br />

trotz vieler Bombenangriffe und dem heulen der alarmsirenen<br />

weitergegangen war, normalisierte es sich auch nach der<br />

Besetzung schnell wieder – so weit dies in einer stadt möglich<br />

war, in der ganze wohnviertel als unbewohnbar abgesperrt<br />

worden waren. im Verlag ging die arbeit an ausgewählten auszügen<br />

aus der Bibel ebenso weiter wie an goethe- und hebelanthologien.<br />

die korrekturen zu dem nunmehr dritten Versuch,<br />

die Moltke-Biographie auf den Markt zu bringen, wurden<br />

fertiggestellt, und die arbeit an den hamburger lebensbildern<br />

wurde fortgesetzt.<br />

allerdings hatten sich die äußerlichen umstände nicht gerade<br />

verbessert. die Verlagsräume, die bis dahin auf fast wundersame<br />

weise trotz der Zerstörungen ringsum weitgehend intakt<br />

geblieben waren, hatten bei einem der letzten großen<br />

angriffe sehr gelitten. in christensens Büro war die innenwand<br />

herausgebrochen. Bei wegener war der stuck heruntergekommen.<br />

es bestand die gefahr, dass die decke ganz einstürzen<br />

könnte. die fenster waren entweder mit pappe vernagelt oder<br />

mit rollglas, das sie aus ihrem eigenen haus mitgebracht hatte,<br />

notdürftig gegen wind und regen geschützt. dass das gebäude<br />

trotz dieses vergleichsweise immer noch guten Zustands<br />

nicht wie die meisten anderen häuser in der straße beschlagnahmt<br />

worden war, verdankte der Verlag wohl nur dem umstand,<br />

dass sich im erdgeschoss das schweizer konsulat befand.<br />

100


dennoch drohte neues ungemach. denn nun brauchte jeder<br />

Verlag, der nach dem ende des braunen albtraums weiterarbeiten<br />

oder neu starten wollte, eine lizenz der britischen Besatzungsmacht:<br />

die wurde nicht allein vom Verhalten während<br />

des kurzlebigen »tausendjährigen reiches« abhängig gemacht.<br />

eine Zulassung hing auch davon ab, wie viele Verlage angesichts<br />

der anhaltenden papierknappheit überhaupt Bücher produzieren<br />

konnten. wieder mussten fragebogen ausgefüllt und<br />

eine liste der früheren Veröffentlichungen eingereicht werden.<br />

entnazifizierungsverfahren wurden eingeleitet, das geplante<br />

Verlagsprogramm geprüft.<br />

in dieser lage war harriet wegener, die jahrelang im hintergrund<br />

gehalten werden musste, eine große hilfe. sie galt<br />

jetzt nicht mehr als politisch vorbelastet, sondern im gegenteil<br />

als völlig unbelastet. sie sprach nicht nur fließend englisch und<br />

konnte daher problemlos mit Vertretern der Besatzungsbehörden<br />

verhandeln, sie hatte jetzt auch wieder gute Verbindungen<br />

zu den spitzen der deutschen Behörden. Mit vielen der einst<br />

Verjagten und Verfemten, die von den Briten wieder in ihre alten<br />

Ämter eingesetzt worden waren, war sie aus besseren Zeiten<br />

gut bekannt oder befreundet. sie selbst wurde anfang februar<br />

1944 von der britischen Militärregierung in den »ernannten<br />

Vertreterrat« berufen, der so lange als vorläufiges parlament<br />

fungierte, bis wieder eine demokratisch gewählte hamburger<br />

Bürgerschaft ihre arbeit aufnehmen konnte.<br />

obwohl die Mühlen der Bürokratie nur sehr langsam mahlten,<br />

hegten Martinus christensen und harriet wegener trotz<br />

gewisser Ängste, wie der Verlag über die ersten Monate kommen<br />

sollte, hinsichtlich der weiteren entwicklung zunächst<br />

keine allzu großen Bedenken. große sorgen bereitete ihnen<br />

hingegen das schicksal kurt ganskes. deshalb war die erleichterung<br />

groß, als er nach einer abenteuerlichen flucht aus der<br />

gefangenschaft am 2. Juni 1945 wieder in hohenhaus eintraf,<br />

halb verhungert und völlig erschöpft, aber gesund. das erfuh-<br />

101


en die hamburger allerdings erst vier wochen später, als er<br />

sich mit einem ersten Brief in hamburg meldete. »der weg von<br />

Brünn/Budweis nicht ganz einfach in drei wochen«, berichtete<br />

er im telegrammstil und in maßloser untertreibung. »Vorher<br />

längere Zeit front mit sehr viel glück gesund überstanden.«<br />

nach einigen sätzen über das schicksal seiner familie übernahm<br />

er sogleich das unternehmerische kommando: er erwartete<br />

wieder Berichte mit breitem rand für seine anmerkungen.<br />

er ordnete an, womit sich die filialen beschäftigen sollten, solange<br />

es noch keine Zeitschriften gab, die man abonnenten<br />

zustellen konnte. er bat wegener um Vermittlung einer sekretärin,<br />

die in hohenhaus arbeiten sollte.<br />

kurt ganske erkundigte sich aber auch, ob es in hamburg<br />

Zigaretten gäbe, und kündigte an, dass sein schreiben von<br />

einem »beherzten Mann« über hannover nach hamburg gebracht<br />

werden würde. er veranlasste ebenso, dass eine reise<br />

nach hamburg für ihn vorbereitet wurde. neben einer unterkunft<br />

in den Verlagsräumen (»christensen vorläufig nicht informieren!«)<br />

oder bei harriet wegener (»nicht erschrecken!«)<br />

brauchte er papiere: »nach Möglichkeit ist eine ausgesprochen<br />

amtliche Bescheinigung über die dringlichkeit einer längeren<br />

anwesenheit in hamburg bzw. hannover für mich zu beschaffen.«<br />

es dauerte zwei wochen, bis der beherzte Mann den Brief<br />

in hamburg zustellen konnte.<br />

in den wochen danach fand ganske aber entweder nicht<br />

die Zeit oder sah keine Möglichkeit, seine reisepläne zu realisieren.<br />

Vielleicht blieb auch die gewünschte behördliche Bescheinigung<br />

aus. das führte zu wachsender unsicherheit und<br />

sorge in hamburg, wo man ihn dringend erwartete und die<br />

gründe für sein fernbleiben nicht kannte. wenn nicht alle<br />

Bemühungen vergeblich gewesen sein sollten, den Verlag über<br />

die finsteren Zeiten zu retten, musste bald etwas unternommen<br />

werden. dabei ging es nicht nur um den entscheidungsstau<br />

bei hoffmann und campe oder der grünen Mappe. um<br />

102


den Betrieb weiterführen zu können, mussten vor allem so<br />

rasch wie möglich anträge gestellt und schier endlose fragebogen<br />

ausgefüllt werden. die erteilung einer Verlagslizenz hing<br />

davon ab, dass auch der zweite Verleger kurt ganske die flut<br />

der formulare unterschrieb, mit denen die Militärregierung<br />

jeden überhäufte, der wieder Bücher oder Zeitungen publizieren<br />

wollte. solange dies nicht erledigt wurde, war eine lizenz<br />

nicht zu bekommen. die Verhältnisse im Verlag gestalteten<br />

sich daher von woche zu woche kritischer, die wirtschaftliche<br />

situation zunehmend schwieriger.<br />

deshalb wurde in den Briefen und schließlich telegrammen<br />

aus hamburg immer dringlicher um einen baldigen Besuch<br />

gebeten. kein Bericht von harriet wegener, in dem sie<br />

nicht – zum schluss fast flehentlich – um sein kommen bittet.<br />

»es liegen Zigaretten für sie bereit«, lockte sie schließlich sogar.<br />

auch Martinus christensen schickte Briefe nach hohenhaus<br />

und hannover. »es ist jetzt dringend notwendig geworden,<br />

dass sie nach hamburg kommen, da es für mich allmählich<br />

unmöglich ist, wichtige dispositionen zu treffen, bevor ich nicht<br />

mit ihnen als meinem kompagnon eingehende mündliche Besprechungen<br />

gepflogen habe«, schrieb christensen ende september<br />

nach hohenhaus. »es handelt sich in erster linie um<br />

die Übernahme und herausgabe mehrerer Zeitschriften, die<br />

uns angeboten bzw. von uns geplant sind.« doch selbst das<br />

wirkte nicht.<br />

ende oktober 1945 musste harriet wegener ihrem chef<br />

mitteilen, dass die erhofften lizenzen noch immer nicht da<br />

seien und schon darüber nachgedacht werde, mit den angestellten<br />

über drastische gehaltskürzungen zu verhandeln. sie<br />

begründete die kürze ihres grußes mit der »schauderhaften<br />

kälte. die gedanken frieren einem ein, denn der strom ist uns<br />

so beschränkt, dass wir nicht einmal elektrisch heizen können.«<br />

im letzten satz ihren Briefes wiederholt sie die schon so<br />

oft gestellte frage: »wann kommen sie?«<br />

103


große ungewissheit bestand lange auch über das schicksal<br />

von ilse tönnies. seit der schlacht um Berlin hatte man in<br />

hamburg nichts mehr von ihr gehört. auch der Bruder, der<br />

sich über pommern und dänemark nach hamburg durchgeschlagen<br />

hatte, wusste nicht, ob sie den granatenhagel und<br />

den grausamen straßenkampf haus um haus überlebt hatte.<br />

doch dann meldete sie sich zur allgemeinen erleichterung wieder.<br />

es sah so aus, als ob die gemeinsame arbeit an der »europa-Bibliothek«,<br />

an werken über Matthias claudius und die<br />

abendländische Metaphysik sowie den anderen, schon für kommende<br />

friedenszeiten konzipierten werken da fortgesetzt werden<br />

könnte, wo sie in den letzten kriegstagen brutal unterbrochen<br />

worden war.<br />

doch das blieb ein traum. ilse tönnies war an ihrem Zufluchtsort<br />

Berlin-nikolassee zwar den Bomben entkommen.<br />

Jetzt aber saß sie in einer Mausefalle, die schon bald zuschnappen<br />

sollte. der teil Berlins, in den es sie verschlagen hatte,<br />

gehörte zur sowjetisch besetzten Zone. sie wagte es daher nicht,<br />

ihre in hohenhaus eingelagerten Materialien und Manuskripte<br />

zurückzuholen. es war nicht sicher, was davon auf der<br />

nun rot statt braun eingefärbten liste verbotener schriften<br />

stand. an eine fahrt nach hamburg war anfänglich nicht zu<br />

denken. später traute sie sich nicht, weil sie fürchtete, »dass<br />

eine reise hierher oder umgekehrt … vorerst oder evtl. für immer<br />

nicht mehr möglich ist«. schließlich wollte sie nicht mehr<br />

in den westen reisen, weil sie unter dem eindruck der kommunistischen<br />

propaganda glaubte, der nächste krieg stehe unmittelbar<br />

vor der tür. am ende wurde ihr jede Möglichkeit zu<br />

einem gespräch mit den kollegen genommen.<br />

der eiserne Vorhang senkte sich und wurde bald so undurchlässig,<br />

dass ein austausch von gedanken und Manuskripten<br />

nicht mehr möglich war. ilse tönnies besaß kein<br />

konto mehr. der Verlag konnte ihr kein gehalt überweisen.<br />

sie hatte kein geld, um ihre Mitarbeiter zu bezahlen oder au-<br />

104


toren zu honorieren, die auf ihrer seite der grenze lebten.<br />

kurt ganske ließ ilse tönnies 1948 über einen im westen Berlins<br />

ansässigen treuhänder heimlich 4000 Mark in bar zukommen<br />

– ein Betrag, der nach ihrer rechnung ausreichte, um die<br />

weitere arbeit ein Jahr lang zu finanzieren. doch das blieb ein<br />

wunsch. Bald danach verliert sich die spur von ilse tönnies in<br />

der Verlagsgeschichte.


drittes kapitel<br />

der letZte giBt<br />

den schlussel ¨<br />

aB


w as in über drei Jahrzehnten in zäher kleinarbeit und mit<br />

vielen neuen ideen aufgebaut worden war, wurde in kurzer<br />

Zeit fast komplett wieder zerstört. Zwar konnte der lesezirkel<br />

daheim in den ersten kriegsjahren noch weitgehend<br />

normal arbeiten, aber wie schon im ersten weltkrieg mussten<br />

immer häufiger frauen die arbeit der Männer übernehmen.<br />

Je jünger die männlichen Mitglieder der »gefolgschaft« waren,<br />

desto früher mussten sie an die front. Je länger der krieg dauerte<br />

und je höher der Blutzoll wurde, umso strenger wurden<br />

die Maßstäbe dafür, ob jemand an der »heimatfront« wirklich<br />

unentbehrlich war.<br />

die reichspressekammer schickte immer wieder fragebogen,<br />

um zu ermitteln, welche arbeitskräfte noch abgezogen<br />

werden könnten, um entweder an die front oder in die rüstungsindustrie<br />

abkommandiert zu werden. das traf nach den<br />

Männern schließlich auch die jüngeren frauen. statt Mappen<br />

mit lesestoff sollten sie granaten mit sprengstoff füllen. Mit<br />

hilfe <strong>eines</strong> »roten fragebogens«, den die reichspressekammer<br />

neun Monate vor dem Zusammenbruch verschickte, musste<br />

noch einmal genau erfasst werden, welche aufgaben die noch<br />

verbliebenen gefolgschaftsmitglieder im Betrieb hatten. die<br />

kammer interessierte sich für alter, geschlecht und gesundheitszustand.<br />

sie wollte über geistige und körperliche gebrechen<br />

informiert werden. Vom Betrieb unbedingt benötigte<br />

kräfte mussten durch ein X gekennzeichnet werden. Boten, deren<br />

einsatz in der rüstungsindustrie möglich war, durften ein<br />

solches X k<strong>eines</strong>falls bekommen. Verschont von der allgemei-<br />

109


nen Mobilmachung blieben nur Mitarbeiter, die das 65. (Männer)<br />

oder das 50. lebensjahr (frauen) bereits überschritten<br />

hatten. Jüngere gab es zu diesem Zeitpunkt ohnehin kaum<br />

noch im Betrieb.<br />

Viele der anderen Verleihfirmen hatten daher schon längst<br />

aufgeben oder den Betrieb einschränken müssen. so hatte<br />

»Buck’s lesezirkel – Braune Mappe«, bis dahin ein konkurrent<br />

von daheim, seinen kunden schon im Mai 1941 per rundschreiben<br />

mitgeteilt: »die abgabe von arbeitskräften im interesse<br />

staatswichtiger aufgaben zwingt auch auf unserem gebiet<br />

zu liefereinschränkungen bzw. zu umstellungen. wir sind<br />

daher leider nicht in der lage, unsere kunden in dem von ihnen<br />

bewohnten gebiet weiter zu beliefern. um ihnen aber die<br />

lesemappe trotzdem zustellen zu können, haben wir uns entschlossen,<br />

das mit ihnen laufende abonnement dem lesezirkel<br />

daheim richard ganske … zu übertragen.« das taten auch<br />

andere kleine lesezirkel, die es nicht schafften, ihre organisation<br />

den veränderten Verhältnissen anzupassen und immer<br />

wieder notlösungen zu finden, um trotz personalmangel, zerstörter<br />

räume, ausgebrannter fahrzeuge und treibstoffmangel<br />

die Belieferung der abonnenten dennoch irgendwie zu<br />

sichern.<br />

das gelang kurt ganske dagegen auch dann noch, als sich<br />

das durchschnittsalter der verbliebenen Mitarbeiter immer<br />

mehr dem rentenalter näherte, eine filiale nach der anderen<br />

von Bomben getroffen wurde und schließlich am 9. oktober<br />

1944 in hannover auch die Zentrale in der seelhorststraße in<br />

flammen aufging. die Zweigniederlassung in der celler straße<br />

arbeitete weiter, aber der firmensitz wurde für die dauer des<br />

krieges nach hameln an der weser verlegt, weil es gelungen<br />

war, dort geeignete räume zu finden.<br />

das allerdings waren entscheidungen, die die wenigen erfahrenen<br />

führungskräfte, die aus altersgründen auf ihren posten<br />

verblieben waren, oft allein treffen mussten. kurt ganske<br />

110


war ebenso wie schon im ersten weltkrieg sein Vater zur armee<br />

eingezogen worden. er erhielt Berichte aus der Zentrale<br />

oder von seinen filialleitern oft mit großer Verzögerung und<br />

konnte nur mit ihnen sprechen, wenn er außerhalb der kaserne<br />

eine intakte telefonzelle fand. seine frau gerda schickte<br />

nach jedem größeren Bombenangriff ein telegramm an seine<br />

feldpostnummer, wenn sich in der betroffenen stadt eine daheim-filiale<br />

befand. noch im Jahr 2006 nennt sie die nummer,<br />

ohne eine sekunde zu zögern: 36116 c. anfänglich bekam<br />

ganske auch jedes Mal, wenn wieder eine filiale ausgebrannt<br />

war, sonderurlaub, um einen notbetrieb zu organisieren. aber<br />

am ende des krieges reichte dies als argument nicht mehr aus,<br />

um den gefreiten von der front zurückzuholen.<br />

60 stunden und noch mehr<br />

Besonders schwer war es, die Belieferung aufrechtzuerhalten,<br />

wenn ein teil der Zeitschriften oder der schon bestückten Mappen<br />

in den filialen verbrannt war. ausfälle gab es aber auch,<br />

wenn die Betriebsräume nach einem angriff noch intakt waren.<br />

denn bei kunden, deren häuser und wohnungen zerstört<br />

worden waren, konnten keine Mappen mehr eingesammelt<br />

werden. sie waren unwiederbringlich »steckengeblieben«. das<br />

brachte den umlauf durcheinander, weil für die nachfolgenden<br />

Bezieher nicht mehr genügend Mappen zur Verfügung<br />

standen. ersatz für verlorene Zeitschriften war nur schwer zu<br />

bekommen.<br />

nur durch ständiges improvisieren ließ sich unter diesen<br />

umständen eine einigermaßen pünktliche und regelmäßige<br />

Belieferung der leser aufrechterhalten. das war auch deshalb<br />

schwer, weil viele der erfahrenen filialleiter eingezogen worden<br />

waren und an ihrer stelle ältere sachbearbeiter, die selbst<br />

aus der sicht der reichspressekammer nichts mehr zum »endsieg«<br />

beitragen konnten, die organisation des notbetriebs<br />

111


übernehmen mussten. dazu gehörte auch, dass sie ersatz für<br />

die eingezogenen oder bei angriffen umgekommenen Boten<br />

suchen mussten. Je länger der krieg dauerte, desto älter wurden<br />

die Menschen, die die wagen durch die straßen schoben –<br />

und umso länger ihr arbeitstag. die reguläre wöchentliche<br />

arbeitszeit wurde Mitte august 1944 von amts wegen auf<br />

60 stunden festgesetzt. dies sollte einen ausgleich dafür schaffen,<br />

dass die Belegschaften immer weiter ausgedünnt wurden,<br />

reichte aber oft nicht aus, um die arbeit zu bewältigen.<br />

das erinnert an die sorgen und nöte, mit denen die lesezirkel<br />

schon im ersten weltkrieg zu kämpfen hatten. doch<br />

diesmal kam hinzu, dass alle diese Mühen vergeblich waren,<br />

wenn die Boten unter den angegebenen adressen niemanden<br />

mehr antrafen, weil die kunden geflohen oder evakuiert worden<br />

waren, oder wenn sie nur noch ruinen fanden, wo eine<br />

woche zuvor häuser gestanden hatten.<br />

da die Buch- und Zeitschriftenverlage ihre schließungsverfügung<br />

bereits ende august erhalten hatten und ab 1. oktober<br />

1944 kein Blatt mehr ausliefern durften, gab es von dem tag<br />

an auch nichts mehr, um die erstmappen zu füllen. die filialleiter<br />

konnten sich an ihren zehn fingern ausrechnen, wann<br />

daheim die letzten der noch umlaufenden Mappen abholen<br />

würde – nämlich wenn der zehnte kunde in der lieferkette bedient<br />

worden war. daher war es eigentlich nur noch ein akt der<br />

Bürokratie, als daheim – ebenso wie die anderen Betriebe der<br />

Branche, die bis dahin noch überlebt hatten – per 30. september<br />

seine schließungsverfügung erhielt. es gab ohnehin nichts<br />

mehr zu tun.<br />

unter der Überschrift »Maßnahmen zur totalen Mobilisierung<br />

– Betriebsschließung« musste die geschäftsleitung den<br />

filialen daher mitteilen: »trotz endloser Bemühungen, die<br />

den ganzen august über dauerten, ist uns der erfolg, die Branche<br />

und damit auch unseren Betrieb zu erhalten, versagt geblieben.«<br />

nun heiße es vor allem »ruhe bewahren« und die<br />

112


notwendigen schritte einleiten – aber nicht, um den Betrieb<br />

zu grabe zu tragen. Bei ihren richtlinien für die stilllegung<br />

hatte die Zentrale vielmehr schon die Zeit nach hitler fest im<br />

Blick. am anfang einer langen liste noch zu erledigender aufgaben<br />

hieß es daher: »für unseren wiederaufbau ist es unbedingt<br />

notwendig, dass wir das gesamte adressen-Material der<br />

zurzeit tätigen und einberufenen sowie der früher tätig gewesenen,<br />

ausgeschiedenen gefolgschaftsmitglieder besitzen. daher<br />

müssen die hierfür erforderlichen unterlagen umgehend<br />

sorgfältig angefertigt werden.«<br />

am ende den anfang bedenken<br />

damit nach kriegsende das geschäft so schnell wie möglich<br />

wieder aufgebaut werden konnte, sollten noch brauchbare<br />

räume auf keinen fall gekündigt, sondern allenfalls untervermietet<br />

werden – aber mit der klausel, dass sie sofort nach<br />

kriegsende wieder geräumt werden müssten. kraftwagen (»wo<br />

solche noch vorhanden sind«) und transportfahrzeuge sollten<br />

unbedingt sichergestellt werden: »kein fahrzeug darf in einem<br />

offenen schuppen stehen bleiben.« es war leicht vorherzusehen,<br />

dass es da nicht lange bleiben würde.<br />

ganz besonderen wert legte die geschäftsleitung natürlich<br />

auf die wertvollen karteikarten, die liefer-, Boten- und kündigungskartei.<br />

sie sollte an drei verschiedenen orten in sicherheit<br />

gebracht werden: in hohenhaus, in der Zentrale in hannover<br />

und in der jeweiligen filiale. die geschäftsleitung dachte<br />

aber nicht nur an fahrzeuge, geschäftsräume und deren inventar,<br />

an die lagerung der Mappen und die rettung der karteikarten.<br />

sie vergaß auch die Mitarbeiter nicht. da den Boten,<br />

die akkord- oder stücklohn bekamen, wegen der in den letzten<br />

arbeitswochen immer kleiner werdenden touren starke<br />

einkommenseinbußen drohten, wurde angeordnet, ihnen einen<br />

garantielohn zu zahlen. die höhe richtete sich nach dem<br />

113


Verdienst, den sie früher normalerweise gehabt hatten. geschäftsführer,<br />

deren einkommen vom umsatz und gewinn abhängig<br />

war, erhielten ein gehalt, das sich nach dem durchschnittseinkommen<br />

der vergangenen sechs Monate richtete.<br />

sosehr man sich in der Zentrale auch bemühte, an alles zu<br />

denken, brauchte man angesichts der chaotischen Verhältnisse<br />

und der schwierigen kommunikation in den letzten kriegsmonaten<br />

mehr denn je führungskräfte, die nicht erst auf<br />

anweisungen warteten, ehe sie handelten: »wir müssen uns<br />

in den kommenden wochen auf die selbständigkeit unserer<br />

geschäftsführer voll verlassen können«, hieß es daher im anschreiben<br />

zu den stilllegungsrichtlinien. das galt insbesondere<br />

für den umgang mit den Mitarbeitern. die Verantwortlichen<br />

in den filialen sollten alles daransetzen, die Beschäftigten<br />

zusammenzuhalten. die von der reichspressekammer den arbeitsämtern<br />

als verfügbar gemeldeten Mitarbeiter sollten nicht<br />

wahllos an irgendwelche rüstungsbetriebe überstellt werden.<br />

»diese aktion muss … möglichst abgestoppt werden«, mahnte<br />

alfred hartz, der in der geschäftsleitung als prokurist für organisation<br />

und personal zuständig war. Bei Verhandlungen<br />

mit dem arbeitsamt sollte besonders betont werden, dass der<br />

größte teil der Mitarbeiter »infolge körperlicher und geistiger<br />

fehler nicht für die wehrmacht und für die rüstung zu verwenden<br />

ist«. sie hätten sich zwar bei daheim durch erziehung<br />

und geduld durchweg gut eingearbeitet. es sei von ihnen aber<br />

keine gute leistung zu erwarten, wenn sie nun überallhin verstreut<br />

würden. »sie verlieren ihren bisherigen halt und fallen<br />

in ihre alten fehler zurück«, setzte hartz seine argumentationshilfe<br />

fort.<br />

die eigenen leute sollten nicht nur zusammenbleiben, sondern<br />

möglichst auch in den räumen von daheim beschäftigt<br />

werden – beispielsweise mit »heimarbeit« für rüstungsbetriebe.<br />

als Beispiel nannte hartz das Verpacken von arzneimitteln.<br />

falls das arbeitsamt keine Betriebe benennen könne, die sol-<br />

114


che arbeiten zu vergeben hätten, sollten die filialleiter selbst<br />

danach suchen, mahnte er. dem arbeitsamt könnte auch der<br />

Vorschlag gemacht werden, die Boten für ein speditionsunternehmen<br />

arbeiten zu lassen, »wofür wir unsere transportmittel<br />

(karren und räder) zur Verfügung stellen. so könnten beispielsweise<br />

Zubringerdienste vom groß- zum kleinhandel (lebensmittel,<br />

druckereien usw.) durchgeführt werden.«<br />

tatsächlich gelang es in einigen fällen, Mitarbeitergruppen<br />

geschlossen an andere Betriebe zu überstellen – wie etwa in<br />

die trockenfruchtindustrie, wo einige der Boten per Verpflichtungsbescheid<br />

ab anfang dezember 1944 als hilfsarbeiter eingesetzt<br />

wurden. in Berlin und hamburg mutierten die lesezirkel<br />

wie erhofft zu transportunternehmen. ob es auch in<br />

Bremen und an anderen orten gelingen würde, per fahrrad<br />

oder handkarren kartoffeln, ersatzteile oder frischmilch kreuz<br />

und quer durch die stadt zu fahren, war ende 1944 noch ungewiss.<br />

die hoffnung, in den eigenen räumen »rüstungsaufträge«<br />

ausführen zu können, erfüllte sich nirgends. deshalb<br />

erging am 8. november an die filialen, die nicht ohnehin<br />

schon in trümmern lagen, eine letzte stilllegungsrichtlinie.<br />

die anordnung, die Mieten für die räume noch bis ende<br />

März 1945 weiterzuzahlen, lässt vermuten, dass man sich in der<br />

daheim-Zentrale seine eigenen gedanken darüber gemacht<br />

hatte, wie lange der krieg wohl noch dauern könnte. tatsächlich<br />

verschätzte man sich dabei nur um rund fünf wochen. neben<br />

der anweisung, bei allen gummibereiften fahrzeugen die<br />

Bereifung abzunehmen und sie an geeigneter stelle hängend<br />

aufzubewahren, noch vorhandene schreibmaschinen nach hohenhaus<br />

zu schicken, altpapier und verderbliche waren (wie<br />

Verdünnungsmaterial, lack) zu verkaufen oder fernsprechanschlüsse<br />

zu kündigen, wurde auch der hinweis nicht vergessen,<br />

wo der schlüssel abzugeben sei. empfohlen wurde eine zuverlässige<br />

person am ort, vorzugsweise der geschäftsführer oder<br />

dessen frau. andernfalls komme auch die 1. kontoristin in Be-<br />

115


tracht, aber »möglichst kein Mann, weil dieser abberufen werden<br />

kann«. der Versand der wertvollen kartei nach hannover<br />

und hohenhaus sollte im abstand von drei tagen erfolgen,<br />

»um die gefahr der gemeinsamen Vernichtung auf dem transport<br />

möglichst auszuschließen«.<br />

es blieb nun nichts mehr anderes übrig, als den letzten verbliebenen<br />

arbeitskräften zum 30. november zu kündigen – mit<br />

Bedauern und nur auf anweisung der reichspressekammer als<br />

vorgesetzter dienststelle, wie in dem schreiben betont wurde.<br />

»wir brauchen ihnen wohl nicht zu versichern, dass wir … dieser<br />

Maßnahme unseren bewährten Mitarbeitern gegenüber<br />

nur schweren herzens nachkommen«, hieß es in dem schreiben.<br />

»wir sind aber der Überzeugung, dass durch den wiederaufbau<br />

unseres Betriebes zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt<br />

die heutige kündigung lediglich formellen charakter trägt.«<br />

die wände stehen noch<br />

Zu den drei filialen, bei denen sechs Monate später noch eine<br />

tür vorhanden war, die mit einem der sorgsam verwahrten<br />

schlüssel geöffnet werden konnte, gehörte neben kiel und<br />

hannover die grüne Mappe in hamburg. während die daheim-filiale<br />

in leipzig ende 1943 den Bomben zum opfer fiel,<br />

die räumlichkeiten des lesezirkels in düsseldorf gleich zweimal<br />

völlig zerstört wurden, die filiale in kassel vom erdboden<br />

verschwand, die stuttgarter filiale ebenso wie die geschäftsräume<br />

in München, frankfurt und in vielen anderen städten<br />

total ausgebombt wurden und in hannover neben der Zentrale<br />

auch die wohnung der familie ganske in flammen aufging,<br />

war das chilehaus in hamburg weitgehend verschont geblieben.<br />

ebenso wie die Verlagsräume von hoffmann und<br />

campe überstand das kontorhaus, mit dessen Bau 1922 begonnen<br />

worden war, alle Bombenangriffe. seit 1983 ist es denkmalgeschützt,<br />

und seit 1995 steht es auf der warteliste der<br />

116


unesco als weltkulturerbe. obgleich ringsherum alles in trümmer<br />

fiel, zerbarsten in dem hoch aufragenden, dunkelroten<br />

Backsteingebäude auch während der schwersten angriffe auf<br />

hamburg nur die scheiben.<br />

in einem ihrer regelmäßigen Berichte an kurt ganske schilderte<br />

harriet wegener, wie es dort nach dem tagelangen Bombardement<br />

der operation gomorrha aussah, dem hamburg<br />

im Juli 1943 ausgesetzt war: »ich war heute nach dem dritten<br />

angriff in der grünen Mappe. das chilehaus steht, und im<br />

Büro sind nur die scheiben kaputt. die ganze gegend brannte<br />

noch ziemlich. Zunächst habe ich die eine scheibe so gut wie<br />

möglich mit einer sowieso herausgefallenen tür verbarrikadiert,<br />

die schreibmaschinen in nicos [gemeint: filialleiter nicodemus]<br />

Zimmer getragen, die lampen auch so verstaut, dass<br />

sie nicht gerade zum Mitnehmen von der straße einluden.<br />

dann kamen die Boten, die lohn haben wollten, und da nico<br />

nicht erschien, bin ich in der stadt herumgesaust, um geld zu<br />

bekommen (ich hatte nur 120 M da). aber alle befreundeten<br />

firmen und auch der Verlag waren geschlossen oder ausgebrannt,<br />

und auf dem rathaus verwies man mich an die katastrophendienststellen.<br />

als ich unverrichteter sache zurückkam,<br />

kam nico bald an. (er hatte die ganze nacht gelöscht und gerettet.)<br />

er war auch ausgebombt, wohnte in lauenburg und<br />

wollte so bald wie möglich mit seiner familie nach darmstadt.<br />

er hatte nur den schlüssel zum geldschrank, aber nicht zur<br />

geldkassette. wir haben diese aufgebrochen und das, was da<br />

war, an Boten gegen Quittung ausgezahlt (runde Vorschusssummen,<br />

meist 50 Mark). da an austragen der Mappen nicht<br />

zu denken ist im augenblick, haben wir den leuten gesagt, sie<br />

sollten frühestens in vierzehn tagen wieder vorfragen. dann<br />

wollte nico zurück sein. Vorläufig habe ich 5000 M hierher<br />

und nico 2000 Mark mitgenommen. in die kassette haben wir<br />

Quittungen gelegt. ich habe noch das portobuch mitgenommen.<br />

für wie viel Briefmarken da sind, habe ich noch nicht<br />

117


gezählt. etwas kleingeld ist noch in der kassette. eigentlich<br />

wollte ich es auch mitnehmen, aber nico war ein bisschen<br />

reichlich in der stimmung: in den nächsten tagen wird ja<br />

doch das chilehaus und alles andere kaputt gemacht, und<br />

dann ist schon alles gleich. er war daher auch nicht für meine<br />

wünsche zu haben, die fenster zu verbarrikadieren und die<br />

sachen in hinterzimmern zu verstauen, und da er nun mal<br />

der leiter ist, hatte ich nicht recht die energie, es durchzusetzen,<br />

zumal ich von 9 bis 5 unterwegs war und eigentlich schon<br />

um 2 zu hause sein wollte … ich werde morgen versuchen, den<br />

Blankeneser lagerleiter zu finden und eventuell mit ihm in die<br />

stadt fahren, hammer und nägel mitnehmen und sehen, was<br />

sich tun lässt.«<br />

sie schrieb dies nieder, nachdem sie vom stadtzentrum kilometerweit<br />

mit dem fahrrad durch eine brennende trümmerlandschaft<br />

zurück nach flottbek gefahren war und ohne zu<br />

wissen, wo der Brief den in hannover zur gleichen Zeit ausgebombten<br />

kurt ganske erreichen würde, falls er überhaupt<br />

noch am leben war. »harriet war mehr wert als zwei Männer«,<br />

sagte der Verleger seinen söhnen später, wenn das gespräch<br />

auf diese Zeit kam, und seine frau spricht noch ein halbes<br />

Jahrhundert danach von der »Mutter des Verlags«.<br />

noch einmal davongekommen<br />

einige Monate später, kurz nach kriegsende, konnte harriet<br />

wegener dem nach seiner flucht aus russischer gefangenschaft<br />

gerade in hohenhaus eingetroffenen kurt ganske schon wieder<br />

einen wesentlich erfreulicheren lagebericht senden: »der<br />

lesezirkel grüne Mappe arbeitet mit vollen touren als kleintransport-unternehmen.<br />

wir haben etwa 36 Boten, darunter<br />

einige handwerker, die transporte fahren, nur nicht mehr für<br />

die rüstung, sondern meist für privatpersonen (Möbeltransporte,<br />

wobei die tischler gut zu brauchen sind) und für das<br />

118


nahrungsmittelgewerbe. daneben laufen für uns zwei pferdewagen,<br />

der eine in der stadt und alle 14 tage nach Blankenese,<br />

der andere in der stadt und richtung halstenbek, wo er beheimatet<br />

ist. außerdem nimmt das auto, das zweimal in der woche<br />

Butter aus schleswig bringt, rückfrachten für neumünster,<br />

rendsburg, schleswig mit … Zurzeit verhandeln wir um<br />

einen gewerbeschein für transport und lagerung. Bisher beruht<br />

noch alles auf unserer alten Zulassung für die rüstungsindustrie<br />

… herr storr ist inzwischen nach Bremen gefahren<br />

und hat festgestellt, dass das lokal steht, die karren geklaut<br />

sind und schläuche und decken der fahrräder auch. sonst<br />

könnte er da längst transporte fahren … lübeck möchte<br />

transporte fahren, hat aber keine räder und karren. die filiale<br />

hannover fährt transporte … das lokal der grünen<br />

Mappe hat bei einem der letzten angriffe stark gelitten, ist<br />

aber brauchbar. teile haben wir abgeben müssen, aber das uns<br />

Verbleibende ist nicht von den engländern beschlagnahmt.«<br />

hohenhaus dagegen war von us-truppen requiriert worden.<br />

als kurt ganske nach wochenlangen nachtmärschen dort<br />

eintraf, stellte er fest, dass 200 gis im gutshaus einquartiert<br />

worden waren. er verbrachte deshalb die erste nacht im gewächshaus,<br />

ehe er am nächsten tag ins haus schlich und sich<br />

im schlafzimmer versteckte. wenn er ins Bad wollte, trug seine<br />

frau ein Bügelbrett über den flur, hinter dem er sich verbergen<br />

konnte. nicht einmal die kinder durften erfahren, dass es<br />

dem Vater gelungen war, sich einer gefangennahme durch die<br />

russen zu entziehen. die gefahr, dass sie sich verplappern<br />

könnten, war zu groß. da die situation auf die dauer unhaltbar<br />

war, stellte sich der rückkehrer nach zwei tagen den amerikanern.<br />

schon am Mittag des gleichen tages war er zurück. da er<br />

weder parteigenosse war noch etwas mit der ss zu tun gehabt<br />

hatte, sahen die amerikaner keinen grund, ihn festzuhalten.<br />

der wiederaufbau des unternehmens und seiner filialen<br />

konnte beginnen. kurt ganske dirigierte ihn zunächst von ho-<br />

119


henhaus aus. tatkräftig unterstützt wurde er dabei von seinen<br />

prokuristen alfred hartz und gustav dietzel. Beide waren<br />

schon seit anfang der dreißiger Jahre bei daheim angestellt.<br />

dietzel war nach dem krieg vor allem für den außendienst zuständig,<br />

die »rechte hand« ihres Mannes, wie gerda ganske<br />

sich erinnert. hartz, mit dem kurt ganske seit den gemeinsamen<br />

lehrlingstagen in hamburg befreundet war, kümmerte<br />

sich um die innere organisation. auch andere führungskräfte,<br />

die den krieg überlebt hatten, sammelten sich nach und nach<br />

in hohenhaus. »fünf bis sechs Mitarbeiter waren es, die damals<br />

mit frau und kindern bei uns im haus lebten«, berichtet<br />

gerda ganske. auch mit 96 Jahren kann sich die hellwache<br />

alte dame noch gut an die einzelheiten erinnern.<br />

die meisten waren ebenso wie ihr chef ausgebombt. gemeinsam<br />

mit der familie ganske fanden sie nun unterschlupf<br />

im gutshaus. in der küche wurde ein zweiter herd aufgestellt,<br />

damit alle frauen eine Möglichkeit fanden, für ihre familien<br />

die Mahlzeiten zuzubereiten. Milch kam von den kühen im<br />

stall, obst von den Bäumen rings um den gutshof. obwohl<br />

Michael ganske, der älteste sohn, 1945 erst sechs Jahre alt war,<br />

erinnert er sich bis heute an viele details aus den ersten nachkriegsjahren.<br />

sein Vater suchte in dem strom der flüchtlinge<br />

gezielt nach guten handwerkern und verschaffte ihnen auf<br />

dem gelände des gutshofs ebenfalls eine Bleibe. Jeder bekam<br />

eine parzelle, auf der er für sich und seine angehörigen kartoffeln,<br />

Bohnen, tomaten und anderes gemüse anbauen und<br />

ein paar hühner halten konnte. und alle spielten eine wichtige<br />

rolle beim wiederaufbau der filialen.<br />

in den zum rittergut gehörenden wäldern gab es reichlich<br />

holz. kurt ganske ließ es in der ehemaligen remise zu Balken<br />

und Brettern verarbeiten. Mit einem klapprigen alten lastwagen<br />

wurde das Baumaterial zu den filialen gefahren. die auf<br />

dem gut angesiedelten handwerker fuhren gleich mit und unterstützten<br />

die ortskräfte mit ihren fachkenntnissen beim<br />

120


wiederaufbau von werkstätten, lager- und Büroräumen, der<br />

reparatur von Maschinen und fahrzeugen. es mussten decken<br />

abgestützt, türen eingesetzt und fenster abgedichtet werden,<br />

meist erst einmal mit »rollglas«, wie die mit einem lichtdurchlässigen<br />

kunststoff überzogenen drahtnetze genannt<br />

wurden, die in die leeren fensterrahmen genagelt wurden. wo<br />

am alten standort nichts mehr zu reparieren war, wurde versucht,<br />

neue räume anzumieten und so herzurichten, dass darin<br />

wieder notdürftig gearbeitet werden konnte.<br />

es fehlten zunächst fast alle utensilien, ohne die ein lesezirkel<br />

nicht auskommt. ein großer teil der Mappen war verbrannt.<br />

fahrräder, karren und motorisierte fahrzeuge waren<br />

größtenteils vernichtet, gestohlen oder wegen ersatzteilmangel<br />

nicht einsatzfähig. in den zerstörten filialen gab es keine<br />

brauchbaren heftmaschinen mehr. es mangelte sogar an draht,<br />

kleister und klammern. papierscheren waren ebenso schwer<br />

aufzutreiben wie schreibmaschinen oder karteikarten. im ersten<br />

nachkriegswinter gab es in vielen arbeitsräumen nicht<br />

einmal einen einfachen kohle- oder holzofen. aber auch der<br />

hätte nichts genützt, weil nirgendwo kohle oder Brennholz<br />

aufzutreiben war.<br />

wie stark die arbeit durch den alltäglichen Mangel behindert<br />

wurde, illustriert die einladung des lesezirkelverbandes<br />

in hamburg zu einer sitzung im dezember 1946. um auch weiterhin<br />

eingaben bei Behörden machen, Mitteilungen verschicken<br />

und Bescheinigungen ausstellen zu können, bittet der<br />

Vorsitzende am ende des schreibens um eine kleine spende in<br />

form von Briefpapier: »Bisher habe ich meinen privatbestand<br />

dazu hergegeben. der ist jetzt verbraucht. wenn jeder zur<br />

Versammlung eine handvoll schreibmaschinenpapier (unbedruckt),<br />

einen copierbogen und einige umschläge mitbringt,<br />

raucht der schornstein wieder ein weilchen.«<br />

um überhaupt mit der arbeit beginnen zu können, mussten<br />

sich die filialen bei der Militärregierung registrieren lassen<br />

121


und eine Betriebsgenehmigung beantragen. die war zwar<br />

leichter zu bekommen als eine Verlagslizenz. aber auch mit<br />

genehmigung konnten die lesezirkel ihre eigentliche aufgabe,<br />

lesestoff unter die leute zu bringen, nur schwer erfüllen.<br />

es gab kaum Zeitschriften, die man sortieren, ausliefern<br />

und wieder einsammeln konnte. deshalb behalf man sich in<br />

vielen filialen zunächst mit kleintransporten und anderen<br />

»artfremden« tätigkeiten. doch damit konnten nur wenige<br />

Mitarbeiter beschäftigt werden. Je mehr von den ehemaligen<br />

Boten, Vertretern, den lager- und Büromitarbeiterinnen vom<br />

land, aus den ehemaligen rüstungsbetrieben oder aus der gefangenschaft<br />

zurückkamen, desto schwieriger wurde es, ihnen<br />

arbeit zu geben. irgendjemand kam ende 1945 auf die idee,<br />

die noch vorhandenen Mappen erst einmal mit Büchern statt<br />

mit Magazinen zu füllen.<br />

das taten auch andere lesezirkel. aber wieder einmal war<br />

kurt ganske seinen konkurrenten um eine nasenlänge voraus.<br />

Bei hoffmann und campe waren nicht die gesamten lagerbestände<br />

verbrannt. außerdem wurden nach erteilung der Verlagslizenz<br />

bereits 1946 schon wieder neue Bücher aufgelegt.<br />

im herbstprogramm konnten immerhin 13 titel angeboten<br />

werden – nicht zuletzt dank der Vorarbeit von harriet wegener,<br />

die in den letzten kriegsmonaten auch ohne genehmigung<br />

des propagandaministeriums und ohne papierbewilligung geeignete<br />

Manuskripte setzen und matern ließ.<br />

Zeitschriften hatte hoffmann und campe zu dieser Zeit<br />

noch nicht zu bieten, konnte aber immerhin pakete mit 50 bis<br />

100 Büchern für die daheim-filialen liefern. darunter waren<br />

»Madame de staël« und »schiller« von albert erich Brinckmann,<br />

das »Buch der lieder« von heinrich heine oder eine<br />

»Maritime weltgeschichte«. das waren gewiss keine titel, die<br />

man in normalen Zeiten einem breiten publikum angeboten<br />

hätte. aber »in der not frisst der teufel fliegen«. harriet wegener<br />

hatte sich außerdem während des krieges im auftrag<br />

122


von kurt ganske darum bemüht, eine daheim-werksbibliothek<br />

aufzubauen. sie hatte zwar nur einen teil der gewünschten<br />

werke auftreiben können, aber jetzt war auch das eine<br />

kleine hilfe. selbst bei kunden wurden Bücher eingesammelt,<br />

wenn sie bereit waren, ein paar schmöker für den Verleih zur<br />

Verfügung zu stellen.<br />

auch die Übernahme des wegweiser Verlags, der aus dem<br />

Volksverband der Bücherfreunde hervorgegangen war, diente<br />

wohl vor allem dem Zweck, der dort noch vorhandenen Bücherbestände<br />

habhaft zu werden. sie wanderten 1946 zum teil in<br />

die Mappen von daheim, gaben aber auch hoca die Möglichkeit,<br />

dem Buchhandel etwas zukommen zu lassen.<br />

angereichert wurden die Mappen mit ein paar älteren Zeitschriften,<br />

die erhalten geblieben waren. dazu kamen sporadisch<br />

erscheinende Blätter, die wegen des papiermangels aber<br />

immer nur sehr kleine auflagen hatten. die Mitglieder des lesezirkelverbandes<br />

verpflichteten sich daher, diese Zeitschriften<br />

nach einem bestimmten schlüssel untereinander aufzuteilen.<br />

alle Betriebe sollten so eine chance zum Überleben erhalten.<br />

»Mein Vater hat erzählt, dass sogar halbhefte in die Mappen<br />

gelegt wurden, damit die Bezieher nicht gleich das ganze Blatt<br />

in einer woche lasen«, erinnert sich sein sohn thomas.<br />

gelegentlich konnten auch aktuelle Zeitschriften aus Österreich<br />

beigelegt werden. dort erschienen schon 1945 wieder regelmäßig<br />

mehrere titel. deren export nach deutschland war<br />

zwar verboten. es gelang aber schon 1946, eine waggonladung<br />

davon über die grenze zu schmuggeln. wie das geschah, »wird<br />

wohl immer geheimnis der Beteiligten, insbesondere auch des<br />

Verfassers dieses aufsatzes, bleiben müssen«, berichtete ein<br />

Verbandsfunktionär später etwas wichtigtuerisch.<br />

das war nicht der lesestoff, den daheim seinen kunden<br />

früher geboten hatte. die Mappen konnten zunächst auch<br />

nicht mit der gleichen pünktlichkeit und Zuverlässigkeit geliefert<br />

werden. aber es war ein anfang.<br />

123


erst kommt das fressen …<br />

fast von vorn anfangen musste man auch wieder mit dem aufbau<br />

des kundenstamms. einige der karteien und damit auch<br />

die kundenadressen waren vernichtet oder entwendet worden.<br />

die meisten waren jedoch erhalten geblieben. die anschriften<br />

stimmten aber in vielen fällen nicht mehr. die häuser waren<br />

zerstört, die Bewohner umgekommen, geflohen oder in anderen<br />

stadtteilen in die noch erhaltenen wohnungen eingewiesen<br />

worden. Viele kamen überhaupt nicht mehr in die frühere<br />

heimat zurück. sie blieben da, wohin sie durch evakuierung,<br />

flucht oder Vertreibung verschlagen worden waren. dennoch<br />

gelang, was zunächst schier unmöglich erschien: Bis ende 1946<br />

konnte etwa die hälfte der früheren kunden wieder beliefert<br />

werden. um allerdings an die abo-Zahlen heranzukommen,<br />

die vor dem krieg erreicht worden waren, musste die andere<br />

hälfte neu geworben werden. während des krieges hatte man<br />

sich damit zurückgehalten. harriet wegener hatte sich zunächst<br />

darüber geärgert, dass bei der grünen Mappe ihre hinweise<br />

auf potenzielle kunden scheinbar auf wenig interesse<br />

stießen. erst auf nachfrage erfuhr sie, dass kurt ganske dies<br />

so angeordnet hatte. er wollte nicht, dass ausgebombten konkurrenten<br />

das wasser abgegraben wurde.<br />

als alle wieder die gleiche chance für einen neubeginn hatten,<br />

war es mit der Zurückhaltung allerdings vorbei. schon<br />

1946 konnten in den drei westlichen Besatzungszonen 15 filialen<br />

wieder in Betrieb genommen werden. im folgenden Jahr<br />

waren es weitere acht, davon sechs in der sowjetischen Besatzungszone.<br />

1948 kamen zwei weitere Zweigstellen hinzu – und<br />

mit ihnen alte und neue kunden. schon 1947, als das 40-jährige<br />

Jubiläum der firma gefeiert wurde – der schweren Zeiten<br />

wegen auch diesmal wieder ohne pauken und trompeten –,<br />

kamen erste erfolgsmeldungen. noch im stil der verflossenen<br />

Jahre schickten die Mitarbeiter aus der daheim-geburtsstadt<br />

124


ihre glückwünsche: »die zur feier des geschäftsjubiläums versammelte<br />

gefolgschaft der filiale kiel grüßt die geschäftsleitung<br />

und meldet als ersten erfolg der steten einsatzbereitschaft<br />

die erreichung des letzten kriegskundenstammes.«<br />

Ähnlich erfolgreich und engagiert arbeiteten offenbar auch<br />

die Mitarbeiter in den anderen filialen, denn der Vorkriegsstand<br />

wurde innerhalb der ersten drei nachkriegsjahre nicht<br />

nur erreicht, sondern sogar deutlich übertroffen. Bis zur währungsreform<br />

stieg die Zahl der alten, der wiedergewonnenen<br />

und der neuen abonnenten in den drei westzonen auf insgesamt<br />

170 000, darunter 9000 Bezieher von erstmappen. in der<br />

sowjetisch besetzten Zone war, gemessen an der Bevölkerungszahl,<br />

das ergebnis noch besser. dort teilten sich 39 000 Bezieher<br />

2600 erstmappen. das bedeutete, dass die alte rekordzahl<br />

um mehr als ein Viertel übertroffen worden war und die Bücher<br />

und Zeitschriften, mit denen die Mappen gefüllt wurden,<br />

in diesen Jahren bis zu 18-mal den nutzer wechselten. auch<br />

das war ein rekord – und ein indiz dafür, wie groß der lesehunger<br />

war.<br />

um die Mitarbeiter im allgemeinen und die außendienstvertreter<br />

im Besonderen anzuspornen, gab es außer geld auch<br />

gute worte, der besseren wirkung wegen gern auch mal in<br />

form von liedern und Versen. um die Mitarbeiter zu motivieren,<br />

erinnerten sich einige filialleiter gelegentlich daran, dass<br />

sie zum Volk der dichter und denker gehörten. davon zeugten<br />

in den dreißiger Jahren das »daheim-firmen-lied« oder das<br />

»organisatoren-lied«. sie wurden auf die Melodie von »wohlauf,<br />

die luft geht frisch und rein« beziehungsweise »die gigerlkönigin«<br />

gesungen und enthielten Verse wie diesen: »was im<br />

Büro zu tun man hat, das wird ein jeder wissen; radieren und<br />

auch striche ziehn tut niemals wen verdrießen.« Beim »organisatoren-lied«<br />

lautete der nach jeder strophe erklingende<br />

refrain: »seht, seht, das ist ein geschäft, das bringt noch was<br />

ein. ein jeder aber kann es nicht, es muss verstanden sein.« ge-<br />

125


schmettert wurden diese lieder unter anderem anlässlich einer<br />

geschäftsführer- und organisatoreninstruktion, zu der man<br />

sich im august 1935 in der lüneburger heide traf.<br />

auch nach dem krieg ging der eine oder andere filialleiter<br />

schon mal unter die dichter, um den Mitarbeitern die richtige<br />

einstellung zum Beruf zu vermitteln. eine solche lehrtafel in<br />

Versform aus den fünfziger Jahren, die ausdrücklich als »eigentum<br />

der firma lesezirkel daheim richard ganske« gekennzeichnet<br />

ist, hat alle umzüge und umorganisationen überstanden.<br />

Joachim herbst, der seit april 1999 zunächst als referent<br />

des Verlegers in der ganske-gruppe gearbeitet hatte und im<br />

oktober 2001 die geschäftsführung von daheim übernahm,<br />

hat diesen Meilenstein in der geschichte der Mitarbeitermotivation<br />

in einer rumpelkammer entdeckt und gerade noch<br />

rechtzeitig vor der finalen entsorgung bewahrt.<br />

auf dem schaubild wird mit jeweils neun fotos und den dazugehörenden<br />

Versen veranschaulicht, was den guten daheim-<br />

Vertreter vom »auch-Vertreter« unterscheidet. während der<br />

gute sich abends zu hause beim schachspiel entspannt, den<br />

geist durch lektüre anregt und sich vor dem schlafengehen<br />

die Zähne putzt, spielt der taugenichts karten, raucht, trinkt<br />

und hat am nächsten Morgen Mundgeruch. entsprechend gut<br />

oder schlecht führen sich die beiden am nächsten tag gegenüber<br />

den kunden auf. dass der Musterknabe gut verdient (»das<br />

tagesziel ist heut erreicht, uns allen fällt der heimweg leicht«),<br />

während der hallodri den tag ohne auftrag und überdies vorzeitig<br />

beendet (»die arbeitslust war heut’ nicht groß! kein auftrag<br />

fiel ihm in den schoß. trotzdem den schritt nach haus er<br />

lenkt, fragt nicht, was die kolonne denkt!«), versteht sich von<br />

selbst.<br />

so motiviert sammelten die Vertreter in den fünfziger Jahren<br />

aufträge ein wie nie zuvor. es hätten sogar noch mehr<br />

abonnenten sein können, wenn jeder genommen worden wäre,<br />

der gern ein paar Zeitschriften lesen wollte. aber es gab in den<br />

126


meisten städten und regionen, in denen daheim vertreten<br />

war, sperrgebiete. dort war es den Vertretern verboten, aufträge<br />

zu schreiben. an kunden, die selten oder nie zahlten, war<br />

man verständlicherweise nicht interessiert. in einem handbuch,<br />

in dem orte von a wie aachen bis Z wie Zülpich verzeichnet<br />

sind, waren die straßen, wohngebiete und sogar gebäude<br />

detailliert aufgelistet, die für werber tabu waren. in<br />

aachen umfasste die liste 30 straßen sowie »alle Bunker«. in<br />

düsseldorf muss es in den ersten nachkriegsjahren besonders<br />

viele zahlungsfaule kunden gegeben haben, denn immerhin<br />

84 straßen wurden als no-go-Zonen genannt. so wurden unter<br />

anderem keine abo-aufträge mit der adresse aachener<br />

straße 172, dem dietzelweg (Baracke) oder der katharinenstraße<br />

(ausländerlager) angenommen. unerwünscht waren<br />

auch kunden in der leverkusener straße (stahlhelmsiedlung)<br />

oder aus ledigenheimen. in München mussten die Vertreter<br />

zwar nur um 31 straßen einen Bogen machen, hatten aber<br />

als generelle anweisung zu beachten: »des weiteren sind alle<br />

offensichtlichen Baracken- und kasernen-abonnenten unerwünscht.«<br />

in hannover war die gemeindeholzstraße 37 (»Jünglingsheim«)<br />

ebenso off limits wie die ludwigstraße (»Bordell«).<br />

unter iserlohn findet sich der hinweis: »allgemeine Vorsicht<br />

in der altstadt hinterm dicken turm.«<br />

Manchmal versteckten sich filialleiter aber auch hinter dicken<br />

Bäumen, um unliebsame konkurrenten zu beobachten.<br />

selbst der prokurist gustav dietzel war sich nicht zu fein dafür,<br />

gelegentlich privatdetektiv zu spielen. es ging dabei um ehemalige<br />

Boten, die in den wirren der letzten kriegstage teile<br />

der kundenkartei an sich gebracht hatten oder einfach ihr gedächtnis<br />

strapazierten, um ehemalige daheim-kunden ausfindig<br />

zu machen, deren Belieferung sie nun selbst in die hand<br />

nehmen wollten. »das war eigentlich diebstahl von firmeneigentum«,<br />

stellt hans löber klar, der 1949 die leitung der<br />

filiale in düsseldorf übernahm, nachdem er vor den russen in<br />

127


den westen geflohen war. er hat selbst so manchen unlauteren<br />

konkurrenten ertappt. er folgte ihm dann unauffällig auf seinem<br />

weg zu den früheren kunden. »wir haben sie dann angesprochen<br />

und ihnen ein günstigeres angebot gemacht. Meist<br />

hatten wir sie danach schnell zurück.«<br />

anders war es, wenn daheim-Vertreter bei jemandem klingelten,<br />

der bereits von einem Branchenkollegen beliefert wurde.<br />

dann galt die strikte regel, dass man sich mit der Bemerkung,<br />

man wolle bestehende geschäftsbeziehungen nicht<br />

stören, wieder höflich verabschiedete.<br />

der tag, an dem das neue geld kam<br />

für den chef waren andere hinweise wichtiger. drei Jahre<br />

nach kriegsende verdichteten sich die gerüchte über eine bevorstehende<br />

währungsreform. ein Mitarbeiter berichtete kurt<br />

ganske im Juni 1948 nach hohenhaus, dass ihm seit seiner ankunft<br />

in hamburg das ständige gerede über einen bevorstehenden<br />

geldumtausch auffalle. er habe »beobachtet, dass es<br />

sich dabei beinahe schon um eine psychose handelt«. eine der<br />

folgen sei, dass »man durch das ganze gerede auch bei den<br />

druckereien immer nervöser und damit immer weniger geneigt<br />

wird, etwas zu liefern«. das galt aber nicht nur für die<br />

druckindustrie. Jeder, der etwas zu verkaufen hatte, wartete ab.<br />

das änderte sich schlagartig, als die westalliierten am<br />

18. Juni 1948 das währungsgesetz bekanntgaben. fast gleichzeitig<br />

und ohne absprache mit den alliierten verkündete ludwig<br />

erhard, der damalige Zonen-wirtschaftsdirektor und spätere<br />

Bundeswirtschaftsminister, die abschaffung der seit kriegsbeginn<br />

geltenden Zwangsbewirtschaftung und setzte diesen radikalen<br />

Bruch mit der Vergangenheit auch tatsächlich gegen<br />

den widerstand der Militärregierung durch.<br />

am 20. Juni wurde die neue währung ausgegeben. die abgewirtschaftete<br />

reichsmark wurde durch die deutsche Mark<br />

128


ersetzt. Jeder einwohner der trizone erhielt zunächst 40 d-Mark<br />

»kopfgeld«. schon am tag danach lagen in den schaufenstern<br />

waren, die man seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. es<br />

gab orangen, schokolade und viele andere dinge zu kaufen,<br />

die kinder und Jugendliche nur aus den erzählungen ihrer eltern<br />

kannten. die schwarzen Märkte dagegen verschwanden<br />

buchstäblich über nacht. gleichzeitig erlosch das interesse an<br />

kultur und unterhaltung. die westdeutschen stürzten in die<br />

geschäfte und gaben das neue geld für essen und trinken,<br />

später für kleidung und wohnung aus. kinos, konzertsäle, kabaretts<br />

und Museen dagegen blieben nach der währungsreform<br />

leer. selbst mit radikal gesenkten preisen ließen sich die<br />

Zuschauer nicht in die notdürftig instandgesetzten opernhäuser<br />

und theater locken. Zum erstaunen der Verlagsbranche<br />

galt dies zunächst nicht für Bücher. die verkauften sich auch<br />

dann noch, als mit harter d-Mark dafür bezahlt werden musste,<br />

wie »warme semmeln«. erst Mitte 1949 brach auch hier die<br />

nachfrage schlagartig ab. die lesezirkel dagegen hatte der radikale<br />

wandel der konsumgewohnheiten sofort und mit voller<br />

wucht getroffen. war es bis zur währungsreform schwerer, an<br />

Zeitschriften als an neue kunden zu kommen, so drehte sich<br />

dies nun wieder um.<br />

während jeden Monat neue Blätter an die kioske kamen,<br />

hagelte es bei den lesezirkeln abbestellungen. Viele der kleineren<br />

Betriebe, die den krieg und die hungerjahre mit ach<br />

und krach durchgestanden hatten, überlebten diesen schock<br />

nicht. auch daheim traf es hart. der lesezirkel hatte zwar aus<br />

dem stand heraus seine überragende Marktstellung zurückerobert,<br />

verlor aber nach dem währungsschnitt seine abonnenten<br />

fast ebenso schnell, wie er sie zuvor gewonnen hatte. in<br />

den drei westzonen kehrte innerhalb kürzester Zeit fast jeder<br />

zweite Bezieher dem lesezirkel wieder den rücken. die kundenzahl<br />

sank innerhalb weniger Monate auf 95 000. auch im<br />

osten ging 1948 ein beträchtlicher teil der in den zwei Jahren<br />

129


zuvor gewonnenen kunden wieder verloren. im sowjetisch besetzten<br />

teil deutschlands lag es allerdings nicht daran, dass<br />

die abonnenten durch volle schaufenster vom lesen abgelenkt<br />

wurden. es war vielmehr die anhaltende not, die auch im<br />

osten zu einer flut von abbestellungen führte und in der sBZ<br />

die Zahl der Bezieher auf 33 000 schrumpfen ließ. das war allerdings<br />

nicht der grund, warum kurt ganske seine ostdeutschen<br />

filialen in eine selbständige kommanditgesellschaft umwandelte<br />

– er ahnte wohl, dass bald ganz andere probleme auf<br />

ihn zukommen würden.<br />

tatsächlich endete das engagement im osten schon 1951<br />

mit einem totalverlust. der welle der Verstaatlichungen fielen<br />

neben zahlreichen anderen Betrieben auch die lesezirkel zum<br />

opfer. die mit großem einsatz wiederaufgebauten daheimfilialen<br />

in leipzig, dresden, görlitz, Magdeburg, chemnitz<br />

und Zwickau wurden enteignet und ihre Verwaltung der post<br />

übertragen. das war der anfang vom ende. ebenso wie die anderen<br />

lesezirkel verschwanden auch die daheim-filialen in<br />

der späteren ddr bald spurlos von der Bildfläche. einige der<br />

Mitarbeiter, denen die flucht gelang, stießen danach im westen<br />

wieder zu ihrer alten Mannschaft. andere wurden von hohenhaus<br />

aus noch jahrelang mit wurstpaketen und anderen<br />

köstlichkeiten versorgt, die das arbeiter- und Bauernparadies<br />

ihnen nicht bieten konnte. es war vor allem gerda ganske, die<br />

den kontakt zu vielen der früheren Mitarbeiter auch dann<br />

nicht abreißen ließ, als sie für Jahrzehnte hinter Mauer und<br />

stacheldraht verschwanden.<br />

kleine Münzen, großer gewinn<br />

die Menschen im osten mussten noch fast ein halbes Jahrhundert<br />

warten, bis auch für sie die magere nachkriegszeit endgültig<br />

vorbei war. die 1949 gegründete Bundesrepublik dagegen<br />

ging einem phänomenalen wirtschaftsaufschwung entgegen,<br />

130


dem deutschen »wirtschaftswunder«. Verlierer der reform waren<br />

die kleinen sparer, deren guthaben bei der umstellung<br />

stark entwertet wurden. Besitzer von sachwerten kamen dagegen<br />

weitgehend ungeschoren davon. Betriebe, häuser, fahrzeuge<br />

oder waren behielten ihren wert und konnten als startkapital<br />

bei dem nun beginnenden wettlauf in den wohlstand<br />

dienen.<br />

kurt ganske verschaffte sich noch einen zusätzlichen startvorteil.<br />

als sich die gerüchte über eine bevorstehende währungsreform<br />

verdichteten, gab er seinen Boten die zunächst<br />

merkwürdig erscheinende anweisung, beim inkasso nur noch<br />

Münzen zu akzeptieren. und er wies die filialleiter an, das<br />

kleingeld nicht zur Bank zu bringen. er sah voraus, dass es angesichts<br />

der rohstoffknappheit und der begrenzten kapazitäten<br />

in den Münzanstalten am stichtag zwar die neuen scheine<br />

geben würde, nicht aber genügend Münzen. »diese erfahrung<br />

hatte er aus der Zeit der großen inflation in den zwanziger Jahren«,<br />

weiß sein sohn thomas ganske. »das war nun eine seiner<br />

finanzierungsideen in der Zeit des wiederaufbaus.« tatsächlich<br />

blieben die abgegriffenen pfennige und groschen auch<br />

nach einführung der d-Mark noch längere Zeit als wechselgeld<br />

im umlauf. während Banknoten und kontobestände eins<br />

zu zehn abgewertet wurden, konnten Münzen später zum<br />

nennwert in dM getauscht werden. für die meisten Bundesbürger<br />

spielte das keine große rolle. Bei ihnen klimperte nur<br />

eine handvoll kleingeld in der tasche. kurt ganske dagegen<br />

hatte es sackweise eingesammelt und tauschte seinen Münzschatz<br />

erst ein, als er von den Banken gutschriften dafür in<br />

der neuen, stabilen währung bekam.<br />

der Verlust an kunden ließ sich nicht so leicht wettmachen.<br />

doch die vielen neuen Blätter und die wieder zunehmende<br />

Qualität der Zeitschriften ließ zu anfang der fünfziger Jahre<br />

auch die leselust wieder wachsen. angesichts der zunächst<br />

noch sehr geringen einkommen zeigte der hinweis der daheim-<br />

131


werber auf den preisvorteil des gemeinschaftslesens wieder<br />

seine schon seit 300 Jahren gewohnte wirkung. eine aktuelle<br />

Mappe mit zehn Zeitschriften kostete 2,70 dM. das war schon<br />

eine kräftige ersparnis gegenüber den einzelverkaufspreisen<br />

dieser Blätter. wer sich länger gedulden wollte, bekam die gleichen<br />

Blätter noch günstiger. ein Bestellschein aus dem Jahr<br />

1950, den eine daheim-kundin nach Jahrzehnten in ihren unterlagen<br />

fand, zeigt, dass sie damals eine Mappe der klasse 7<br />

(lieferung sieben wochen nach erscheinen) für eine wöchentliche<br />

leihgebühr von 60 pfennig erhielt.<br />

heutigen lesern erscheint das auf den ersten Blick außerordentlich<br />

billig. das war es auch im Vergleich zu den einzelverkaufspreisen<br />

am kiosk. aber die abo-preise müssen auch<br />

mit den damaligen einkommen verglichen werden. in einer<br />

Verkäuferschulung für die außendienstmitarbeiter wurde 1951<br />

vorgerechnet, dass ein fleißiger und gut organisierter Vertreter<br />

es durch vermehrte anstrengungen durchaus auf zusätzliche<br />

provisionen von monatlich 57,80 dM bringen konnte. wenn<br />

dieser materielle ansporn allein nicht ausreichte, hielt ein<br />

schulungsplan, der »oberreisenden« anfang 1951 für ihre<br />

außendienstler in die hand gedrückt wurde, aufmunternde<br />

worte bereit: »während den einen vor allem die materiellen<br />

Vorteile reizen, wird der andere den höheren gewinn in der<br />

stärkung s<strong>eines</strong> selbstbewusstseins suchen und finden. er erlebt<br />

dann den prickelnden reiz des sprichwortes: der Mut<br />

kommt vom frühen gelingen!«<br />

auch diejenigen, die ihre Mitarbeiter auf diese art moralisch<br />

aufrüsten sollten, mussten sich anfang der fünfziger<br />

Jahre noch mit – aus heutiger sicht – bescheidenen einkünften<br />

begnügen. einem angestellten im außendienst mit kontroll-<br />

und leitungsfunktion wurde 1952 im anstellungsvertrag ein<br />

Bruttogehalt von 275 dM zugesichert. ein altgedienter Mitarbeiter<br />

wie alfred von wredenhagen, der sich »nach seiner<br />

rückkehr aus der kriegsgefangenschaft 1946 tatkräftig für<br />

132


den wiederaufbau unseres Betriebes … eingesetzt hat«, wie<br />

ihm die geschäftsleitung bescheinigte, verdiente 1953 als leiter<br />

der rechtsabteilung und sonderbeauftragter der geschäftsleitung<br />

1000 dM brutto. die beiden prokuristen, die diesen<br />

Brief unterzeichneten, gustav dietzel und alfred hartz, bezogen<br />

seit 1950 ein grundgehalt von 1200 dM. dazu kam allerdings<br />

eine umsatzbeteiligung von einem halben promille.<br />

der ausbau des Vertriebsnetzes im westen und intensive<br />

kundenwerbung sorgten dafür, dass die folgen des schweren<br />

rückschlags nach der währungsreform und der enteignung<br />

im osten bald überwunden wurden. im westen näherte sich<br />

die Zahl der filialen in großen schritten dem Vorkriegsstand.<br />

1949 kamen mit wuppertal, Braunschweig, dortmund, duisburg,<br />

essen und wiesbaden sechs standorte hinzu. 1950 folgten<br />

filialen in gießen und rendsburg. 1953 fand mit der eröffnung<br />

von drei weiteren Zweigniederlassungen in Bremerhaven,<br />

Bochum und oberhausen der wiederaufbau seinen abschluss.<br />

in den nun wieder 30 filialen belieferten 1700 Mitarbeiter<br />

mehr kunden als jemals zuvor. für 1955 konnte daheim anzeigenkunden<br />

eine notariell beglaubigte statistik vorlegen, wonach<br />

mit 28 825 erstmappen insgesamt <strong>34</strong>4 123 abonnenten<br />

beliefert wurden. in der kleineren Bundesrepublik war die im<br />

letzten friedensjahr im deutschen reich registrierte Zahl von<br />

kunden damit mehr als verdoppelt worden. das entsprach zwar<br />

nur einem Marktanteil von gut 14 prozent. doch da zur gleichen<br />

Zeit rund 800 lesezirkel um die gunst der kunden<br />

kämpften, war daheim ein einsamer riese unter vielen Zwergen.<br />

im durchschnitt bestückten die vom Verband registrierten<br />

Verleiher Mitte der fünfziger Jahre gerade mal 250 erstmappen.<br />

Zugleich wirtschaftete daheim so rentabel wie noch nie.<br />

kurt ganske hatte nach dem krieg die wahlmappen abgeschafft<br />

und lieferte seinen kunden nur noch ein festes sortiment.<br />

das war aus betriebswirtschaftlichen gründen wesent-<br />

133


lich vorteilhafter, da es den einkauf größerer stückzahlen<br />

erlaubte. es war logistisch einfacher, weil dadurch ein ständiges<br />

umsortieren der Mappen entfiel. Bei daheim lagen Mitte<br />

der fünfziger Jahre zehn Zeitschriften in jeder der über 28 000<br />

erstmappen, die pro woche gefertigt wurden. das bedeutete,<br />

dass jede woche in den filialen über eine Viertelmillion hefte<br />

in die damals grau melierten daheim-umschläge gelegt, geheftet,<br />

mit werbeaufklebern versehen und schließlich in die<br />

Mappen gelegt werden mussten. alles in handarbeit.<br />

auch in mancher anderen hinsicht kann man sich heute<br />

nur noch schwer vorstellen, wie der arbeitsalltag Mitte der<br />

fünfziger Jahre aussah. nicht nur, dass ein geschäftsführer<br />

wie gustav dietzel die fingernägel seiner Boten kontrollierte.<br />

er achtete auch sorgfältig darauf, dass mit den arbeitsmitteln<br />

äußerst sparsam umgegangen wurde. »in den filialen gab es<br />

drei stifte zum ausfüllen der karteikarten: schwarz, grün<br />

und rot«, erinnert sich helmut Brümmer, heute leiter des<br />

lkd-Bezirks west in düsseldorf, an erzählungen s<strong>eines</strong> Vorgängers<br />

hans löber. »wenn ersatz bei der Zentrale angefordert<br />

wurde, kam von dort oft die frage: wieso, die können<br />

doch erst zur hälfte abgeschrieben sein?« da bei den abonnenten<br />

grundsätzlich bar kassiert wurde, waren jeden abend<br />

große Mengen an Münzgeld zu sortieren. löber zählte bis zu<br />

seiner pensionierung im Jahr 1979 höchstpersönlich die tageseinnahmen<br />

und drehte dann das kleingeld per hand zu geldrollen.<br />

auf die anschaffung von Zählbrettern wurde aus kostengründen<br />

verzichtet.<br />

etwas seltsam erscheint heute auch die haus- und Büroordnung,<br />

die in den fünfziger Jahren den arbeitstag regelte. er<br />

wurde im wahrsten sinne des wortes eingeläutet – nämlich<br />

durch einen klingelton. damit wurden auch anfang und ende<br />

der pausen sowie der feierabend akustisch angekündigt. wenn<br />

die klingel schrillte, hatte sich jeder Betriebsangehörige bereits<br />

»an seinem arbeitsplatz zu befinden« und durfte »diesen<br />

1<strong>34</strong>


nicht vor dem für ihn gültigen schlusszeichen verlassen«. und<br />

er hatte auch mit dem einräumen seiner stifte oder karteikarten<br />

zu warten, bis es klingelte, denn »die aufräumarbeiten beginnen<br />

erst mit dem schlusszeichen«. auch ein »garderobenwechsel<br />

vor dem schlusszeichen ist nicht statthaft«. ein Blick<br />

auf die eigene uhr reichte nicht, um sich rechtzeitig an seinen<br />

platz zu begeben oder den schreibtisch aufzuräumen. damit<br />

es gar kein Vertun geben konnte, hieß es streng: »Maßgebend<br />

für die Zeitbestimmung ist die Zeitangabe der geschäftsuhr.«<br />

Mit der ausrede, dass die eigene uhr vor- beziehungsweise<br />

nachgegangen oder gar stehengeblieben sei, konnte da keiner<br />

kommen.<br />

um jedes unnötige Verlassen des arbeitsplatzes oder gar<br />

ein schwätzchen auf dem flur von vorneherein zu unterbinden,<br />

wurde verfügt: »Zur geschäftsabwicklung innerhalb des<br />

hauses ist weitestgehend das haustelefon zu benutzen.« da<br />

sich manche geschäfte allerdings beim besten willen nicht am<br />

schreibtisch erledigen ließen, wurde nicht nur angeordnet,<br />

dass die toiletten sauber zu halten seien und keine Zigarettenkippen<br />

oder sonstige gegenstände in irgendwelche Becken geworfen<br />

werden dürften. es wurde auch darauf hingewiesen,<br />

dass lautes reden und türenschlagen sowohl in den geschäftsräumen<br />

als auch in den fluren nicht statthaft sei. dass die Zeit<br />

des management by walking noch nicht angebrochen war, geht<br />

aus § 7 der Büroordnung hervor: »Jeder unnötige aufenthalt<br />

in räumen außerhalb des arbeitsplatzes, das herumstehen<br />

und herumlaufen sowie unterhaltungen haben zu unterbleiben.<br />

auch während der pausen ist der aufenthalt in anderen<br />

räumen unerwünscht.«<br />

die unterbringung der garderobe (Mäntel, hüte, schirme)<br />

in den dafür vorgesehenen räumen und schränken war ebenso<br />

penibel geregelt wie das abstellen von fahrrädern, das in jedem<br />

fall auf eigene gefahr geschah. es blieb auch nicht den<br />

Mitarbeitern überlassen, wo sie handtaschen, taschentücher<br />

135


oder Brillenetuis verstauten: »privatsachen können nur in dem<br />

unteren fach der rechten schreibtischseite verwahrt werden.«<br />

selbst das abstellen von kaffeetassen, der Verbleib von obstresten<br />

und Milchflaschen war exakt vorgeschrieben. da überall<br />

»auf peinliche ordnung« zu achten war, blieb es auch nicht<br />

dem Zufall überlassen, wo die Büroutensilien nach arbeitsschluss<br />

zu verstauen waren: »hefter und ordner sind an die<br />

bestimmten plätze in den registraturschränken zurückzustellen,<br />

schreibzeuge, Briefkörbe usw. in den schreibtischen unterzubringen.«<br />

schreibmaschinen durften auf keinen fall bis<br />

zum nächsten Morgen auf den tischen bleiben. sie waren<br />

ebenso wie die rechenmaschinen »nach Büroschluss in den<br />

stahlschränken aufzubewahren«.<br />

richtig modern mutet dagegen folgende order an: »das<br />

rauchen ist in allen Büroräumen, in denen mehrere personen<br />

arbeiten, sowie in den warteräumen, der garderobe und toilette<br />

im interesse aller angestellten verboten.« es ist übrigens<br />

die einzige Vorschrift, deren strikte einhaltung sich Joachim<br />

herbst, der ein halbes Jahrhundert später die geschäftsführung<br />

übernahm, auch heute noch wünschen würde.<br />

in der Mappe zum erfolg<br />

in den fünfziger Jahren galten derartig strikte regeln als selbstverständlich.<br />

damals wurde von den kunden auch akzeptiert,<br />

dass der lesezirkelbetreiber ihre lektüre bestimmte. das feste<br />

programm gefiel offenbar den lesern, weil die Mappen gut<br />

sortiert waren und jedem in der familie oder in den wartezimmern,<br />

restaurants oder frisierstuben etwas boten. anders als<br />

zu kaisers Zeiten legten inzwischen auch die meisten Verleger<br />

großen wert darauf, dass ihre Blätter von den lesezirkeln geführt<br />

wurden, und waren bereit, sie zu entsprechend günstigen<br />

preisen zur Verfügung zu stellen – vor allem dann, wenn ein<br />

lesezirkel eine so große Verbreitung garantierte wie daheim.<br />

136


das war besonders für neue Zeitschriften und Magazine interessant,<br />

die noch keine stammleser besaßen und sich ihren<br />

platz im Blätterwald erst noch erkämpfen mussten.<br />

deshalb klopfte <strong>eines</strong> tages auch ein junger Mann namens<br />

rudolf augstein bei kurt ganske an. er hatte am 4. Januar<br />

1947 zusammen mit dem photographen roman stempka und<br />

dem kaufmann gerhard r. Barsch als lizenzträger die von<br />

der britischen Militärverwaltung gegründete Zeitschrift Diese<br />

Woche übernommen und in Der Spiegel umbenannt. auflage<br />

15 000 exemplare. die redaktion saß damals ebenso wie die<br />

daheim-Zentrale in hannover. da lag es nahe, beim nachbarn<br />

mal nachzufragen, ob er das freche, junge Magazin nicht in<br />

seine Mappe aufnehmen wolle.<br />

kurt ganske stimmte zu und verhalf so dem noch kleinen<br />

Spiegel mit einem schlag zu einer großen Verbreitung. Zusammen<br />

mit den kleineren lesezirkeln, die nach und nach das<br />

neuartige nachrichtenmagazin ebenfalls in ihr angebot aufnahmen,<br />

kaufte daheim augstein anfänglich den größten teil<br />

seiner auflage ab. 1953 verschwanden 70 prozent der druckauflage<br />

des Spiegel von damals 150 000 exemplaren in Zeitschriftenmappen.<br />

der weitaus größte teil davon wurde den<br />

kunden von daheim ins haus gebracht. dadurch wurde der<br />

Spiegel innerhalb kurzer Zeit einem Millionenheer von lesern<br />

bekannt. das Magazin ging nämlich nicht nur in den familien,<br />

sondern auch bei der öffentlichen auslage in wartezimmern<br />

oder gaststuben durch viele hände. Zwar blätterten auch in<br />

den im einzelverkauf abgesetzten exemplaren 1956 durchschnittlich<br />

mehr als zehn leser. doch jedes heft, das über<br />

lesezirkel verbreitet wurde, nahmen im laufe der Zeit 26 personen<br />

in die hand.<br />

auch andere Zeitschriften verkauften in der ersten hälfte<br />

der fünfziger Jahre einen beträchtlichen teil ihrer druckauflage<br />

an lesezirkel. Beim stern waren es zum Beispiel 23 prozent,<br />

bei der Bunten Illustrierten 55 und bei Funk und Familie sogar<br />

137


75 prozent. und was bei daheim in die Mappe kam, kam auch<br />

unter die leute. obwohl der stern nur ein knappes Viertel seiner<br />

auflage an die lesezirkel lieferte, erreichte er auf diesem<br />

weg fast zwei drittel seiner insgesamt 9,2 Millionen leser –<br />

und kein heft kam je zurück. Von den exemplaren, die die<br />

Verlage an die kioske lieferten, blieb dagegen immer ein beträchtlicher<br />

teil in den regalen liegen und landete schließlich<br />

als remittenden wieder beim absender.<br />

dennoch gab es Zeitschriften, die mit lesezirkeln nichts zu<br />

tun haben wollten. sie fürchteten, dass sie am kiosk umso weniger<br />

verkaufen würden, je mehr sie an die Verleiher lieferten.<br />

<strong>eines</strong> dieser Blätter war der Feuerreiter. als die nach lesestoff<br />

lechzenden lesezirkel 1948 händeringend um Belieferung baten,<br />

wollte der Verlag nicht. später wollten die Verleiher ihn<br />

nicht mehr – und noch etwas später verschwand der kühne reiter<br />

von der Bildfläche. auch einem anderen Magazin, das damals<br />

neben dem stern und der Neuen Revue um die gunst der<br />

illustriertenleser kämpfte, bekam der streit mit den Verleihern<br />

nicht. als man sich nicht über den Bezugspreis für die Quick<br />

einigen konnte, verweigerte der Verlag die weitere Belieferung.<br />

damit verzichtete man zwar auf einen sicheren absatzmarkt,<br />

aber das Management war sicher, dies durch einen steigenden<br />

absatz am kiosk mehr als ausgleichen zu können. doch das<br />

war ein irrtum. die nachfrage am kiosk stieg nicht, sie fiel sogar<br />

kräftig. ein Branchenkenner hat dafür eine einfache erklärung:<br />

die Verbreitung durch lesezirkel erhöht den Bekanntheitsgrad.<br />

aus Zufallslesern im café oder hotel werden<br />

oft stammleser. es gibt aber auch spontankäufe, die durch die<br />

»öffentliche auslage« ausgelöst werden: wer beim friseur einen<br />

Beitrag nicht zu ende lesen kann oder vom arzt aus dem<br />

wartezimmer geholt wird, ehe er ein Magazin ganz durchgeblättert<br />

hat, geht anschließend oft zum kiosk und kauft sich<br />

das Blatt. das alles entfällt, wenn eine Zeitschrift nicht mehr<br />

öffentlich ausliegt.<br />

138


dass die lesemappe von der ganzen familie gelesen wird<br />

und bei der öffentlichen auslage nicht genau kontrolliert werden<br />

kann, wer die Mappe zur hand nimmt, brachte den lesezirkeln<br />

in den fünfziger Jahren allerdings zeitweise gehörigen<br />

Ärger ein. immer mehr Zeitschriften entdeckten, dass sich mit<br />

etwas nackter haut gute geschäfte machen ließen. dabei hatten<br />

sie ihre rechnung allerdings ohne die sittenwächter gemacht,<br />

bei denen die schwelle zwischen leicht bekleideter<br />

schönheit und pornographie schnell überschritten war. Überdies<br />

war bei manchen Zeitgenossen die diskrepanz zwischen<br />

dem, was man heimlich las, und dem, worüber man sich öffentlich<br />

entrüstete, recht groß. die lesezirkel, die für den inhalt<br />

der Zeitschriften gar nicht verantwortlich waren, gerieten<br />

gleich von drei seiten unter Beschuss: kunden beschwerten<br />

sich, weil sie sich in ihrem sittlichen empfinden verletzt fühlten<br />

oder um das wohl ihrer kinder fürchteten; der staat drohte<br />

mit strafrechtlichen konsequenzen; die kirchen und Jugendverbände<br />

riefen zum Boykott von lesezirkeln auf, die schmutz<br />

und schund verbreiteten.<br />

als 1953 gar ein gesetz zur Bekämpfung jugendgefährdender<br />

schriften beschlossen wurde, saßen daheim und die kleineren<br />

lesezirkel erst recht in der patsche. wenn eine Zeitschrift<br />

zu viel Busen zeigte und deshalb indiziert wurde, war das für<br />

die Verlage zu verkraften. Bis die gerichte entschieden hatten,<br />

waren die Blätter längst ausgeliefert und zum größten teil verkauft.<br />

in den Mappen <strong>eines</strong> lesezirkels dagegen kursierte die<br />

Zeitschrift noch wochenlang. der staatsanwalt verlangte von<br />

den Betrieben, dass sie die inkriminierten Magazine aus den<br />

Mappen entfernten oder von den kunden zurückholten. gelegentlich<br />

rückte die polizei an, um die Bestände in den Betrieben<br />

zu beschlagnahmen. Zu den kuriositäten des gesetzes gehörte<br />

nämlich, dass nicht der täter – also in diesem fall der<br />

Verleger – bestraft wurde, sondern der Überbringer der schlimmen<br />

texte oder Bilder. der Verleger musste nur befürchten,<br />

139


dass sein Blatt beschlagnahmt wurde. kittchen drohte ihm<br />

nicht. Vom Verleiher der Zeitschrift dagegen wurde verlangt,<br />

dass er die Blätter erst prüfte, ehe er sie verteilte. das war schon<br />

aus zeitlichen gründen nicht möglich und wäre zudem einer<br />

Vorzensur gleichgekommen. und woher sollten die lesezirkelbetreiber<br />

wissen, woran später staatsanwälte und gerichte<br />

anstoß nehmen würden – oder auch nicht? denn texte und<br />

Bilder wurden von den verschiedenen staatsanwälten und gerichten<br />

höchst unterschiedlich bewertet.<br />

auch mit den kunden hatten es daheim und die anderen in<br />

dieser Zeit nicht immer leicht. typisch der Brief einer abonnentin:<br />

»hiermit bestelle ich die lesemappe zum nächstmöglichen<br />

termin ab … ich bin jeden donnerstag – nach eintreffen<br />

der neuen lesemappe – damit beschäftigt, alle illustrierten,<br />

in denen fast ausschließlich nur mehr von liebe, sex, geburtenregelung<br />

etc. die rede ist, wegzuräumen, damit sie nicht in<br />

die hände meiner enkelkinder kommen. außerdem widern<br />

mich diese artikel derart an, dass ich die lesemappe nicht<br />

mehr in meinem haus sehen will.«<br />

um die sexwelle zu kanalisieren, versuchten es die Verleger<br />

und ihre Vertriebspartner zeitweise mit einer selbstkontrolle.<br />

als Vertreter von daheim saß geschäftsführer erwin schmitz<br />

in dem gremium, das versuchen sollte, den Zeitgeist wieder<br />

einzufangen. doch sie konnten ihn ebenso wenig wieder zurück<br />

in die flasche sperren wie pfarrer stammler, der mit der<br />

von den lesezirkeln unabhängigen nachfolgekommission tapfer<br />

weiter in den kampf gegen »schmutz und schund« zog. Übrigens<br />

ebenso erfolglos.<br />

um es möglichst allen recht zu machen, boten die lesezirkel<br />

deshalb auch Mappen mit »familiengerechten« inhalten an.<br />

sie hatten damit aber herzlich wenig erfolg. denn dieselben<br />

kunden, die sich zuvor bitterlich über sex and crime beschwert<br />

hatten, wollten schon nach kurzer Zeit wieder die Blätter mit<br />

den etwas prickelnderen inhalten. die schriften, die von kirch-<br />

140


licher seite empfohlen wurden, waren ihnen schon bald zu<br />

fade. der damalige Vorsitzende des lesezirkelverbandes, der<br />

mit gutem Beispiel vorangehen wollte, klagte darüber, dass er<br />

von seiner gereinigten erstmappe nach sechs wochen eifrigen<br />

werbens gerade mal zehn stück verkauft hatte. hin und wieder<br />

zog die nachfrage kurzfristig an – zum Beispiel wenn die<br />

Ärztekammer unter dem druck kirchlicher kreise zu einer<br />

aktion »sauberes wartezimmer« aufrief. doch Ärzte oder friseure,<br />

die daraufhin moralisch unbedenkliche Blätter orderten,<br />

reute das meist schon nach zwei bis drei wochen wieder.<br />

sie wollten die nackedeis zurück. für ihre kunden und<br />

patienten. oder für sich.<br />

anfang der siebziger Jahre schlief der kampf gegen schmutz<br />

und schund endgültig ein. die Moralapostel starben aus oder<br />

gaben sich geschlagen.<br />

abschied vom gründer<br />

richard ganske hatte seinen längst vom Junior zum chef avancierten<br />

sohn kurt in den kriegsjahren zwar gelegentlich vertreten,<br />

wenn dieser an der front, in der gefangenschaft oder<br />

während der flucht für seine Mitarbeiter unerreichbar war.<br />

den erneuten wiederaufbau des von ihm gegründeten unternehmens<br />

überließ er aber ganz dem sohn, für den sich bei den<br />

Mitarbeitern immer mehr das kürzel kg einbürgerte. er meldete<br />

sich nur gelegentlich mit rat oder widerspruch zu wort.<br />

er beobachtete von seinem alterssitz in hohenhaus aus, wie<br />

der sohn das immer noch als »lesezirkel daheim richard<br />

ganske« firmierende unternehmen im zweiten anlauf erneut<br />

zum unbestrittenen Branchenprimus machte. er erlebte damit<br />

zugleich den höhepunkt des lesezirkelgeschäfts in deutschland<br />

und das all-time high von daheim: 1700 Beschäftigte in<br />

den 30 westdeutschen filialen belieferten 330 000 abonnenten<br />

mit ausgewählten Zeitschriften. es war ihm aber nicht vergönnt,<br />

141


das 50-jährige Jubiläum s<strong>eines</strong> lebenswerks noch zu erleben.<br />

richard ganske starb am 20. februar 1956 im alter von 80 Jahren<br />

in hohenhaus.<br />

deshalb wurde 1957 zum dritten Mal ein wichtiger Jahrestag<br />

in aller stille begangen. ein Jahr nach dem tod des gründers<br />

schienen trotz aller erfolge laute feiern unangebracht.<br />

»wir wollen davon abstand nehmen, diesen tag durch Veranstaltungen<br />

zu feiern … sondern in stetem andenken an den<br />

verstorbenen gründer den weiteren auf- und ausbau fördern«,<br />

hieß es in einer Mitteilung an alle Mitarbeiter zum 50-jährigen<br />

Jubiläum. eine sonderzuwendung gab es aber auch diesmal<br />

wieder. und eine kleine festschrift erschien ebenfalls.


Viertes kapitel<br />

das goldige Bild<br />

der welt


d en Spiegel legte kurt ganske in seine Mappe. eine andere<br />

Zeitschrift steckte er sich in die tasche. was während des<br />

krieges nicht gelungen war, konnte er kurz danach verwirklichen:<br />

die Übernahme <strong>eines</strong> Zeitschriftenverlags. in hannover<br />

hatten zwei frauen und ein Mann von den britischen Militärbehörden<br />

1947 die lizenz nr. 199 zur gründung des Verlags<br />

»die stimme der frau« erhalten. am 1. Juni 1948 erschien die<br />

erste ausgabe der gleichnamigen Zeitschrift, auf dem titel vor<br />

einer wolke die statue <strong>eines</strong> unbekleideten paares, das gemeinsam<br />

den Blick in die Zukunft richtet. 1,50 dM sollten die<br />

leserinnen für das mit 28 seiten zumindest äußerlich recht<br />

dünne Blättchen zahlen. ob ihnen dessen inhalt gefiel, wissen<br />

wir nicht; sein preis war ihnen jedoch offensichtlich zu hoch.<br />

er musste schon bei der zweiten ausgabe auf eine Mark und<br />

kurze Zeit später auf 80 pfennig gesenkt werden.<br />

das gründer-trio plagten wohl schon bald arge Zweifel, ob<br />

die Zeitschrift noch lange ihre stimme im Blätterwald würde<br />

ertönen lassen können. sie erklärten sich deshalb schon drei<br />

Monate nach dem start bereit, ihre anteile an kurt ganske zu<br />

übertragen.<br />

Besprochen wurde der deal bei einem abendessen, zu dem<br />

kurt ganske und die damalige herausgeberin, die niedersächsische<br />

politikerin theanolte Bähnisch, wohl nicht ganz zufällig<br />

gemeinsam eingeladen worden waren. Vollzogen wurde<br />

der schritt im März 1949. wie bei adoptionen üblich, war<br />

das für die neue tochter mit einer namensänderung und<br />

einem wohnsitzwechsel verbunden. aus dem Verlag »stimme<br />

147


der frau« wurde der Jahreszeiten Verlag. statt hannover lautete<br />

die neue adresse nun hamburg.<br />

auch den Verleger zog es nach hamburg. er folgte der tochter<br />

noch im gleichen Jahr in die hansestadt. »Meinem Vater<br />

war klar, dass hannover nicht die stadt war, wo sich ein großer<br />

Zeitschriftenverlag entwickeln konnte«, weiß thomas ganske<br />

aus späteren gesprächen mit ihm. »es gab damals eigentlich<br />

nur die wahl zwischen hamburg und München, und die nähe<br />

zu hoffmann und campe hat dann für ihn den ausschlag<br />

gegeben.«<br />

die bessere wohnung war es sicher nicht, die ihn an die<br />

elbe lockte. der senat hatte ganske zwar am harvestehuder<br />

weg eine hübsche gründerzeitvilla in traumlage zugewiesen,<br />

und der Blick über die außenalster war damals so schön wie<br />

heute. aber das haus war ende des 19. Jahrhunderts für die<br />

familie <strong>eines</strong> reeders gebaut worden. als kombiniertes wohn-<br />

und Bürogebäude war die Villa nicht gedacht. und als Zentrale<br />

<strong>eines</strong> rasch wachsenden Verlagsunternehmens war sie<br />

viel zu klein. denn nun mussten nicht nur schreibtische für<br />

kurt ganske und seine wichtigsten Mitarbeiter aufgestellt werden.<br />

auch der Jahreszeiten Verlag und hoffmann und campe<br />

einschließlich der redaktion von Merian mussten darin unterkommen.<br />

für die familie blieb da nicht viel platz, wie sich die söhne<br />

erinnern. hinter dem arbeitszimmer des Vaters war ein kleiner<br />

raum, in dem die eltern schliefen. dahinter befand sich<br />

ein noch kleinerer raum, der als küche und Bad zugleich<br />

diente. »ich habe da nachts auf einem Brett geschlafen, das<br />

über die Badewanne gelegt wurde«, berichtet der damals zehnjährige<br />

Michael ganske und hat noch das Bild vor augen, wie<br />

die Mutter im gleichen raum auf einem winzigen herd die<br />

Mahlzeiten für die familie zubereitete.<br />

148


Die Stimme der Frau: Für Sie<br />

der Vater arbeitete unterdessen daran, die Basis für einen vielseitigen<br />

Zeitschriftenverlag zu schaffen. der adoptivtochter<br />

aus hannover war zwar kein langes leben beschieden. knapp<br />

zehn Jahre nachdem sie zum ersten Mal ertönt war, wurde die<br />

Stimme der Frau 1957 mit dem ebenfalls nur mäßig erfolgreichen<br />

Blatt Frau und Heim zusammengelegt und dem doppelblatt bei<br />

dieser gelegenheit gleich noch ein neuer titel verpasst. Für Sie<br />

lautete von nun das angebot an die leserinnen – und die nahmen<br />

es an. deshalb verschwand ein Jahr später Stimme der Frau<br />

auch als untertitel. was zu kaisers Zeiten vielleicht angekommen<br />

wäre, passte nicht mehr zum stil der neuen Zeit. Für Sie<br />

aber blieb und wirbt bis heute erfolgreich um leserinnen.<br />

der traum, eigene Zeitschriften zu produzieren und seine<br />

daheim-Mappen nicht nur mit den produkten fremder Verlage<br />

füllen zu müssen, wäre für kurt ganske allerdings auch<br />

dann in erfüllung gegangen, wenn er die Stimme der Frau nicht<br />

hätte übernehmen können. denn noch ehe er mit den gründern<br />

in hannover handelseinig wurde, waren die Vorbereitungen<br />

für zwei eigene kreationen längst abgeschlossen. Begonnen<br />

hatten die Überlegungen schon während des krieges.<br />

die konzepte wurden in den Jahren danach entwickelt. doch<br />

erst als nach der währungsreform das neue geld da war, kamen<br />

beide Blätter im abstand von nur wenigen Monaten auf<br />

den Markt.<br />

als erste eigene entwicklung erschien Merian. er trug zwar<br />

das erscheinungsdatum 1. Juli 1948. Begonnen wurde mit der<br />

auslieferung aber bereits am tag der währungsumstellung.<br />

schon vier Monate später folgte der zweite streich: im november<br />

1948 lag Film und Frau erstmals am kiosk.<br />

den lizenzantrag für Merian hatten kurt ganske und Martinus<br />

christensen gemeinsam gestellt – und dabei die städte-<br />

und landschaftsbilder als »Buchreihe« deklariert, weil hoff-<br />

149


mann und campe zunächst nur als Buchverlag zugelassen<br />

worden war. Vater der idee war aber allein kg, wie der Verleger<br />

intern und selbst in der familie inzwischen genannt wurde. er<br />

hatte schon lange Zeit vorher seine liebe zu dem Zeichner und<br />

kupferstecher Matthaeus Merian (1593–1650) entdeckt und damit<br />

begonnen, dessen im 17. Jahrhundert geschaffene städteansichten<br />

zu sammeln. seiner frau hatte er es zu verdanken,<br />

dass er die wertvollen, in weißes schweinsleder gebundenen<br />

folianten nach seiner rückkehr aus dem krieg noch vorfand.<br />

denn nachdem die amerikaner, die im Mai 1945 im gutshaus<br />

einquartiert worden waren, bereits ihren hochzeitsfilm zerschnippelt<br />

hatten, weil sie ihn für propagandamaterial hielten,<br />

wollte gerda ganske es nicht riskieren, dass den gis auch die<br />

300 Jahre alten Bücher in die hände fielen. es war nicht auszuschließen,<br />

dass sie die kupferstiche für besonders raffinierte<br />

Machwerke von Joseph goebbels gehalten und kurzerhand verbrannt<br />

hätten. deshalb lud sie die großformatigen werke auf<br />

eine schubkarre und schaffte sie zusammen mit dem sechsjährigen<br />

Michael hinunter ins dorf.<br />

schon während des krieges, als ringsum die städte in trümmer<br />

fielen, hatte kurt ganske harriet wegener anvertraut,<br />

dass er später gern etwas Ähnliches schaffen wolle wie Merian<br />

nach dem dreißigjährigen krieg. er träumte von einer Bestandsaufnahme<br />

dessen, was in deutschland und europa der<br />

orgie der Zerstörungen zum opfer gefallen war und was von<br />

den steinernen Zeugnissen einer jahrtausendealten kultur<br />

noch erhalten geblieben war. »ich möchte es in form einer<br />

Zeitschrift tun. dann könnten über die Bestandsaufnahme<br />

hinaus später auch neue entwicklungen mit einbezogen werden«,<br />

überlegte er.<br />

als endlich die waffen schwiegen, griff er die idee wieder<br />

auf. wegener fand in professor heinrich leippe einen geeigneten<br />

Mann, mit dem die idee umgesetzt werden konnte. sie<br />

arrangierte ein treffen mit kurt ganske. Zu dritt saßen sie in<br />

150


ihrer wohnung dicht um den kleinen kohleofen herum, den<br />

harriet wegener kurz nach kriegsbeginn in weiser Voraussicht<br />

gekauft hatte und der nun dank schwarz beschaffter kohle ein<br />

wenig wärme spendete, und stritten über das konzept. leippe<br />

schwebte eine kulturzeitschrift mit stark literarischem Bezug<br />

vor, da er meinte, dass andernfalls nach der Bestandsaufnahme<br />

bald der stoff für die Zeitschrift ausgehen werde. ganske bemühte<br />

sich, ihm seine idee plausibel zu machen. die gefahr,<br />

dass der redaktion früher oder später die themen ausgehen<br />

könnten, sah er nicht, da die Begleitung der restaurierung, erneuerung<br />

und weiterentwicklung der städte und landschaften<br />

teil s<strong>eines</strong> konzepts war. Bei einem zweiten treffen kam man<br />

sich näher – aber nun war der titel ein problem. »heimat«, der<br />

erste Vorschlag, erschien dem kleinen kreativteam als zu sentimental<br />

und zu eng. als leippe fragte: »warum nicht Merian?«,<br />

zuckte kurt ganske zurück: »diesen namen würde ich so gern<br />

akzeptieren, dass ich mich für befangen erklären muss. darüber<br />

sollen meine Mitarbeiter entscheiden.« sie fanden ihn<br />

offenbar gut.<br />

gut fand heinrich leippe schließlich auch die ideen kurt<br />

ganskes. er konzipierte auf dieser Basis nicht nur die erste<br />

ausgabe von Merian, sondern wurde herausgeber und gestalter<br />

der ersten fünf Jahrgänge, die »für geist und struktur der<br />

hefte wegweisend wurden«, wie anlässlich des 25-jährigen Jubiläums<br />

der Zeitschrift später vermerkt wurde. es waren die<br />

Jahre, in denen sich die Zeitschrift einem eher klassisch-konservativen<br />

kulturbegriff verpflichtet fühlte.<br />

Mit Merian die welt entdecken<br />

die erste ausgabe von Merian war dem fast völlig zerstörten<br />

würzburg gewidmet, zeigte aber auf dem titel, wie glanzvoll<br />

sich die Barockstadt früher einmal dem Betrachter dargeboten<br />

hatte – gesehen mit den augen und gestochen von der<br />

151


hand des Matthaeus Merian. da das heft nicht nur monothematisch<br />

der stadt gewidmet war, sondern auch in würzburg<br />

gedruckt wurde, trug es den Vermerk »unter Verwaltung der<br />

amerikanischen Militärregierung«. für die autoren und redakteure,<br />

die an den druckort reisen mussten, um ihre Manuskripte<br />

abzuliefern, das heft zu gestalten und korrektur zu lesen,<br />

war der ausflug alles andere als eine Vergnügungsreise.<br />

»wir sammelten lebensmittelmarken im Verlag«, berichtete<br />

harriet wegener später, »damit sie sich dort etwas essbares<br />

beschaffen konnten.«<br />

es war nicht das einzige problem, mit dem man sich herumschlagen<br />

musste, ehe die erste ausgabe vorlag. es reichte nicht,<br />

wenn der Verlag den druckereien Manuskripte schickte. wer<br />

etwas drucken lassen wollte, musste auch die dazu erforderliche<br />

Menge an papier »organisieren«. die Besatzungsbehörden<br />

machten genehmigungen für Bücher und Zeitschriften<br />

nicht nur vom geplanten inhalt abhängig, sie verlangten auch,<br />

dass ein ausreichender papiervorrat nachgewiesen wurde. Mit<br />

geld allein war papier jedoch nicht zu beschaffen. Man bekam<br />

es nur, wenn man dem lieferanten außer der fast wertlosen<br />

reichsmark noch etwas anderes anbieten konnte – zum Beispiel<br />

altpapier, pappe oder holz. für zehn raummeter holz<br />

bekam man im september 1948 mit etwas glück und guten Beziehungen<br />

2500 kilo papier. wie schon so oft in den zurückliegenden<br />

Jahren erwies sich der erwerb des rittergutes hohenhaus<br />

auch in dieser situation als glücksgriff. dank der reichen<br />

waldbestände gelang es den einkäufern des Verlags deshalb<br />

immer wieder, papier für Bücher und Zeitschriften zu beschaffen.<br />

dem ging allerdings meist ein zähes gefeilsche um das<br />

austauschverhältnis voraus, und nicht immer bekamen sie am<br />

ende die benötigten Mengen. denn selbst wenn den papierherstellern<br />

das erforderliche holz bis vor das werktor gefahren<br />

wurde, konnten sie oft nicht so viel produzieren, wie die kunden<br />

wünschten. ein großer teil der anlagen war zerstört wor-<br />

152


den und konnte mangels ersatzteilen nur langsam wieder in<br />

Betrieb genommen werden.<br />

selbst wenn das papier endlich bereitstand, hieß das nicht,<br />

dass der drucker zufrieden war und sofort mit der arbeit begann,<br />

wie sich aus einer Mitteilung an den Verlag vom 17. Juni<br />

1947 ersehen lässt. damit der druckauftrag für das zweite<br />

Merian-heft, das der hansestadt lübeck gewidmet war, auch<br />

tatsächlich ausgeführt werde, müsse »außer der papierzuteilung<br />

noch ein Buchgeschenk an den dortigen Betriebsleiter<br />

zusammengestellt werden«, hieß es in dem Brief. der Mann<br />

wusste offenbar ganz genau, was seine kooperation wert war.<br />

der Verlagsmitarbeiter bat daher darum, aus den für solche<br />

Zwecke »blockierten Beständen« zehn titel freizugeben, die<br />

der Betriebsleiter genau benannt hatte.<br />

der absatz der ersten Merian-auflage von 23 000 exemplaren<br />

war dadurch gesichert, dass kurt ganske die hefte in<br />

seine daheim-Mappen legen ließ. darauf war man aber bald<br />

nicht mehr angewiesen. auch andere lesezirkel und die Buchhändler<br />

bestellten die neuartige Zeitschrift, so dass eher die<br />

Zuteilung als der Verkauf das problem war. um den Vorrat etwas<br />

zu strecken, schlug christensen deshalb vor, den daheim-<br />

Mappen nur noch halb-hefte beizulegen. so geschah es auch,<br />

wie einige zweigeteilte hefte beweisen, die im archiv erhalten<br />

geblieben sind. erleichtert wurde diese rationierung dadurch,<br />

dass der Verlag ab Januar 1949 nicht mehr so tun musste, als<br />

handele es sich bei den heften um Bücher. denn von da an erschien<br />

Merian unter der Zeitschriftenlizenz nr. 91 des senats<br />

der freien und hansestadt hamburg. obwohl es sich nun auch<br />

offiziell nicht mehr um ein »Buch« handelte, kam Merian im<br />

Buchhandel gut an und konnte seinen festen platz in den regalen<br />

der sortimenter bis heute behaupten. anders als sonst<br />

bei Zeitschriften üblich, blieben die älteren ausgaben von<br />

Merian von anfang an in den läden, wenn die neue ausgabe<br />

ausgeliefert wurde, weil sie – damit dann doch einem Buch<br />

153


ähnlich – von vielen kunden erst dann gekauft wurden, wenn<br />

sie in die jeweilige stadt oder region reisten.<br />

Besonders erfreulich war, dass sich eine schnell wachsende<br />

Zahl von lesern und sammlern entschloss, Merian zu abonnieren,<br />

damit ihnen keine ausgabe entging. in den fünfziger Jahren<br />

war »virtuelles reisen« für die große Mehrzahl der Bundesbürger<br />

die einzige Möglichkeit, ihr fernweh zu lindern. als<br />

zum ersten Mal 50 000 hefte gedruckt wurden, hielt die redaktion<br />

das für einen grund zu feiern. nicht so kurt ganske.<br />

»nicht auf den lorbeeren ausruhen«, mahnte er. »die auflage<br />

muss auf 75 000 steigen.«<br />

ob er ein freudenfest für angebracht hielt, als die Zahl<br />

der Bezieher im oktober 1956 die hunderttausend erreichte<br />

und später unter der verlegerischen Verantwortung s<strong>eines</strong><br />

sohnes thomas die Zweihunderttausend überschritt, ist nicht<br />

überliefert. einen grund zum feiern gab es aber jedenfalls,<br />

als im august 1981 heft nr. 400 erschien. es war hamburg<br />

gewidmet, dem »heimathafen« des Blattes, das inzwischen in<br />

der ganzen welt zu hause war. Über 64 Millionen exemplare<br />

waren bis zu diesem Zeitpunkt gedruckt und verkauft worden,<br />

so dass theoretisch jeder Bundesbürger <strong>eines</strong> davon besaß.<br />

Über die Bestandsaufnahme und die melancholische erinne-<br />

rung an untergegangene schätze war man zu diesem Zeitpunkt<br />

allerdings schon weit hinaus. Merian, die kulturzeitschrift,<br />

hatte längst den status einer kultzeitschrift, war für<br />

ihre lesergemeinde hausgenosse und reisebegleiter zugleich<br />

geworden.<br />

Vor allem in seiner funktion als reisebegleiter hat Merian<br />

unabhängig von den geschalteten anzeigen für die beschriebenen<br />

städte, regionen und länder auch einen wirtschaftlichen<br />

wert. denn abgesehen davon, dass die leser ihr kulturelles,<br />

wirtschaftliches und politisches wissen über ihr reiseziel<br />

erweitern, geben sie dort auch geld aus. in einer untersuchung<br />

des Baseler prognos-instituts wurde 1979 versucht, diese<br />

154


effekte am Beispiel <strong>eines</strong> finnland-heftes zu bewerten. dabei<br />

ergab sich, dass im Zielland neben dem Verkehrsgewerbe, hotels<br />

und restaurants vor allem besichtigenswerte gebäude (wie<br />

schlösser, kirchen) und Museen von der Berichterstattung<br />

profitierten. aber auch zusätzliche ausflüge in regionen, die<br />

vorher nicht auf dem reiseplan standen, waren die folge der<br />

lektüre. selbst wenn die käufer leser waren, die gar keine<br />

reise planten, waren positive effekte für hersteller von konsum-<br />

und anderen gütern aus finnland festzustellen. entweder<br />

waren deren produkte und dienstleistungen den lesern<br />

durch die Berichterstattung erst bekannt geworden, oder sie<br />

wurden mit neuem interesse betrachtet. sehr deutlich profitierten<br />

aber auch anbieter im inland von der Beschäftigung<br />

der rund 850 000 leser mit land und leuten im hohen norden.<br />

das galt insbesondere für reiseveranstalter, aber auch für<br />

den einzelhandel und für institutionen, die finnland in der<br />

Bundesrepublik repräsentieren.<br />

Viel holz vor der hütte<br />

Martinus christensen nahm an dieser entwicklung nicht mehr<br />

teil. nachdem ihm kurt ganske bereits kurz nach dem krieg<br />

weitere 40 prozent der Verlagsanteile abgekauft hatte, überließ<br />

er dem kompagnon 1950 auch die restlichen 10 prozent und<br />

schied im alter von 66 Jahren aus dem Verlag aus. er besaß<br />

nicht die nerven und die finanziellen Mittel, um bei dem forschen<br />

expansionstempo mitzuhalten. das geld hätte sein partner<br />

vielleicht auch nicht gehabt – aber er hatte etwas in der damaligen<br />

Zeit viel wertvolleres: »nach dem krieg hat herr<br />

ganske mit dem holz aus seinen wäldern den wiederaufbau<br />

der lesezirkelfilialen finanziert. und der lesezirkel hat zunächst<br />

auch den wiederaufbau von hoffmann und campe finanziert«,<br />

erklärte harriet wegener einem gesprächspartner<br />

1978 die hintergründe. anders wäre es kurt ganske auch nicht<br />

155


möglich gewesen, schon am tag der währungsreform den start<br />

einer Zeitschrift wie Merian zu riskieren.<br />

Merian war und blieb immer <strong>eines</strong> seiner lieblingskinder.<br />

»da war er mittendrin, bei der konzeption ebenso wie später<br />

bei der weiterentwicklung. Mein Vater hätte spielend chefredakteur<br />

von Merian sein können«, urteilt Michael ganske auch<br />

noch aus der distanz von Jahrzehnten. doch kg beschränkte<br />

sich darauf, chefredakteure zu ernennen. als sich der germanist<br />

heinrich leippe im april 1953 als Blattmacher verabschiedete,<br />

berief er albrecht Bürkle, der zuvor schon vier Jahren<br />

lang als stellvertreter erfahrung gesammelt hatte, zum leiter<br />

der redaktion. er gehörte neben harriet wegener und alfred<br />

hartz zu den wenigen führungskräften, mit denen kurt ganske<br />

persönlich befreundet war, die er nach hause einlud und von<br />

denen er sich privat einladen ließ.<br />

Bürkle demonstrierte bereits mit dem ersten heft, für das<br />

er verantwortlich zeichnete, wohin er das Blatt führen wollte.<br />

hatte sich Merian bis dahin ausschließlich deutschen städten<br />

und landschaften gewidmet, so öffnete er nun den lesern das<br />

tor zur welt – lange ehe sie es sich selbst leisten konnten, reisen<br />

in die ferne zu unternehmen. das erste internationale<br />

heft war paris gewidmet und glänzte nicht nur mit brillanten<br />

Bildern. es waren auch namhafte autoren, die er für diese ausgabe<br />

gewonnen hatte. einer davon war theodor heuss, Journalist<br />

und honorar-professor für politische wissenschaften,<br />

der drei Monate später zum zweiten Mal zum Bundespräsidenten<br />

gewählt wurde. andere waren schriftsteller wie Jean<br />

cocteau, ernst Jünger oder stefan andres. im inhaltsverzeichnis<br />

standen zudem colette, françoise giroud und henry de<br />

Montherlant. aber auch ohne ins heft zu blicken, war sofort zu<br />

erkennen, dass sich bei Merian etwas verändert hatte: der umschlag<br />

bestand erstmals aus hochglanzkarton, den rücken<br />

zierte ein leinenfälzel – eine kleine aufmerksamkeit für leser,<br />

die sich Merian ins Bücherregal stellten.<br />

156


die 100. Merian-ausgabe, die drei Jahre später im oktober<br />

1956 erschien, war der kunst- und kulturstadt florenz gewidmet<br />

und enthielt ein klares Bekenntnis zur »dokumentation<br />

gesamteuropas«. Bis allerdings auch osteuropa in die gesamtschau<br />

der europäischen kulturlandschaften einbezogen werden<br />

konnte, mussten noch fünf weitere Jahre vergehen. Mit<br />

dem im dezember 1961 erschienenen prag-heft konnte zwar<br />

endlich der eiserne Vorhang überwunden werden, es war aber<br />

auch in anderer sicht ein Zeitdokument. es ging als das »wanzen-heft«<br />

in die Verlagsgeschichte ein – in erinnerung an die<br />

ständigen Beschattungen und abhöraktionen während der<br />

einjährigen recherchen. glücklicherweise waren diese Überwachungsversuche<br />

meist so plump, dass es sich leicht vermeiden<br />

ließ, gesprächspartner durch unbedachte Äußerungen in<br />

schwierigkeiten zu bringen.<br />

premieren hatten auch vorher schon gelegentlich zu kleinen<br />

Überraschungen geführt. als im Juni 1958 zum ersten<br />

Mal keine europäische landschaft und kein historisches Bauwerk<br />

auf dem titelbild zu sehen war, sondern ein hübscher fischerjunge,<br />

wollte die redaktion den lesern damit nur lust<br />

auf das schöne italien und seine freundlichen Menschen machen.<br />

doch dann klärte einer dieser leser die redaktion darüber<br />

auf, wer für das foto Modell gestanden hatte. es war der<br />

bekannteste strichjunge neapels.<br />

Merian eilte seinen lesern bei der eroberung der welt immer<br />

ein wenig voraus. erst in europa, dann in afrika und<br />

nahost. die außereuropäischen streifzüge begannen im september<br />

1963 mit Marokko, 1965 folgte der libanon, ein Jahr<br />

später Äthiopien. danach war bald kein Ziel mehr zu weit: Mit<br />

südafrika, ceylon und Mexiko, tokio und der karibik wurde<br />

Merian in den siebziger Jahren zum globalen reise- und kulturmagazin<br />

und schürte so bei seinen lesern nicht nur durch den<br />

untertitel »die lust am reisen«. als kurt ganske seinem jüngeren<br />

sohn thomas 1974 die verlegerische Verantwortung für<br />

157


Merian anvertraute, war man schon bei den antipoden angelangt.<br />

weiter ging’s nimmer: australien und damit gleich ein<br />

ganzer erdteil war das thema im Mai 1974.<br />

im laufe dieser Jahre wurde es für die redaktion immer<br />

schwieriger und schließlich unmöglich, noch irgendwo vor den<br />

lesern anzukommen. die deutschen waren zum reiseweltmeister<br />

avanciert. aber wer nicht nur reist, um aus dem alltag herauszukommen<br />

und braun zu werden, sondern auch etwas über<br />

land und leute, über kultur und küche erfahren will, nimmt<br />

Merian mit auf die reise – und ist höchst verwundert, wenn er<br />

einmal zu seinem reiseziel kein passendes heft finden kann.<br />

seit erscheinen des ersten würzburg-heftes haben sich nicht<br />

nur die welt und die reisegewohnheiten geändert. auch das<br />

Magazin selbst hat sich gewandelt. das leinenfälzel kam und<br />

ging wieder, ebenso wie die legendären, von künstlerhand gezeichneten<br />

Merian-karten. es kam immer mehr farbe und<br />

glanz ins heft. aus den bescheidenen vier kunstdruckblättern<br />

der frühen Jahre und den holzhaltigen textseiten, der Mischung<br />

aus kunst- und Buchdruck, wurde schließlich ein Magazin,<br />

das durchgängig in farbe auf gestrichenem papier gedruckt<br />

wird. auch layout, Bildgestaltung und typographie<br />

wurden immer wieder den sich wandelnden sehgewohnheiten<br />

angepasst. Merian bot großen fotografen wie Max scheeler,<br />

reinhard wolf oder dennis stock eine Bühne und schaffte es<br />

immer wieder, autoren von weltruf zu gewinnen, die neben<br />

den Bildern für die »grauwerte« sorgten, wie art directoren<br />

die texte gelegentlich respektlos zu bezeichnen pflegen. namen<br />

großer schriftsteller zieren wie ein »who’s who« des internationalen<br />

feuilletons die historischen Merian-ausgaben: thomas<br />

Mann, norman Mailer, siegfried lenz oder henry Miller,<br />

um nur einige zu nennen.<br />

einen großen fang machte Merian mit willy fleckhaus, der<br />

anfang der achtziger Jahre ein modernes, durchgängiges layout<br />

für Merian entwickelte. er gestaltete den schriftzug des<br />

158


titels neu und verschaffte den Bildern mehr raum im heft. er<br />

sorgte dafür, dass Überschriften einheitlich und nicht mehr in<br />

den unterschiedlichsten schriften gesetzt wurden und dass<br />

die Bildzeilen nicht mal über, mal unter, mal neben und<br />

manchmal mitten im Bild standen. gewonnen für diese aufgabe<br />

hatte ihn ferdinand ranft, der designierte chefredakteur.<br />

ein Jahr vor der Verabschiedung des langjährigen, hochverdienten<br />

Blattmachers will keller in den ruhestand hatte<br />

thomas ganske den nachfolger bereits ins haus geholt. keller<br />

hatte die Zeitschrift von 1960 bis 1979 geführt und damit länger<br />

als jeder andere vor oder nach ihm. nun war es aber Zeit<br />

für einen neubeginn – und thomas ganske, damals Verlagsleiter<br />

von hoffmann und campe, gab ranft die erforderliche<br />

Zeit, sich vorzubereiten. »das war wunderbar, denn dadurch<br />

hatte ich die Möglichkeit, in aller ruhe über neue konzepte,<br />

themen und die notwendigen optischen Veränderungen nachzudenken<br />

– eine chance, die man so nur selten bekommt.«<br />

thomas ganske gefiel die neue optik so gut, dass er fleckhaus<br />

beauftragte, für die ganze gruppe eine corporate identity zu<br />

entwickeln, ein einheitliches optisches erscheinungsbild, mit<br />

dem sie sich seither der Öffentlichkeit präsentiert.<br />

inhaltlich setzte ranft ebenfalls neue akzente und sorgte<br />

für mehr nutzwert. denn seit die leser den reportern nicht<br />

mehr nur in gedanken in fremde länder folgten, sondern<br />

selbst dorthin fuhren oder flogen, wollten sie nicht mehr nur<br />

über land und leute, geschichte und kultur informiert werden.<br />

sie wollten auch etwas über die ein- und ausreisebestimmungen<br />

erfahren und wissen, welche kleidung zweckmäßig<br />

und welche einkäufe günstig waren. es interessierte sie, wo<br />

man gut essen und preiswert schlafen konnte. deshalb wurde<br />

auf den hinteren seiten ein informationsteil eingerichtet, der<br />

sie über wetter und optimale reisezeiten, festivals, Messen<br />

oder Volksfeste informierte, ein service, der heute selbstverständlich<br />

ist.<br />

159


das ging allerdings nicht immer ohne heftige auseinandersetzungen<br />

mit einer redaktion, die es bis dahin für unter ihrer<br />

würde gehalten hatte, sich mit so profanen dingen wie schlafen,<br />

essen und trinken zu beschäftigen. auch das neue erscheinungsbild<br />

rief erst einmal Vertreter der gruppe »das<br />

haben wir noch nie so gemacht« auf den plan. die für die herstellung<br />

zuständige kollegin verstieg sich sogar zu der Behauptung,<br />

der Betrieb in würzburg, wo Merian damals immer noch<br />

gesetzt und gedruckt wurde, sei gar nicht in der lage, die Bildunterschriften<br />

so zu setzen, wie fleckhaus das wollte. aus seinen<br />

Jahren bei der Zeit kannte ranft aber noch ein paar altgediente<br />

setzer und erkundigte sich bei ihnen, ob das technisch<br />

tatsächlich nicht möglich sei. als die nur lachten, bot er seiner<br />

herstellerin an, dort mal anzurufen. danach wurde nie mehr<br />

über probleme dieser art diskutiert. »wir haben uns schnell<br />

zusammengerauft, es waren ja alles kluge leute«, resümiert<br />

ranft.<br />

er entdeckte sogar eine region der welt, die bis dahin sowohl<br />

für Merian als auch für seine leser noch terra incognita<br />

war: china. das reich der Mitte hatte sich jahrzehntelang<br />

gegenüber der welt abgeschottet. es war nicht interessiert an<br />

reisenden Journalisten und an touristen, die ihren spuren<br />

folgten. doch als das land sich langsam wieder von den<br />

schreckensjahren der »kulturrevolution« erholte, sah ferdinand<br />

ranft die chance, es mit den augen von Merian neu zu<br />

entdecken. es fügte sich glücklich, dass hildegard hamm-Brücher,<br />

die er seit gemeinsamen Zeiten im sandkasten kannte,<br />

zwischen 1976 und 1982 staatssekretärin im Bonner auswärtigen<br />

amt war. Über sie kam ein kontakt zur chinesischen Botschaft<br />

zustande – und ranft kam erneut ein glücklicher Zufall<br />

zu hilfe. denn als er dem zuständigen attaché erklären wollte,<br />

um welches Blatt es sich handelte, das auf den spuren Marco<br />

polos wandeln und wie einst der venezianische entdecker das<br />

geheimnisvolle land den europäern wieder näherbringen<br />

160


wollte, deutete der nur mit dem daumen hinter sich. im regal<br />

stand eine komplette sammlung von Merian-heften.<br />

es folgte eine lange reise kreuz und quer durch china – natürlich<br />

immer in Begleitung <strong>eines</strong> dolmetschers und mit einem<br />

tross von aufpassern im schlepptau, die zu lasten des redaktionsetats<br />

mitreisen mussten. aber da das damals in china<br />

noch mit einer pauschale von 100 Mark täglich abgegolten werden<br />

konnte, nahm selbst in der stets auf sparsamkeit bedachten<br />

hamburger Zentrale niemand ernsthaft daran anstoß. als das<br />

heft erschien, enthielt es neben reportagen und Bildern, die<br />

das neue china und die reste des alten zeigten, die die kulturrevolution<br />

überdauert hatten, den aufsatz einer chinesischen<br />

autorin. sie schilderte den lesern ebenso anschaulich wie<br />

authentisch das mühselige leben einer chinesischen durchschnittsfamilie.<br />

das war seinerzeit eine kleine sensation.<br />

es gab auch weniger erfreuliche erlebnisse. Zu den dunkelsten<br />

stunden von Merian gehört der gewaltsame tod <strong>eines</strong><br />

redakteurs, der während einer recherchereise opfer <strong>eines</strong><br />

raubmordes wurde. »ein sehr tüchtiger, erfahrener Journalist«,<br />

beschreibt ihn ranft. er sollte ein karibik-heft vorbereiten.<br />

als die redaktion erfuhr, dass dem kollegen in seinem<br />

hotelzimmer die kehle durchgeschnitten worden war, standen<br />

alle so unter schock, dass der chefredakteur sie erst einmal<br />

nach hause schicken musste.<br />

am nächsten tag setzte man sich zusammen, um zu überlegen,<br />

wie das heft noch »aus dem feuer gerissen werden<br />

konnte«. das war nicht einfach, weil das prinzip galt, dass jedes<br />

heft von einem verantwortlichen redakteur betreut wurde,<br />

der in die region reiste, dort nach themen, autoren und fotografen<br />

suchte und die notwendigen Vereinbarungen traf. da<br />

die Vorbereitungen sich meistens über einen Zeitraum von<br />

mehr als einem Jahr hinzogen, war es schwer, ersatz zu finden,<br />

wenn der zuständige kollege plötzlich ausfiel. »die Manuskripte<br />

lagen noch längst nicht alle vor, und wir wussten nicht,<br />

161


welche absprachen er mit autoren und fotografen getroffen<br />

hatte. das ganze know-how war mit einem schlag verloren«,<br />

erinnert sich ranft an diese trüben tage. aber das karibikheft<br />

erschien schließlich doch noch pünktlich.<br />

Merian gehört neben stern und Spiegel zu den wenigen Zeitschriften<br />

aus den gründerjahren der Bundesrepublik, die alle<br />

Veränderungen in der Medienlandschaft überstanden haben.<br />

ein Jahr nach der wiedervereinigung ließen sich 130 000 abonnenten<br />

diese spezielle form der weltanschauung regelmäßig<br />

ins haus bringen, weitere 100 000 kauften Merian im Buchhandel,<br />

ehe sie sich ins auto oder flugzeug setzten. Viele nutzen<br />

die Zeitschrift aber nach wie vor auch für virtuelle reisen, zur<br />

preiswerten und risikofreien Begegnung mit Menschen und<br />

ländern, die sie persönlich nie besuchen können oder wollen.<br />

<strong>eines</strong> der großen ereignisse der deutschen geschichte geriet<br />

zugleich zu einem höhepunkt in der geschichte von Merian.<br />

als nachfolger von ferdinand ranft hatte Verleger thomas<br />

ganske 1998 Manfred Bissinger ins haus geholt, der sich zuvor<br />

in den chefredaktionen von stern, konkret und Natur einen namen<br />

gemacht hatte. nun sollte er Merian erneut grundlegend<br />

renovieren und modernisieren. das war wegen der wachsenden<br />

konkurrenz am Markt der reisezeitschriften dringend<br />

notwendig geworden. Zudem hatte gruner + Jahr das monothematische<br />

prinzip von Merian für die line extension GEO-<br />

Spezial kopiert, eine ableger-reihe seiner sehr erfolgreichen<br />

Magazin-neugründung GEO.<br />

Bericht aus einem unbekannten land<br />

ein erstes kräftemessen ging allerdings klar zugunsten von<br />

Merian aus. als der wind der Veränderung durch den damaligen<br />

ostblock wehte und deutlich wurde, dass auch die ddr<br />

sich perestroika und glasnost nicht verschließen konnte, hatte<br />

Bissinger außerhalb der reihe ein extra-heft zur ddr konzi-<br />

162


piert, das 1990 anlässlich der Maueröffnung »exklusive geschichten<br />

und aufregende Bilder aus einem unbekannten<br />

land« versprach. das heft wurde ein sensationeller erfolg. Mit<br />

über 500 000 verkauften exemplaren hält es bis heute den auflagenrekord.<br />

es hätten sogar noch mehr hefte sein können,<br />

wäre Merian-Extra DDR wegen nachdruckproblemen nicht zwischenzeitlich<br />

vergriffen gewesen.<br />

der erfolg ließ den Verleger und die Merian-redaktion<br />

nicht ruhen. Bissinger und zwei dokumentare konzipierten<br />

über ein langes wochenende in generalstabsarbeit fünf weitere<br />

hefte, die die neuen Bundesländer im osten den deutschen<br />

im westen näherbringen sollten. als autoren gewann er<br />

unter anderen günter grass, erich loest, günter de Bruyn,<br />

wolf Jobst siedler und guntram Vesper. die fünf hefte kamen<br />

gemeinsam auf den Markt, verpackt in einen schuber, der<br />

überdies noch eine große extra-karte der ddr sowie ein register<br />

enthielt. auf insgesamt 750 seiten wurden die länder<br />

Brandenburg, sachsen, sachsen-anhalt, thüringen und Mecklenburg-Vorpommern<br />

in ihrer kulturellen, geschichtlichen,<br />

wirtschaftlichen und touristischen Vielfalt vorgestellt.<br />

die Bestandsaufnahme des deutschen ostens wurde im<br />

Buchhandel zu einem schlager des weihnachtsgeschäftes<br />

1990. schon nach sechs wochen waren 250 000 kassetten verkauft.<br />

große unternehmen wie daimler-Benz oder coca-cola<br />

verschenkten sie als Jahresgabe an ihre kunden. die infolge<br />

der wiedervereinigung stark ausgelasteten druckereien hatten<br />

erneut probleme, rasch für ausreichenden nachschub zu<br />

sorgen. die kassette kam aber nicht nur bei den lesern gut<br />

an, sie fand auch ihren weg ins deutsche historische Museum<br />

und alle großen deutschen Bibliotheken. noch heute wird<br />

sie dort als dokument der Zeitgeschichte nachgefragt, wenn<br />

sich jemand über den Zustand und die Befindlichkeit der<br />

damals neu hinzugekommenen Bundesländer informieren<br />

will.<br />

163


das Merian-Extra DDR und die fünf-länder-kassette wurden<br />

publizistisch wie wirtschaftlich zum größten erfolg der<br />

Merian-geschichte. gekrönt wurde er später noch mit einer<br />

extra-ausgabe zur neuen »hauptstadt Berlin«. Von über hundert<br />

hausfrauen aus dem ruhrgebiet in heimarbeit eingeklebt,<br />

feierte das Berliner schloss erstmals für eine Zeitschrift<br />

zumindest als pop-up eine wiederauferstehung. damit wurde<br />

zugleich der Beginn einer debatte um die neue Mitte Berlins<br />

und einen wiederaufbau des von walter ulbricht gesprengten<br />

stadtschlosses eingeläutet.<br />

das goldene Blatt der stars<br />

am tag, als die d-Mark kam, war auch Merian geboren worden.<br />

als Film und Frau, das zweite eigene kind des Verlags, das licht<br />

der welt erblickte, war die d-Mark erst fünf Monate alt. das<br />

Blatt, das schon vor beinahe sechs Jahrzehnten den pfad betrat,<br />

auf dem heute Gala, Bunte und andere society-postillen<br />

wandeln, lag am 11. november 1948 erstmals zum preis von<br />

60 pfennig am kiosk. das war nur möglich, weil auch in diesem<br />

fall die Vorbereitungen schon lange vorher begonnen hatten.<br />

die beiden hoca-Verleger christensen und ganske hatten<br />

bereits 1946 bei der Militärbehörde um die genehmigung<br />

gebeten, unter dem titel Kassette eine illustrierte Zeitschrift<br />

auf den Markt bringen zu dürfen. doch erst im oktober 1948<br />

kam unter der nr. 36 endlich die ersehnte lizenz. sie ging<br />

auch nicht an hoffmann und campe in hamburg, sondern<br />

nach hannover an der Verlag »stimme der frau«. sie war außerdem<br />

mit der auflage verbunden, dass der erscheinungstermin<br />

nicht vor dem 11. november liegen dürfe. Zumindest daran<br />

hielt man sich. aber als titel wählte man Film und Frau,<br />

und der erscheinungsort wurde zusammen mit dem gesamten<br />

Verlag schon vier Monate später nach hamburg verlegt. Bereits<br />

im ersten Jahr verdreifachte sich die ursprüngliche auflage<br />

164


auf 150 000 exemplare. das war auch deshalb bemerkenswert,<br />

weil sich in der gleichen Zeit die Zahl der Blätter, die um die<br />

gunst der leserinnen buhlten, sprunghaft erhöht hatte. denn<br />

bis ende 1949 vergaben die Militärbehörden 20 lizenzen allein<br />

für frauenzeitschriften.<br />

dass Film und Frau bei diesem wettlauf ganz weit vorn lag,<br />

war vor allem das Verdienst <strong>eines</strong> chefredakteur-paares, wie es<br />

vorher und nachher nie wieder im deutschen Blätterwald gesichtet<br />

wurde. es waren curt und helga waldenburger, die in<br />

der redaktion sowie in filmstudios, Modeateliers und unter<br />

starfotografen schon bald als »thomas« und »puttchen« zum<br />

Begriff wurden. auf das erste titelblatt des glamourblattes<br />

setzten sie greta garbo, die göttliche. fünf Jahre später lächelte<br />

ein in deutschland damals noch weithin unbekanntes<br />

Mädchen die käuferinnen mit unschuldsblick an. es war Brigitte<br />

Bardot, die bald danach auch in deutschland mit ihrem<br />

schmollmund die Männer zum träumen brachte und die<br />

frauen eifersüchtig machte. im allgemeinen zierten jedoch<br />

leinwandgrößen das titelblatt, deren gesichter den leserinnen<br />

sofort etwas sagten, denn für die umschlagseiten des<br />

Blattes gab es ein ganz einfaches rezept: die erste seite zierte<br />

immer eine schöne und dem publikum aus dem kino meist<br />

längst bekannte frau. auf dem rücktitel erfreute ein ebenfalls<br />

gutaussehender Mann das auge der Betrachterinnen. Beide<br />

Bilder waren ebenso wie die fotos im innern der hefte in<br />

sanften chamoisen tönen gehalten.<br />

die beiden schönen auf der Vorder- und rückseite kamen<br />

nicht nur gut bei den käuferinnen an, sie waren auch schön<br />

billig. die filmgesellschaften stellten die fotos ihrer stars für<br />

diesen Zweck gern und kostenlos zur Verfügung. das war bei<br />

einem redaktionsetat, der in den ersten Jahren bei 5000 Mark<br />

je heft lag, höchst willkommen.<br />

nicht gespart wurde allerdings bei der titelgestaltung. der<br />

schriftzug Film und Frau erschien ab 1950 auf goldenem hin-<br />

165


tergrund in einem als wappen gestalteten rahmen. das signet<br />

hätte ebenso gut als etikett auf einer champagnerflasche prangen<br />

können. gold spielte auch im innern der hefte bei der seitengestaltung<br />

eine wichtige rolle. »der golddruck war ebenso<br />

eine idee m<strong>eines</strong> Vaters wie der Braunton für die Bilder«, stellt<br />

Michael ganske die urheberschaft klar. »er hat lange mit richard<br />

gruner, dem drucker, experimentiert, um ein geeignetes<br />

Verfahren zu finden, bei dem sich das gold nicht wieder<br />

vom papier löst.« die Zeitschrift erhielt so ihr unverwechselbares<br />

erscheinungsbild.<br />

für den inhalt waren die waldenburgers zuständig. das<br />

kinderlose ehepaar adoptierte Film und Frau sozusagen und<br />

schenkte dem Blatt von Beginn an seine ganze Zeit und liebe.<br />

das rezept für das erste und lange Zeit einzige glamourblatt<br />

der jungen Bundesrepublik wurde 1948 in einer zweckentfremdeten<br />

küche in der hamburger warburgstraße entwickelt und<br />

von einem anfänglich fünf köpfe zählenden team zu einer<br />

leicht bekömmlichen kost verfeinert. die Zutaten hießen Mode,<br />

kino, kosmetik, lebensstil, dezent gewürzt mit klatsch und<br />

tratsch und ein wenig fernweh. das entsprach dem lebensgefühl<br />

der fünfziger Jahre, als die deutschen nach der orgie des<br />

Völkischen und nationalen und dem totalen krieg langsam<br />

wieder die große weite welt und die süßen seiten des lebens<br />

entdeckten. und ob über wintermode, cocktailkleider, abendgarderobe,<br />

Badeanzüge oder modische kopfbedeckung berichtet<br />

wurde, für Film und Frau waren weibliche wesen in jeder<br />

lebenslage stets damen.<br />

in einer Zeit, in der Millionen Menschen noch immer zwischen<br />

den trümmern hausten, die von den zwölf Jahren naziherrschaft<br />

übriggeblieben waren, bot ihnen Film und Frau bereits<br />

des lebens schöne seiten – zunächst nur auf dem papier.<br />

die umstände, unter denen das glamourblatt konzipiert<br />

und produziert wurde, entsprachen allerdings zunächst in keiner<br />

weise der traumwelt, die Film und Frau ihrer fast aus-<br />

166


schließlich weiblichen leserschaft alle vierzehn tage lieferte.<br />

denn wer die redaktionsräume im hamburger stadtteil rotherbaum<br />

besuchen wollte, um dort texte oder fotos abzuliefern,<br />

musste sich erst einmal im flur an den wartenden patienten<br />

<strong>eines</strong> kassenarztes vorbeidrängen. im ersten stock stand<br />

man dann zunächst vor den räumen <strong>eines</strong> dort residierenden<br />

Jagdverbandes. erst am ende des flurs ließ ein Briefkasten mit<br />

der aufschrift Film und Frau erkennen, dass man es bis an die<br />

schwelle der redaktion geschafft hatte. allerdings konnten<br />

die Zeilen darunter schüchterne abhalten, an die tür zu klopfen<br />

oder sie gar forsch zu öffnen: »sprechzeiten für die redaktion<br />

nur dienstags und freitags von 13 bis 15 uhr.« wer sich davon<br />

nicht abschrecken ließ – und das taten die Journalisten,<br />

fotografen, Models und schauspielerinnen, die Vertreter von<br />

Bildagenturen oder Modehäusern, wäscheherstellern oder parfümfabrikanten<br />

wohl nur selten –, fand hinter der tür den<br />

raum der redaktion: neben einem qualmenden holzofen<br />

und einem stapel Brennholz standen schreibtische und regale.<br />

ein weiterer raum, etwas größer zwar als die redaktionsstube,<br />

aber eigentlich nur ein umfunktioniertes wohn- oder<br />

schlafzimmer, beherbergte das fotoatelier.<br />

doch das störte die prominenten Besucherinnen offenbar<br />

wenig. das galt erst recht nach dem umzug in eine Villa mit<br />

alsterblick am harvestehuder weg. die größeren räume waren<br />

auch dort nicht der redaktion, sondern dem fotostudio<br />

und dem schneideratelier vorbehalten, in dem die kleider genäht<br />

wurden, die die stars im heft vorführten und die jede leserin<br />

mit hilfe der beiliegenden schnittmusterbögen nachschneidern<br />

konnte. Zu denen, die für Modefotos posierten,<br />

gehörten fast alle kinogrößen jener Jahre. es war eine Zeit, in<br />

der das fernsehen noch keine rolle spielte, die deutschen<br />

scharenweise in die lichtspielhäuser pilgerten und filme aus<br />

deutscher produktion kassenschlager waren. es waren publikumslieblinge<br />

wie irene von Meyendorff, henny porten, Bar-<br />

167


ara rüttgers, Marianne koch oder Marion Michael, die als<br />

»liane, das Mädchen aus dem urwald« zu filmruhm kam. Michael<br />

ganske erinnert sich, dass die familie in den fünfziger<br />

Jahren oft in einem hamburger hotel zu abend aß, in dem<br />

viele der damaligen stars gern nächtigten. »wenn mein Vater<br />

dann jemand wie liselotte pulver oder Johanna von koczian<br />

an einem der tische sah, sagte er: geh doch mal rüber und<br />

frag sie, ob sie auf das titelblatt von Film und Frau will. er wollte<br />

sehen, wie sie auf den Vorschlag s<strong>eines</strong> stöpsels reagierten.«<br />

Meistens lächelten die schönen – erst über den forschen knirps<br />

und am nächsten tag am harvestehuder weg in die kamera.<br />

auch die Verhandlungen über das honorar waren in den<br />

fünfziger Jahren kurz und einfach. die damen durften das<br />

kleid, in dem sie posierten und das ihnen von den fleißigen<br />

näherinnen der redaktion auf den leib geschneidert wurde,<br />

mit nach hause nehmen. das galt auch für stars wie ruth<br />

leuwerik oder romy schneider. im gespräch mit emanuel<br />

eckardt, der auf der suche nach Material für seine kurtganske-Biographie<br />

war, fiel franz christian gundlach ein erlebnis<br />

mit fiona campbell ein. als das schottische fotomodell<br />

vor seiner kamera posierte, erzählte campbell beiläufig, dass<br />

sie anschließend noch zu einem empfang eingeladen sei und<br />

noch nicht wisse, wie sie sich passend anziehen solle. sie durfte<br />

sich für den abend ein geeignetes kleid aussuchen und sogar<br />

den traumhaften pelz, in dem sie posiert hatte, mitnehmen –<br />

allerdings nur leihweise, da der kürschner das teure stück lediglich<br />

für die aufnahmen zur Verfügung gestellt hatte. danach<br />

war sie nicht mehr darauf angewiesen, sich ihre garderobe<br />

auszuleihen, denn an jenem abend lernte sie ihren späteren<br />

Mann kennen, hans-heinrich Baron von thyssen-Bornemisza.<br />

»heini« verfügte schließlich über das notwendige kleingeld.<br />

geschichten wie diese erlebte franz christian gundlach<br />

immer wieder. der kriegsheimkehrer war auf der suche nach<br />

einem lebensunterhalt 1947 eher zufällig fotograf geworden.<br />

168


1953 kam der damals 27-Jährige mit den chefredakteuren curt<br />

und helga waldenburger in kontakt. in diesen Jahren entwickelte<br />

gundlach einen ganz eigenen stil der Modefotografie,<br />

der ihn berühmt machte und Film und Frau prägte. eine der<br />

ersten, die er vor die linse bekam, war ruth leuwerik. Mit ihr<br />

arbeitete er drei tage lang – im atelier, im treppenhaus des<br />

redaktionsgebäudes, in einem park an der elbe. dabei entdeckten<br />

der fotograf und sein Modell bald eine gemeinsamkeit:<br />

sie hatten beide nicht die geringste ahnung von Modefotografie.<br />

aber vielleicht entstanden gerade deshalb Bilder,<br />

die den leserinnen ans herz gingen.<br />

es dauerte nicht lange, bis der autodidakt unter dem namen<br />

f. c. gundlach zu einem der prominentesten Modefotografen<br />

der jungen Bundesrepublik wurde. die waldenburgers<br />

boten ihm in ihrem Blatt viel auslauf, wenn er Bilder lieferte,<br />

die er am liebsten außerhalb des studios vor ungewöhnlichen<br />

kulissen aufnahm. er fotografierte seine stars in verschneiten<br />

parks, auf der Berliner avus, dem deck von kreuzfahrtschiffen,<br />

dem dach des Verlagsgebäudes oder vor der imposanten<br />

kulisse von abu simbel. damals gab es den staudamm noch<br />

nicht, und der tempel stand noch da, wo ihn der ägyptische<br />

könig ramses ii. mehr als 3000 Jahre zuvor hatte errichten lassen.<br />

Bei den zweimal jährlich erscheinenden Mode-sonderheften<br />

stellten ihm thomas und puttchen »strecken« von bis zu<br />

vierzig seiten zur Verfügung, wie er sich dankbar erinnert.<br />

angesichts des schöpferischen chaos, in dem puttchen und<br />

thomas ihre Zeitschrift produzierten, blieb es für insider immer<br />

ein rätsel, dass das Blatt trotzdem regelmäßig erschien.<br />

selbst als die redaktion in dem 1956 errichteten Verlagsgebäude<br />

am poßmoorweg endlich über genügend platz verfügte,<br />

behielten sie ihren arbeitsstil bei. »die hatten das schönste<br />

Zimmer, im obersten stock des hochhauses«, erzählt Michael<br />

ganske, der später selbst für einige Zeit chefredakteur von<br />

Film und Frau war. »aber wenn man ihr Zimmer betrat, dann<br />

169


hatte man stets den eindruck <strong>eines</strong> völligen durcheinanders.<br />

das gesamte layout der Zeitschrift war auf dem fußboden ausgebreitet<br />

– und wehe, man rührte daran.« nicht immer kamen<br />

Bilder und texte pünktlich zur setzerei. gelegentlich mussten<br />

lästige, aber unverzichtbare elemente wie das impressum in<br />

letzter Minute »nachgeschoben« werden, weil die beiden sie<br />

schlicht vergessen hatten.<br />

der älteste sohn des Verlegers ist sich sicher, dass das chefredakteurs-duo<br />

nicht nur eine perfekte traumwelt für ihre<br />

leserinnen produzierte. sie lebten nach seiner Beobachtung<br />

selbst in einer solchen traumwelt. »die dachten immer, dass<br />

sie ihr Blatt für die dame von welt machten und dass es überall<br />

in den eleganten salons ausliege«, meint Michael ganske.<br />

»wenn man den waldenburgers gesagt hätte, dass ihr Blatt vor<br />

allem von arbeiterfrauen in der wohnküche gelesen wurde<br />

und dort neben den kartoffelschalen auf dem tisch lag, wären<br />

die aus allen wolken gefallen. sie hätten ihren Job gar nicht<br />

weitermachen können.« da die leseranalysen noch nicht so<br />

ausgefeilt waren wie heute, blieb es ihnen aber erspart, schwarz<br />

auf weiß in der statistik lesen zu müssen, dass die Mehrzahl<br />

ihrer leserinnen von der schönen welt, die sie ihnen vorführten,<br />

nur träumen konnte.<br />

Mitte der fünfziger Jahre glänzte Film und Frau nämlich<br />

nicht nur mit golddruck und hoher auflage, sondern auch mit<br />

einem ganz eigenen schreibstil. Zu einem titelbild, das eine<br />

junge frau mit Blumenhut zeigte, dichtete der chefredakteur:<br />

»solange frauen einen hut wie ein ästhetisches wunderwerk<br />

der phantasie durch den abend tragen – goldschimmernd, seidedurchwirkt,<br />

fließend im umriss und transparent wie duftender<br />

rauch –, so lange brauchen Männer keine angst vor der<br />

gleichberechtigung zu haben. für wen umwölken die schönen<br />

so kostspielig augen und stirn? für wen verbergen sie ihre<br />

tagestüchtigkeit so bereitwillig hinter einer aufmachung, die<br />

zarteste rücksicht, schutz und Bewunderung heischt?«<br />

170


solche Zeitschriften-poesie kam Mitte der fünfziger Jahre<br />

selbst in der wohnküche an, und das galt auch für das Blatt, in<br />

dem diese und ähnliche texte standen. solange kinobesitzer<br />

selbst in dörfern und kleinstädten gut über die runden kamen,<br />

die lichtspielhäuser jeden abend gut besucht waren, die<br />

fernreisen von ein paar wohlhabenden allenfalls bis sizilien<br />

führten, die Berliner Mode den frauen noch völlig ausreichte<br />

und in den wohnzimmern das Mobiliar aus der Vorkriegszeit<br />

noch nicht ersetzt worden war, stiegen Verbreitung und umfang.<br />

Film und Frau ließ in den fünfziger Jahren alle anderen<br />

frauenblätter hinter sich und erreichte schon 1956 eine auflage<br />

von 400 000 exemplaren.<br />

doch dann kam »der schlimmste feind der usa«, wie der<br />

stern damals schrieb, nach deutschland und eroberte auch hier<br />

in windeseile die wohnzimmer. nach einigen kleineren Versuchen<br />

begann in der Bundesrepublik am 25. dezember 1952<br />

die ausstrahlung <strong>eines</strong> täglichen fernsehprogramms. gesendet<br />

wurde aus hamburg. Zu Beginn hätten die sprecher eigentlich<br />

jeden Zuschauer noch einzeln begrüßen können. im<br />

Jahr eins der deutschen tV-geschichte erwarben gerade mal<br />

4000 Bundesbürger ein fernsehgerät. doch knapp zwei Jahre<br />

später, am 1. november 1954, begannen die westdeutschen landesrundfunkanstalten<br />

unter dem dach der ard mit ihrem<br />

gemeinschaftsprogramm. es dauerte danach nicht mehr lange,<br />

bis die Zuschauer nicht mehr nach tausenden, sondern nach<br />

Millionen gezählt wurden. in den sechziger Jahren setzte unter<br />

dem druck des neuen konkurrenten das kinosterben ein. es<br />

beschleunigte sich, nachdem philips und grundig 1971 die ersten<br />

Videokassettenrecorder vorgestellt hatten. die neuartigen<br />

speichermöglichkeiten gaben den Zuschauern die Möglichkeit,<br />

sich durch die aufzeichnung ihrer lieblingssendungen von<br />

den festen Zeitvorgaben der fernsehanstalten unabhängig zu<br />

machen oder bespielte kassetten mit filmen eigener wahl einzulegen.<br />

171


was für den lesezirkel zu einer ernsten Bedrohung geworden<br />

war, ging auch an Film und Frau nicht spurlos vorüber. das<br />

bisherige konzept hatte sich überlebt. seit 1956 stagnierte die<br />

auflage, ab anfang der sechziger Jahre ging sie stetig zurück.<br />

Zudem waren thomas und puttchen ins pensionsalter gekommen.<br />

1963 wurde curt waldenburger nach 15 Jahren als chefredakteur<br />

abgelöst. er kümmerte sich mit seiner frau helga<br />

zwar noch fünf weitere Jahre um die bereits seit 1952 beziehungsweise<br />

1957 erscheinenden sonderhefte Mode und Architektur,<br />

aber ihr angeschlagenes glamourblatt versuchten nun<br />

andere wieder im alten glanz erstrahlen zu lassen.<br />

den nachfolgern gelang es jedoch nicht, die vergoldete<br />

illustrierte dem gesellschaftlichen wandel und der sich rasch<br />

verändernden Medienwelt mit einer ähnlichen sensibilität für<br />

die Zeitströme anzupassen, wie es einst die waldenburgs so<br />

meisterhaft verstanden hatten. Man ließ die bisherigen schwerpunkte<br />

»stars« und »große weite welt« fallen und setzte stattdessen<br />

auf Verbraucherberatung und lebenshilfe. doch es<br />

half nichts. die neuen kapitäne schafften es nicht, das schlingernde<br />

schiff wieder auf erfolgskurs zu bringen. die generation<br />

der Jeansträgerinnen, die sich immer mehr freiheiten<br />

nahm, den Männern durchaus angst vor der gleichberechtigung<br />

einjagen wollte und auch nicht mehr daran dachte, »ihre<br />

tagestüchtigkeit bereitwillig hinter einer aufmachung, die zarteste<br />

rücksicht, schutz und Bewunderung heischt«, zu verbergen,<br />

wusste mit Film und Frau nichts mehr anzufangen.<br />

drei Jahre nach dem abschied von puttchen und thomas<br />

erschien das Blatt im september 1966 zum letzten Mal unter<br />

dem in die Jahre gekommenen titel. damit wurde zugleich ein<br />

stück pressegeschichte beerdigt. doch tote leben länger: Film<br />

und Frau wurde wie keine andere frauenzeitschrift der nachkriegszeit<br />

zum Mythos. das Blatt mit dem goldenen wappen<br />

ist – im gegensatz zu den meisten konkurrenzprodukten und<br />

auch der nachfolgerin – bis heute unvergessen.<br />

172


fortgeführt wurde allerdings ein ableger des Blattes. aus<br />

den sonderheften Architektur wurde Architektur und kultiviertes<br />

Wohnen. das erste heft, das im september 1968 erschien, wurde<br />

noch von den waldenburgers gemacht und hatte den stolzen<br />

umfang von 208 seiten, wovon 61 mit anzeigen belegt waren.<br />

Vom dritten heft an übernahm christa von hantelmann die<br />

leitung und entwickelte die zunächst zweimal im Jahr erscheinende<br />

Zeitschrift ab 1969 zeitgemäß weiter. Mit dem erfolg<br />

stieg auch die Zahl der jährlichen ausgaben, so dass<br />

schließlich ab 1985 alle zwei Monate ein neues heft erscheinen<br />

konnte.<br />

der Versuch, das »Mutterschiff« zu retten und die leserinnen<br />

durch ein neues konzept und die umbenennung in Moderne<br />

Frau davon zu überzeugen, dass man jetzt das richtige angebot<br />

für sie habe, scheiterte dagegen. Michael ganske, der als<br />

Manager der <strong>Verlagsgruppe</strong> und 1967 zeitweise auch als chefredakteur<br />

maßgeblich für die neuorientierung zuständig war,<br />

betrachtet heute die Beerdigung von Film und Frau als einen<br />

großen fehler. es wurden die falschen leute entlassen und<br />

nicht die richtigen leute eingestellt. es gab keinen führenden<br />

kopf mehr, dafür aber viele köpfe, die sich in den sitzungen<br />

gegenseitig die Verantwortung für fehlschläge zuschoben.<br />

»die Veränderungen wurden von der falschen seite angegangen.<br />

statt vom konzept, von den inhalten und von der personellen<br />

Besetzung her schrittweise korrekturen vorzunehmen,<br />

haben wir an den Äußerlichkeiten herumgebastelt. wir haben<br />

das signet geändert und den titel in ein Quadrat gesetzt: das<br />

galt damals als modern. Man glaubte, man könne die leserinnen<br />

durch eine titeländerung manipulieren.« das stellte<br />

sich schnell als irrtum heraus.<br />

173


Missratene tochter aus gutem haus<br />

um zu retten, was noch zu retten war, wurde die Moderne Frau<br />

mit petra fusioniert und nahm nach der hochzeit den doppelnamen<br />

petra moderne Frau an. das bedeutete zunächst allerdings<br />

nur, dass zwei kranke zusammen ins Bett gingen, denn<br />

auch petra war ein sanierungsfall. anders als Film und Frau<br />

hatte sie bis dahin aber noch keine glänzende karriere hinter<br />

sich. sie war vielmehr schon kurz nach der geburt von der<br />

schwindsucht befallen worden.<br />

das Blatt war eine kreation von hans huffsky, dem ersten<br />

chefredakteur der Constanze und späteren redaktionsdirektor<br />

von Brigitte, zwei ebenfalls sehr erfolgreichen frauenzeitschriften<br />

aus hamburg. nachdem er sich 1959 mit seinem Verleger<br />

John Jahr überworfen hatte, entwickelte er in seiner Berliner<br />

wohnung das konzept für eine moderne Zeitschrift, der er<br />

ohne übertriebene Bescheidenheit den titel petra. Die Frauenzeitschrift<br />

ohnegleichen verpasste. ebenso bombastisch wie der<br />

titel war die werbekampagne, die das erscheinen des Monatsmagazins<br />

im september 1964 begleitete. Vorausgegangen war<br />

ihr zudem eine ungewöhnlich aufwendige Marktforschung,<br />

die die Blattmacher in ihrer Überzeugung bestärkt hatte, sie<br />

wüssten nun ganz genau, was frauen wirklich wünschen.<br />

der anfangserfolg schien ihnen recht zu geben. die mit<br />

600 000 exemplaren für damalige Verhältnisse sehr mutige<br />

startauflage war innerhalb weniger tage restlos ausverkauft.<br />

die werbekampagne hatte neugierig gemacht und hohe erwartungen<br />

geweckt. sie wurden jedoch nicht erfüllt. die Marktforscher<br />

waren wohl doch nicht so richtig dahintergekommen,<br />

was frauen eigentlich wollen. der sensationelle anfangserfolg<br />

ließ sich nicht halten. entsprechend zurückhaltend reagierten<br />

die anzeigenkunden. obwohl der Verlag gegenzusteuern versuchte<br />

und mehr Mode und kosmetik ins Blatt packte, fiel die<br />

verkaufte auflage mit jeder neuen ausgabe weiter. gruner+Jahr<br />

174


hatte schon bald keinen spaß mehr an der missratenen tochter<br />

und gab sie im herbst 1969 schließlich zur adoption frei.<br />

es war Michael ganske, der davon hörte und auch davon, dass<br />

gruner+ Jahr an einem druckvertrag mit dem Jahreszeiten<br />

Verlag interessiert sei. Man war sich bald einig. ganske kündigte<br />

den druckvertrag mit Burda. das verärgerte zwar den familienpatriarchen<br />

franz Burda, genannt der senator, und seinen<br />

sohn frieder. aber gruner druckte nicht nur billiger, g + J<br />

überließ dem Jahreszeiten Verlag obendrein auch noch die<br />

petra. »wir haben sie eigentlich umsonst bekommen«, freut sich<br />

Michael ganske noch heute.<br />

Beim Jalag, wie die Zeitschriftengruppe intern genannt<br />

wird, fusionierte man die petra im september 1969 sofort mit<br />

der ebenfalls schwächelnden Modernen Frau – und siehe da:<br />

aus zwei schwindsüchtigen töchtern wurde ein quicklebendiges,<br />

bald wieder an umfang und auflage gewinnendes Blatt.<br />

1977 fand die 424 seiten starke Monatszeitschrift über eine<br />

halbe Million käuferinnen und hatte damit fast wieder den<br />

»sensationserfolg« der ersten petra erreicht. diese auflage ließ<br />

sich angesichts der zunehmenden konkurrenz auf dem Markt<br />

der frauenzeitschriften zwar nicht immer auf dieser höhe halten.<br />

aber mehr als zwei Jahrzehnte nach dem relaunch konnte<br />

der Verlag ende 1991 erneut vermelden: »petra ist in deutschland<br />

Marktführerin im segment der gehobenen frauenzeitschriften.<br />

Mit rund 420 000 verkauften exemplaren pro ausgabe<br />

liegt sie weit vor Cosmopolitan, Elle, Marie-Claire, Vogue und<br />

Harper’s Bazaar.«<br />

gelungen war petra in den zwei Jahrzehnten auch, was ihre<br />

beiden Vorgängerinnen nicht geschafft hatten, nämlich die<br />

annäherung an das, was vor allem junge frauen wollen. »petra<br />

… hat eine deutliche Vorstellung von ihren kernleserinnen:<br />

junge, gebildete und kaufkräftige großstadtfrauen zwischen<br />

20 und 39, wobei der schwerpunkt bei den jüngeren liegt. diese<br />

opinion-leaderin unter den deutschen frauen wird mit<br />

175


großer konsequenz angesprochen – auf jeder seite, mit jedem<br />

text und jedem foto«, versicherte die redaktion.<br />

um nicht wie einst Film und Frau den anschluss an die kerngruppe<br />

zu verlieren, wurde in diesen beiden Jahrzehnten und<br />

auch später das erscheinungsbild und konzept immer wieder<br />

an die sich wandelnden Bedürfnisse und interessen der leserinnen<br />

angepasst. so wurden nach 1970 die emanzipatorischen<br />

themen verstärkt und in den achtziger Jahren das format zweimal<br />

geändert und dabei handlicher gemacht. ende der achtziger<br />

Jahre, als die frauen wieder weiblicher werden wollten,<br />

spiegelte sich das bei petra unter anderem darin, dass eine nonstop-strecke<br />

von mindestens 50 seiten zu den themen Mode<br />

und kosmetik geschaffen wurde. 1995 gab es erneut einen<br />

relaunch und – sehr zum erstaunen und Ärger der konkurrenz<br />

– erstmals eine Mode-Videokassette zum heft. 1996 wurden<br />

wohnthemen und »geschichten über Menschen« verstärkt<br />

ins Blatt genommen. 1997 wurde petra durch den trendigen, in<br />

modischem »denglisch« gehaltenen untertitel Mode, Beauty &<br />

Lifestyle ergänzt, der allerdings später wieder verschwand.<br />

heute ist petra einfach wieder petra. obwohl sie mit 43 Jahren<br />

inzwischen älter ist als die hälfte ihrer leserinnen, hielten<br />

es die verschiedenen chefredakteure immer mit dem Motto:<br />

»Man ist so jung, wie man sich fühlt.« sich selbst beschreibt die<br />

Zeitschrift so: »petra ist schön, denn sie steht für Mode und<br />

trends. im klassischen, großzügigen Zeitschriftenformat entführt<br />

das Magazin seine leserinnen jeden Monat auf eine elegant-hedonistische<br />

entdeckungsreise durch das neueste aus<br />

Mode, Beauty und lifestyle. stars und stil, produkte und premieren<br />

sind das journalistische kernangebot, das smart und<br />

charmant verpackt lust aufs erleben macht.« aber petra ist<br />

auch frech, denn »ihre leserinnen sind kritisch, aber lebensfroh.<br />

die themen daher witzig und provokativ: Mode und<br />

Männer, kunst und konsum werden mit augenzwinkernder<br />

ironie be- und durchleuchtet.« petra sieht sich auch als intelli-<br />

176


gent, denn »ihre leserin ist jung im kopf, urban und trendbewusst,<br />

und entscheidet selbst über kerle, käufe und karriere.<br />

sie will intelligent unterhalten und fundiert informiert werden,<br />

denn sie interessiert sich für die schönen dinge des lebens<br />

und gestaltet lässig emanzipiert ihr leben.«<br />

auf der suche nach dem richtigen styling<br />

ein deutlicher unterschied zum selbstverständnis von Film<br />

und Frau und zugleich ein hinweis auf den wandel in den köpfen<br />

der einstigen und heutigen leserinnen des Blattes – von<br />

dem übrigens 2006 jeden Monat rund 233 000 exemplare verkauft<br />

wurden. insgesamt 1,31 Millionen frauen nehmen jede<br />

ausgabe in die hand – nicht zuletzt deshalb, weil auch die Verbreitung<br />

über den leserkreis daheim für zusätzliche reichweite<br />

sorgt.<br />

der Für Sie, die ende der fünfziger Jahre ebenfalls aus der<br />

fusion zweier nur mäßig erfolgreicher Zeitschriften hervorging,<br />

bekam diese operation sogar noch besser als ihrer jüngeren<br />

schwester petra. das galt auch für eine weitere allianz.<br />

nach der Vereinigung mit der familienzeitschrift Hausschatz –<br />

lies mit, deren altbackener titel das ehrwürdige alter des Blattes<br />

von 83 Jahren ahnen ließ, verdoppelte sich 1959 die auflage<br />

der Für Sie.<br />

einen wesentlichen anteil an der karriere der Zeitschrift<br />

hatte heinz scheibenpflug, im Jahreszeiten Verlag und der<br />

Medienwelt besser bekannt als professor scheibenpflug. der<br />

ehrentitel, der ihm von seinem heimatland Österreich verliehen<br />

worden war, hatte nämlich schon bald den Vornamen verdrängt.<br />

scheibenpflug war von 1961 bis 1970 chefredakteur<br />

der Für Sie und danach noch bis 1988 ihr herausgeber. ebenso<br />

wie es zuvor die waldenburgs bei ihrem star-Magazin getan<br />

hatten, prägte er für viele Jahre das Blatt, das auch in der alpenrepublik<br />

zu einer der meistgelesenen frauenzeitschriften<br />

177


wurde. ab 1971 erschien es daher sogar mit einem eigenen Österreichteil.<br />

unter scheibenpflugs regie überschritt das »flaggschiff«<br />

des Verlags als erste deutsche frauenzeitschrift die auflage<br />

von einer Million – nicht nur gedruckter, sondern<br />

tatsächlich verkaufter exemplare, versteht sich.<br />

Zu diesem erfolg hat auch ein großer unbekannter beigetragen,<br />

ein Mann, der wie kaum ein anderer in der zweiten<br />

hälfte des 20. Jahrhunderts die visuelle kommunikation beeinflusst<br />

hat. sein ruhm durchweht zwar bis heute die fachwelt,<br />

aber in den von seiner hand gestalteten Zeitschriften trat<br />

er als person nie in erscheinung. er mied die Öffentlichkeit<br />

und ist nur auf wenigen fotos und auf keinem film zu sehen.<br />

es war der 1983 verstorbene willy fleckhaus, der auch als der<br />

»teuerste Bleistift deutschlands« bezeichnet wurde und als der<br />

erste deutsche art director gilt. Beruflich war der geniale gestalter<br />

nicht leicht einzuordnen, denn er war nacheinander<br />

und gleichzeitig als Journalist, Buchgestalter, Zeitschriftendesigner<br />

und professor für visuelle kommunikation tätig. fleckhaus<br />

setzte auf große, möglichst doppelseitige, plakative Bilder<br />

und strebte in wort, Bild und typographie nach ordnung und<br />

nachvollziehbaren strukturen. er entwickelte das charakteristische<br />

»Q« der Quick, prägte das lifestyle-Magazin twen und<br />

das wirtschaftsmagazin Capital. er gestaltete das signet der<br />

Bild-aktion »ein herz für kinder« und das Magazin der FAZ.<br />

eine Buchreihe des suhrkamp Verlags erscheint noch heute in<br />

den von ihm konzipierten umschlägen in den farben des regenbogens.<br />

Zu den Zeitschriften, denen er seinen stempel aufdrückte<br />

und für deren erfolg und image er mit verantwortlich<br />

war, gehörten aber auch Für Sie und später Merian. »fleckhaus<br />

und mein Vater trafen sich erstmals in hohenhaus, und die<br />

beiden mochten sich gleich«, beobachtete Michael ganske.<br />

während professor scheibenpflug sich als chefredakteur um<br />

die inhalte kümmerte, sorgte willy fleckhaus dafür, dass sie<br />

bei den leserinnen optisch ankamen. eine verkaufte auflage<br />

178


von 1 120 000 exemplaren war der lohn der gemeinsamen Bemühungen<br />

und zugleich der gipfel der auflagenentwicklung.<br />

in seiner Zeit als herausgeber musste scheibenpflug nämlich<br />

auch erleben, wie schnell ein Blatt auf die schiefe Bahn<br />

geraten kann, wenn es an seiner leserschaft vorbeiproduziert<br />

wird. dabei hätte John Jahrs Constanze ein warnendes Beispiel<br />

sein können. das biedere, aber höchst erfolgreiche hausfrauenblatt<br />

hatte versucht, mit wettbewerbern gleichzuziehen, die<br />

mit geblähten segeln auf der aufklärungswelle schwammen<br />

und den sex-apostel oswalt kolle zu ihren starautoren zählten.<br />

der zum Zweck der Modernisierung aus wien importierte<br />

chefredakteur erwarb sich zwar rasch den titel »titten-struve«.<br />

Mit seinen nackedeis verschreckte er aber die eher sittenstrengen<br />

leserinnen der einst so harmlosen Constanze derart,<br />

dass anzeigen und auflage schon nach kurzer Zeit zum sturzflug<br />

ansetzten. Bei dem Versuch, zu retten, was noch zu retten<br />

war, kam es zu hektischen kurswechseln – mal in richtung<br />

strickmode, mal in richtung softporno. Bei jeder dieser halsen<br />

ging eine größere Zahl von käuferinnen über Bord. einmal<br />

wurden diejenigen enttäuscht, die viel nackte haut erwarteten,<br />

beim nächsten Mal die anderen, die mehr an geeigneter<br />

kleidung zur Bedeckung derselben interessiert waren. wohl<br />

noch nie in der deutschen Verlagsgeschichte ist eine erfolgreiche<br />

Zeitschrift in so kurzer Zeit auf grund gesetzt worden.<br />

etwas Zeitgeist Für Sie<br />

auch die redaktion der Für Sie wollte den Zeitgeist der siebziger<br />

Jahre – oder das, was sie dafür hielt – nicht aus ihren stuben<br />

aussperren. »wir haben alles falsch gemacht, was man nur<br />

falsch machen konnte«, räumte peter gimm, damals stellvertretender<br />

chefredakteur, später freimütig ein. statt aktuelle<br />

Mode zu präsentieren, wurde das heft mit sozialkritischen reportagen<br />

vollgepumpt. statt elegante damen in gepflegter um-<br />

179


gebung zu zeigen, waren fotos mit angeknabberten Brötchen<br />

auf abgegrasten frühstückstischen zu sehen. statt ausführlich<br />

über kosmetik, schlankmacher und italienische schuhmode<br />

zu berichten, kam viel Bewegung ins Blatt: anti-kernkraft-<br />

Bewegung, umweltbewegung, frauenbewegung. den Verleger<br />

und seinen damals für den Zeitschriftenbereich zuständigen<br />

sohn Michael beschäftigte eine weitere Bewegung, nämlich<br />

ein stetiger rückgang der auflage.<br />

fünf chefredakteure innerhalb nur <strong>eines</strong> Jahrzehnts sind<br />

ein deutliches indiz dafür, wie bewegt die siebziger Jahre für<br />

das Blatt auch intern waren. irgendwann besann man sich aber<br />

wieder darauf, dass eine Zeitschrift nicht dazu da ist, jeder politischen<br />

strömung zu folgen, sondern die wünsche der großen<br />

Mehrzahl ihrer käuferinnen zu erfüllen. »nach den kämpferischen<br />

Jahren der emanzipation bekennen sich die frauen<br />

wieder zunehmend zu ihren typisch weiblichen kompetenzen.<br />

genug gekämpft, jetzt leben wir, heißt die devise«, glaubte die<br />

redaktion anfang der neunziger Jahre beobachtet zu haben.<br />

»sie haben heute die wahl zwischen hausfrau und Mutter oder<br />

karriere im Beruf oder beidem zugleich. aus der pflicht ist die<br />

kür geworden. kleider, kinder, küche spielen zwar immer<br />

noch eine zentrale rolle, doch sie haben sich zu terrains der<br />

selbstverwirklichung gewandelt«, beschrieb der Verlag die<br />

welt, in der die 2,32 Millionen leserinnen des Blattes zur Zeit<br />

der deutschen wiedervereinigung lebten. an die stelle der alten<br />

drei k – kinder, küche, kirche – seien die neuen drei f<br />

getreten: familie, freunde, freizeit. »Moderne frauen dienen<br />

nicht mehr, sie gestalten, und dies freiwillig.«<br />

ganz falsch kann diese einschätzung nicht gewesen sein,<br />

denn mit dieser neuen sicht auf die welt der frauen brachte es<br />

das Blatt wieder auf eine verkaufte auflage von rund 810 000<br />

exemplaren und auf den zweiten platz unter den klassischen<br />

frauenzeitschriften im geeinten deutschland. dass Für Sie den<br />

Zeitgeist auch dann spiegelte, wenn sie sich nicht von aktuellen<br />

180


»Bewegungen« mitziehen ließ, sondern sich den schönen seiten<br />

des lebens widmete und an den tatsächlichen Bedürfnissen<br />

ihrer leserinnen orientierte, lässt sich an den angeboten der<br />

redaktion ablesen, die bei ihrem stammpublikum im laufe<br />

der Jahre besonders gut ankamen. das war zum Beispiel der<br />

fall, als 1953 erstmals eine »kochschule« angeboten wurde.<br />

Zu den großen erfolgen rund um küche und kochen gehörte<br />

in den sechziger Jahren das »Für Sie farbkochbuch« zum<br />

herausnehmen und sammeln. es schlug so gut ein, dass in der<br />

Branche von einem »Bombenerfolg« gesprochen wurde und es<br />

zu einem Boom von nachahmerprodukten kam. 1970 wurde<br />

die rezeptsammlung »leibgerichte« zu einem schlager. 1974<br />

versprach man »Backen mit Vergnügen« oder »kochen mit<br />

geist«. 1997 lag die »junge küche« voll im trend. 2005 schließlich<br />

zeigten »die 100 besten rezepte der welt«, dass die globalisierung<br />

selbst vor den kochtöpfen nicht haltmachte. ein eigenes<br />

kochstudio sorgte schon seit vielen Jahren dafür, dass die<br />

rezepte und tipps in der Für Sie zum Backen, kochen oder<br />

grillen immer praxisgerecht und für jede leserin nachvollziehbar<br />

blieben. »Für Sie hat sich auf dem gebiet des kochens<br />

eine kompetenz erworben, die einmalig ist«, zieht hermann<br />

schmidt, seit 2002 für den Vertrieb zuständiger geschäftsführer<br />

des Jahreszeiten Verlags, die Bilanz aus den vielen Jahrzehnten<br />

lebenshilfe am herd. »Viele frauen sind vor allem<br />

deswegen treue abonnentinnen, weil sie die erfahrung gemacht<br />

haben, dass Für Sie-rezepte immer gelingen.« Blamage<br />

ausgeschlossen, wenn man gäste hat.<br />

ein anderes »k-thema«, nämlich kleidung, ist ein ähnlich<br />

guter indikator für den wandel der Bedürfnisse wie das essen.<br />

während die »schneiderschule für sie« den leserinnen 1957<br />

noch tipps für selbstgenähte kleider versprach, schrieb die<br />

redaktion 1966 einen internationalen Modepreis aus. 1969<br />

wurde angesichts des trends zum guten essen »chic für Vollschlanke«<br />

zum thema, und im neuen Jahrtausend ist »young<br />

181


style« angesagt – weil nun alle forever young bleiben wollen und<br />

ihnen dies natürlich auch auf englisch gesagt werden muss.<br />

im großen erfolg der »ideen-Bücher« und der sammelordner<br />

zum thema schlug sich ab 1989 der trend zum singlehaushalt<br />

nieder. immer mehr frauen können oder müssen<br />

sich heute ein leben ohne festen männlichen partner vorstellen.<br />

da bleibt ihnen folglich nichts anderes übrig, als manches<br />

selbst zu erledigen, was früher aufgabe des Mannes im haus<br />

war. das ideen-Buch, das »nützliche heft im heft« mit 24 seiten<br />

zum herausnehmen und sammeln, wurde deshalb für längere<br />

Zeit zum festen Bestandteil des Blattes. neben den traditionellen<br />

tipps für kochen und schönheit, die natürlich nie fehlen<br />

dürfen, geht es dabei um das haus, den urlaub und »gewusst<br />

wie«. 1996 wurde es Zeit für ein »ideenbuch fitness«.<br />

wie sehr sich die einstellung der frauen im laufe der Jahre<br />

gewandelt hat, zeigt sich auch daran, dass in einer frauenzeitschrift<br />

im Jahr 2000 automagazine mit großem erfolg erscheinen<br />

konnten. selbstverständlich tummelt sich Für Sie im neuen<br />

Jahrtausend im internet und bietet dort unter anderem eine<br />

dating-plattform an – getreu ihrem Motto »service und lebensfreude<br />

für die frau von heute«. sehr zeitgeistig auch die<br />

für das neue Jahrtausend definierte strategische linie des<br />

Blattes »simplify your life«. das entspricht dem wunsch der berufstätigen<br />

frauen. gut möglich allerdings, dass die devise<br />

von einigen leserinnen gründlich missverstanden wird – wie<br />

wohl auch so mancher flotte angelsächsische werbespruch im<br />

Blatt, der in den köpfen der angesprochenen oft zu assoziationen<br />

führt, die sich die werbetreibenden eigentlich nicht wünschen<br />

können.<br />

die selbstdarstellung der frauenzeitschrift im internet beschreibt<br />

zugleich das erfolgsrezept des Blattes seit 1947: »Für<br />

Sie geht es wie vielen frauen – irgendwann möchte man das<br />

styling verändern, man möchte frischer und jünger aussehen,<br />

frecher und mutiger werden. die eigene ›typberatung‹ ergab:<br />

182


ein modernes layout, eine lebendige Bildsprache, frische farben<br />

und klare linien, ohne cool zu wirken … gesamteindruck:<br />

lebensfreude, spaß, genuss, Überraschung, neugierde.« das<br />

ergebnis dieser philosophie in Zahlen: nach einer delle in der<br />

auflagenstatistik brachte es Für Sie 2006 wieder mit über 485 000<br />

verkauften exemplaren auf den zweiten platz unter den klassischen<br />

frauenzeitschriften und erreichte damit 2,54 Millionen<br />

leserinnen.<br />

im März 2007 konnte chefredakteurin ute kröger daher<br />

mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fröhlich den<br />

50. geburtstag ihres Blattes feiern – einen Monat vor dem<br />

»Mutterhaus«, das dafür allerdings bereits auf die ersten hundert<br />

Jahre zurückblicken konnte.<br />

ausstieg vor dem einstieg<br />

Mit den nach dem krieg entwickelten oder übernommenen<br />

Zeitschriften hatte kurt ganske trotz mancher rückschläge<br />

ein glückliches händchen. Merian, petra oder Für Sie überstanden<br />

ebenso wie Architektur & Wohnen letztlich alle Veränderungen<br />

in der Medienlandschaft. das ging nicht immer ohne<br />

schwierigkeiten ab, fand oft unter starkem anpassungsdruck<br />

statt, war aber am ende immer erfolgreich. dennoch gingen<br />

für kurt ganske nicht alle unternehmerischen träume, die<br />

er in den fünfziger Jahren hegte, in erfüllung. dazu gehörte<br />

beispielsweise der Versuch, in das boomende geschäft mit Buchgemeinschaften<br />

einzusteigen. ganske beobachtete, welche erfolge<br />

die holtzbrinck-gruppe und vor allem Bertelsmann auf<br />

diesem gebiet hatten. ihre nach hunderttausenden und schließlich<br />

nach Millionen zählenden Mitglieder bescherten ihnen<br />

rasch steigende umsätze und hohe erträge, die zur finanzierung<br />

des wachstums in anderen sektoren genutzt werden konnten.<br />

der lesezirkel daheim hatte für ganske zwar eine ähnliche<br />

funktion als geldquelle, aus der er viele Jahre lang die<br />

183


Mittel zur finanzierung des unternehmenswachstums schöpfen<br />

konnte. aber er dachte immer wieder darüber nach, ob ihm<br />

nicht auch der einstieg in den lukrativen Markt der Buchclubs<br />

mit seinen garantierten Massenumsätzen gelingen könnte.<br />

Bei der Übernahme des wegweiser Verlags, der aus einem<br />

Buchclub hervorgegangen war, mit dessen hilfe sich schon zu<br />

kaisers Zeiten angehörige des proletariats nach ansicht wohlmeinender<br />

»emporlesen« sollten, hatte er möglicherweise bereits<br />

daran gedacht, daraus wieder einmal eine lesergemeinschaft<br />

zu machen, deren Mitglieder sich verpflichten, jeden<br />

Monat mindestens ein Buch zu sonderkonditionen zu kaufen.<br />

was auch die gründe dafür gewesen sein mögen, geworden ist<br />

daraus jedenfalls nichts. ganz von vorn zu beginnen wäre zwar<br />

möglich gewesen, denn kapital war vorhanden und ein Mann,<br />

der angeblich etwas vom Buchclubgeschäft verstand, war in<br />

hans e. höynck auch schon gefunden worden. angesichts der<br />

starken konkurrenz, die vor allem der 1950 gestartete und<br />

sehr erfolgreiche Bertelsmann-club darstellte, wäre das aber<br />

höchst riskant gewesen. kurt ganske suchte daher nach einem<br />

bereits vorhandenen, tragfähigen sockel – eine idee, die er<br />

nächtelang mit seinem damaligen assistenten werner hess<br />

diskutierte. der hatte dabei vor allem die rolle <strong>eines</strong> Zuhörers,<br />

der seinem chef die Möglichkeit bot, laut über die verschiedenen<br />

wege zu seinem Ziel nachzudenken.<br />

geeignete Übernahmekandidaten waren Mitte der fünfziger<br />

Jahre nicht mehr leicht zu finden. doch dann schien sich<br />

1955 eine chance zu bieten. der Berliner Verleger weiss und<br />

clara ossenbach, die tochter des gründers hans ossenbach,<br />

der den Volksverband 1919 ins leben gerufen hatte, boten<br />

zum kauf an: die namensrechte am »Volksverband der Bücherfreunde«<br />

einschließlich einer Million Mitgliederadressen. hinzu<br />

kamen einige tonnen Bücher, die noch auf lager waren.<br />

die forderung von 30 000 dM für das ganze paket deutete auf<br />

ein schnäppchen hin. es folgten monatelange Verhandlungen,<br />

184


die zum teil auch auf hohenhaus stattfanden. dabei stellte<br />

sich immer deutlicher heraus, dass außer den rechten an dem<br />

etwas antiquierten namen das ganze angebot nicht einmal<br />

den bescheidenen preis wert war. denn die Mitglieder, um deren<br />

adressen es vor allem ging, wohnten zum größten teil in<br />

der ddr. die von den Verhandlungspartnern ins spiel gebrachte<br />

hoffnung auf eine rasche wiedervereinigung erwies<br />

sich schon bald als völlig illusorisch. Mit dem Bücherstapel war<br />

ebenfalls kaum etwas anzufangen. abgesehen von den meist<br />

wenig attraktiven titeln waren die Bücher von miserabler Qualität,<br />

da noch während des krieges auf stark holzhaltigem, inzwischen<br />

bereits vergilbtem papier gedruckt.<br />

nachdem man lange verhandelt hatte, drängten die Berliner<br />

Verleger schließlich auf einen abschluss. kurt ganske erklärte<br />

sich bereit, zu einem letzten gespräch nach Berlin zu<br />

kommen. Zusammen mit seinem assistenten werner hess,<br />

dem wirtschaftsprüfer willy Markert und hans höynck, dem<br />

designierten geschäftsführer des Buchclubs, flog er in die<br />

»frontstadt«. schon das treffen am Vorabend im restaurant<br />

des hotels ist für werner hess unvergesslich geblieben. am<br />

nebentisch saß hans albers. Man kam ins gespräch. »na, du<br />

kleiner dicker, womit verdienst du denn dein geld?«, wollte der<br />

stark geschminkte schauspieler wissen. Markert wies ihn darauf<br />

hin, dass er es mit einem bedeutenden Verleger zu tun<br />

habe. albers: »was verlegst du denn? ich verlege immer nur<br />

meine Brille.« als der Mime erfuhr, dass sein tischnachbar außer<br />

Büchern auch Zeitschriften wie Film und Frau herausbrachte,<br />

erklärte albers: »die hat meine frau abonniert. die<br />

kommt aber immer so unregelmäßig. kannst du das nicht in<br />

ordnung bringen?« es wurde schließlich aber doch noch ein<br />

ganz netter abend.<br />

der folgende Morgen verlief nicht weniger skurril. kurt<br />

ganske nahm in einem konferenzraum des hotels an der<br />

schmalen seite des hufeisenförmigen tisches platz. rechts von<br />

185


ihm saß seine Mannschaft. auf der linken seite ließen sich neben<br />

den beiden Verlegern deren wirtschaftsprüfer und ein<br />

rechtsanwalt nieder. ganske eröffnete die sitzung und erteilte<br />

zunächst willy Markert das wort. danach referierte der wirtschaftsprüfer<br />

der anderen seite über den letzten stand der<br />

dinge. alles sah so aus, als ob nach spätestens einer stunde der<br />

Vertrag unterschrieben werden könnte. hess wusste jedoch,<br />

dass aus dem geschäft k<strong>eines</strong>falls etwas werden konnte. er rätselte<br />

nur, wie kurt ganske es schaffen wollte, nach den monatelangen,<br />

freundschaftlichen gesprächen aus der sache herauszukommen,<br />

ohne seine gesprächspartner vor den kopf zu<br />

stoßen und selbst das gesicht zu wahren. das ging so:<br />

»in der ecke stand ein kellner mit getränken. kg hatte ihn<br />

mehrfach zum nachschenken von rotwein aufgefordert. plötzlich<br />

sank kgs kopf auf den tisch. alle anwesenden taten, als<br />

ob sie nichts bemerkt hätten. der referent sprach weiter, als sei<br />

nichts geschehen. nach einer weile richtete sich kg auf und<br />

befahl: ›ruhe.‹ erneutes sinken des kopfes. einige Minuten<br />

später war ein flehentliches ›lieb sein‹ zu hören. danach herrschte<br />

eine weile schweigen.«<br />

Markert schlug vor, sich zu vertagen. ein neuer gesprächstermin<br />

wurde zunächst nicht vereinbart. die beiden delegationen<br />

verließen den raum. das Buchgemeinschaftsprojekt wurde<br />

erst einmal begraben. es sollte Jahre dauern, bis es in veränderter<br />

form eine wiederauferstehung erlebte.


fünftes kapitel<br />

der feind iM<br />

wohnZiMMer


e s klang wie das berühmte »pfeifen im walde«, mit dem sich<br />

der wandersmann selbst Mut macht. Zur Jahrestagung des<br />

Verbands deutscher lesezirkel 1957 bemühte sich ein Branchenkenner,<br />

den tiefbesorgten teilnehmern trost zu spenden.<br />

die zunehmende Zahl der kündigungen von ehemals treuen<br />

abonnenten, die nun lieber auf den neuen Bildschirm als in<br />

ihre traditionelle Zeitschriftenmappe blickten, versuchte er<br />

mit den folgenden Überlegungen zu relativieren: »es muss berücksichtigt<br />

werden, dass ein teil der abtrünnigen bei entsprechend<br />

geschickt durchgeführter werbung zumindest dann zurückkehrt,<br />

wenn die ratenzahlungen für den fernsehempfänger<br />

abgestottert sind. sicher werden das nicht alle schaffen; aber<br />

die fernsehzuschauer, denen die lieferfirma das gerät aus der<br />

wohnung holt, weil bei nichteinhaltung der raten der eigentumsvorbehalt<br />

wirksam wird, werden umso eher zum lesestoff<br />

zurückkehren«, schrieb er wacker gegen den trend an.<br />

die Zahl derjenigen, die ihre raten nicht zahlen konnten,<br />

war aber geringer als erhofft. angesichts der raschen einkommenssteigerungen<br />

in den fünfziger und sechziger Jahren und<br />

der sinkenden preise für tV-geräte konnten sich immer mehr<br />

familien eine »glotze« leisten. das machte nicht nur vielen der<br />

kleinen lesezirkel das leben schwer und manchen das Überleben<br />

unmöglich, das bekam auch der Branchenführer zu spüren.<br />

hinzu kam, dass es sich eine stetig wachsende Zahl von<br />

Bundesbürgern leisten konnten, erst ein-, später sogar zweimal<br />

im Jahr urlaub zu machen – und diesen nicht mehr nur auf<br />

»Balkonien« zu verbringen, sondern immer weiter in die ferne<br />

191


zu schweifen. sie ließen dann für diese Zeit ihr abonnement<br />

ruhen und wurden in der kartei als »aussetzer« vermerkt. das<br />

hatte es auch früher schon gegeben. doch nun wurden aus aussetzern<br />

immer häufiger abspringer, die sich wegen des zunehmenden<br />

fernsehkonsums kaum noch Zeit zum lesen nahmen.<br />

nachdem der fernseher abbezahlt war, musste überdies bald<br />

danach schon das nächste wohlstandssymbol finanziert werden,<br />

das eigene auto. das kostete nicht nur geld, das dann für<br />

die Bezahlung des lesezirkel-abos fehlte. die zunehmende<br />

Motorisierung hatte noch eine weitere folge: die Boten blieben<br />

immer häufiger im stau stecken. die tourenplanung und<br />

die pünktliche Zustellung wurden schwieriger.<br />

auch beim lesezirkel daheim stellte man in dieser Zeit von<br />

handkarren und fahrrädern fast vollständig auf kraftfahrzeuge<br />

um. Je nach Bedarf waren es Vw-Busse und käfer, mit<br />

oder ohne anhänger. dabei konnte der lesezirkel auf eine<br />

kleine sparbüchse zurückgreifen. denn ebenso wie viele private<br />

kunden, die jahrelang anzahlungen nach wolfsburg überwiesen<br />

hatten, um einmal einen der vom »führer« versprochenen<br />

Volkswagen zu ergattern, hatte auch kurt ganske vor<br />

und während des krieges fahrzeuge für seine firma bestellt<br />

und bezahlt. doch statt preiswerte autos für das Volk zu produzieren,<br />

liefen in wolfsburg nach dem Motto »alle räder rollen<br />

für den sieg« bald nur noch fahrzeuge für die wehrmacht vom<br />

Band. die meisten privaten auto-sparer sahen ihr geld nie<br />

wieder. kurt ganske war aber nicht bereit, das investierte geld<br />

einfach abzuschreiben. fast 20 Jahre nach kriegsende erklärte<br />

sich Vw 1964 schließlich bereit, daheim bei neukäufen für bis<br />

zu 1000 fahrzeuge jeweils 600 dM anzurechnen.<br />

in dieser Zeit wurde auch ein system boteneigener fahrzeuge<br />

erprobt: das fahrzeug, das die Zusteller den ganzen tag<br />

fuhren, sollte allmählich in ihren Besitz übergehen. die Zahl<br />

der gefahrenen touren und kilometer sowie der besuchten<br />

kunden sollte ihnen auf den späteren kaufpreis angerechnet<br />

192


werden. »das war an sich eine geniale idee m<strong>eines</strong> alten<br />

herrn«, meint Michael ganske. »er war der ansicht, dass sie<br />

die autos viel sorgsamer behandeln und pflegen würden, wenn<br />

sie im laufe der Zeit zu günstigen Bedingungen in ihr eigentum<br />

übergingen.« doch nur wenige Boten waren an dem geschäft<br />

interessiert. kurt ganske hatte nämlich eine kleinigkeit<br />

übersehen: »Beim autokauf reden die frauen immer ein gewichtiges<br />

wort mit, und die hatten keine lust, am wochenende<br />

mit dem Boten-käfer herumzufahren, während die nachbarin<br />

im neuen opel saß.« es war die Zeit des wirtschaftswunders,<br />

und das eigene auto wurde zum statussymbol.<br />

ein spiegel der wohlstandsentwicklung waren auch die preise,<br />

die für Boten ausgelobt wurden, die bei der werbung neuer<br />

kunden besonders erfolgreich waren. 1976 wurden Zusteller,<br />

die 30 neue abonnenten im Jahr warben, mit einem Mofa (wert<br />

900 dM) belohnt. Zwei Jahre später winkten als preise unter<br />

anderem ein tragbarer schwarzweißfernseher oder 40 Quadratmeter<br />

teppichboden. Mitte der achtziger Jahre musste mit hochwertigeren<br />

preisen gelockt werden: für 15 aufträge gab es eine<br />

spiegelreflexkamera; für 50 adressen durfte ein farbfernseher<br />

oder ein heim-computer mit nach hause genommen werden;<br />

wer 60 neue abonnenten überzeugt hatte, durfte zwischen einem<br />

Videorecorder, einer strickmaschine, einer Videokamera<br />

oder einer reise für zwei personen in die sonne wählen.<br />

der wachsende wohlstand veränderte die lebens- und konsumgewohnheiten.<br />

das wirtschaftswunder hatte deshalb für<br />

manches unternehmen seine schattenseiten. das spürten<br />

nicht nur fahrradproduzenten oder kohlenhändler. auch für<br />

die Zeitschriftenverleiher brachen schwere Zeiten an. die Zahl<br />

der lesezirkel, die bis Mitte der fünfziger Jahre auf über 800<br />

gestiegen war, ging schon gegen ende des Jahrzehnts wieder<br />

rapide zurück. »ein lesezirkel nach dem anderen gab auf oder<br />

wurde verkauft«, beschrieb der Verband 1983 diese Zeit in<br />

einem rückblick.<br />

193


wieder ein neuanfang<br />

der strukturwandel ging auch am lesezirkel daheim nicht<br />

spurlos vorüber. in einer selbstdarstellung anlässlich des 75-jährigen<br />

Betriebsjubiläums wurde neben der aufzählung der großen<br />

erfolge auch nicht verschwiegen, wie es nach dem spitzenjahr<br />

1957 in den folgenden zehn Jahren weiterging: »es gibt<br />

immer mehr Zeitungen und Zeitschriften, kino und fernsehen<br />

sind auf dem Vormarsch, das auto wird zum lieblingskind<br />

der Bundesbürger. durch diese konkurrenz und die anderweitig<br />

ausgefüllte freizeit verliert daheim viele kunden.<br />

der anteil der öffentlich ausgelegten lesemappen bei Ärzten,<br />

friseuren usw. erhöht sich allerdings beträchtlich. so kommt<br />

es, dass die firma anfang der sechziger Jahre wieder einmal<br />

vor einem neuanfang steht.«<br />

wie stark die fluktuation unter den kunden war, zeigt eine<br />

analyse aus dem Jahr 1966. Von den rund 140 000 abonnenten<br />

kündigten im laufe des Jahres etwas mehr als 54 000. das konnte<br />

zwar durch intensive werbung fast ausgeglichen werden,<br />

denn den fleißigen außendienstlern gelang es, beinahe die<br />

gleiche Zahl von neukunden von den Vorteilen des gemeinschaftslesens<br />

zu überzeugen. unter dem strich waren es daher<br />

schließlich nur 225 kunden weniger. aber diese stabilisierung<br />

der gesamtzahl musste mit einem erheblichen aufwand für<br />

werbung und provisionen erkauft werden. Besonders schmerzlich<br />

war, dass ein drittel der »abtrünnigen« zu den stammkunden<br />

zählte, die schon zwei oder gar fünf Jahre und länger beliefert<br />

wurden und daher besonders rentabel waren. denn die<br />

kosten, die mit der gewinnung neuer abonnenten verbunden<br />

sind, waren bei ihnen längst wieder eingespielt worden.<br />

da alle lesezirkel unter der wachsenden Zahl von abbestellungen<br />

litten, wurde versucht, durch umfragen die wichtigsten<br />

gründe für das kundenverhalten zu ermitteln. das ergebnis<br />

war eindeutig: fast 31 prozent der aussteiger nannten im Jahr<br />

194


1967 an erster stelle das fernsehen. rund 25 prozent gaben<br />

schlicht Zeitmangel als grund dafür an, dass sie weniger lasen.<br />

immerhin 20 prozent nahmen anstoß an der sexwelle – die zu<br />

diesem Zeitpunkt allerdings schon seit mehr als zehn Jahren<br />

die gemüter in der einen oder anderen form erregte. urlaubsreisen<br />

als grund für eine abbestellung spielten dagegen mit<br />

12 prozent in der zweiten hälfte der sechziger Jahre noch eine<br />

vergleichsweise geringe rolle und lagen noch hinter so zwingenden<br />

gründen wie alter und tod, die bei über 16 prozent<br />

als anlass der kündigungen ermittelt wurden.<br />

der Verlust von kunden zog oft weitere kündigungen nach<br />

sich. denn wenn in einem gebiet eine größere Zahl von haushalten<br />

nicht mehr beliefert wurde, an anderer stelle aber neue<br />

abnehmer hinzukamen, mussten die touren der Boten neu geplant<br />

werden. das hatte oft zur folge, dass die alten abonnenten<br />

nicht mehr an den gleichen tagen wie bisher oder nicht mehr<br />

von dem seit Jahren vertrauten Zusteller beliefert werden konnten.<br />

das ärgerte manche kunden so sehr, dass sie kündigten.<br />

daheim versuchte, der herausforderung auf drei verschiedenen<br />

wegen zu begegnen:<br />

erstens bemühte man sich, die vielen kündigungen dadurch<br />

zu kompensieren, dass viele Betriebe aus dem großen<br />

kreis der kleineren wettbewerber übernommen wurden. es<br />

waren lesezirkel, denen finanziell der atem ausgegangen war<br />

oder deren inhaber sich aus altersgründen aus dem geschäft<br />

zurückziehen wollten und keinen nachfolger hatten. das geschieht<br />

bis heute, wenn der Betrieb zur struktur von daheim<br />

passt. »das geschäft habe ich jahrzehntelang betrieben«, sagt<br />

albert Buschinski, der viele Jahre lang leiter der revision war.<br />

auch als pensionär kümmert er sich weiterhin um die eingliederung<br />

übernommener lesezirkel, weil geschäftsführer<br />

Joachim herbst seine langjährige erfahrung nutzen möchte.<br />

»wir haben deren kunden aber nie heimlich übernommen«,<br />

stellt Buschinski klar. »der frühere inhaber verabschiedet und<br />

195


edankt sich; wir stellen uns bei ihnen mit unserem leistungsangebot<br />

vor. es gibt daher bei einer Übernahme kaum kündigungen.«<br />

ein geschäft, von dem beide seiten profitieren. für lesezirkelbetreiber,<br />

die aus altersgründen verkaufen, hat der erlös<br />

eine ähnliche funktion wie die auszahlung einer lebensversicherung.<br />

für daheim war die Übernahme kleinerer Betriebe<br />

eine der Möglichkeiten, die kundenzahl nach den einbrüchen<br />

in den sechziger Jahren zu stabilisieren.<br />

die zweite Möglichkeit, dem schrumpfungsprozess zu begegnen,<br />

bestand darin, die innere organisation und die struktur<br />

des unternehmens zu modernisieren und den neuen logistischen<br />

und technischen entwicklungen anzupassen. dazu<br />

wurden 1967 vier niederlassungen gegründet. dorthin wurden<br />

zum einen viele aufgaben der Zentrale in hamburg ausgelagert;<br />

zum anderen nahmen die niederlassungen den filialen<br />

einen großen teil der Verwaltungsarbeiten ab, damit sie sich<br />

auf die Betreuung des abonnentenstamms konzentrieren konnten.<br />

Zu den Versuchen, die organisation und logistik zu modernisieren,<br />

gehörte auch die entwicklung einer fast 300 Meter<br />

langen straße für die automatische Mappenfertigung, die daheim<br />

Mitte 1965 in essen in Betrieb nahm. darauf wurden wöchentlich<br />

6000 komplette Mappen mit mehr als 50 000 heften<br />

gefertigt, knapp ein Viertel des Bedarfs. insgesamt lieferte daheim<br />

im Bundesgebiet zu dieser Zeit 27 000 erstmappen aus.<br />

das war ein novum nicht nur für den eigenen Betrieb, sondern<br />

für die gesamte Branche. entsprechend stolz hieß es in<br />

einem werbetext neben einem Bild der anlage: »dies hier ist<br />

die erste straße, die wir je für die Mappe gebaut haben.«<br />

es war auch die letzte. »das war meine idee«, berichtet Michael<br />

ganske. »dieser umständliche prozess der Zusammenstellung<br />

der Mappen in jeder filiale – erst den umschlag nehmen,<br />

mit den anzeigen bekleben, die Zeitschrift heften, dann in<br />

den karton legen –, das war alles sehr arbeitsaufwendig. die<br />

196


Überlegung war, das zu zentralisieren und maschinell zu fertigen.<br />

aber es hat nie wirklich funktioniert. die Maschinenbauindustrie<br />

hat sich nicht sehr für unsere probleme interessiert.<br />

dazu war das zu erwartende auftragsvolumen zu klein. wir<br />

schraubten eigenhändig an der Maschine herum und versuchten<br />

selbst, die saugköpfe zu justieren. aber unsere fertigungsstraße<br />

war nie perfekt.« sie war und blieb aber nicht der<br />

einzige Versuch, neue Verfahren und ideen zu erproben.<br />

das sollte allerdings möglichst in einem kleinen Betrieb geschehen.<br />

1966 erklärte kurt ganske bei einer Besprechung,<br />

dass es notwendig sei, eine Musterfiliale einzurichten, in »der<br />

alle Überlegungen, Versuche und neue richtlinien zunächst<br />

überprüft und erprobt werden sollten«. erst wenn dort ein positives<br />

ergebnis zu verzeichnen sei, sollten neuerungen auch<br />

in anderen filialen und niederlassungen eingeführt werden.<br />

die dritte front<br />

Zusätzliche angebote für die abonnenten waren – neben der<br />

Übernahme kleinerer lesezirkel und organisatorischen Verbesserungen<br />

– der dritte ansatzpunkt im kampf gegen den<br />

kundenschwund. dadurch sollte die Mitgliedschaft im lesezirkel<br />

daheim attraktiver werden und sich vom angebot der<br />

konkurrenten unterscheiden. der erste Versuch, durch ein erweitertes<br />

angebot die treue der alten abonnenten zu festigen<br />

und neue Bezieher zu gewinnen, wurde bereits 1964 gestartet.<br />

unter der Überschrift »eine neue idee, die kunden besser hält<br />

und gewinnt« wurde den filialleitern und leitenden Mitarbeitern<br />

im außendienst eine Marketing-offensive vorgestellt, mit<br />

deren hilfe sich daheim deutlicher als bisher von der konkurrenz<br />

abheben sollte. dazu wurde ihnen erst einmal vor augen<br />

geführt, worin die schwäche des bisherigen produkts lag. neben<br />

einem Bild, das eine auswahl unterschiedlicher Zeitschriftenmappen<br />

zeigte, wurde das problem angesprochen: »eine<br />

197


davon ist unsere Mappe. sie ist nicht dicker als die anderen. sie<br />

ist nicht aktueller. sie ist nicht billiger. nichts macht sie attraktiver<br />

als all die anderen. warum soll der kunde diese Mappe<br />

abonnieren? warum soll er bei dieser Mappe bleiben? das ist<br />

unser gemeinsames problem. wir haben darüber nachgedacht,<br />

und wir haben einen weg gefunden, der uns neue erfolge sichern<br />

wird.«<br />

in der tat unterschieden sich die Mappen der verschiedenen<br />

lesezirkel damals nur durch die farbe des umschlags<br />

und die (von fast allen anbietern fest vorgegebene) auswahl<br />

der Zeitschriften, die wöchentlich ins haus gebracht wurden.<br />

da die spannweite von Merian über Spiegel und stern bis hin zu<br />

den sogenannten soraya-Blättern reichte, bot die auswahl zwar<br />

jedem etwas, aber einigen auch zu viel. denn manchen war Merian<br />

zu elitär, anderen die Yellow press zu seicht, der Spiegel zu<br />

ätzend und der stern zu sexy.<br />

probleme mit der einheitsmappe, die nach dem krieg die<br />

früher auch mögliche wahlmappe für lange Zeit völlig verdrängt<br />

hatte, gab es gelegentlich auch aus ganz anderen gründen.<br />

so empfahl filialleiter frohns in München 1965 auf<br />

grund »unguter erfahrungen«, bestimmte abonnenten im<br />

Bereich der öffentlichen auslage von der Belieferung mit Film<br />

und Frau auszuschließen. dazu gehörten »insbesondere Bars<br />

und Bierkneipen … außerdem dürfte die auslage auch bei reinen<br />

herren-friseuren fehl am platze sein«. doch diese probleme<br />

bereiteten kurt ganske weniger kopfzerbrechen als die<br />

zunehmenden kundenverluste. ein doppelt unterstrichenes<br />

»nein« ziert daher diesen absatz der aktennotiz.<br />

die herausnahme von Film und Frau aus einem teil der<br />

öffentlichen auslage hätte deren Verbreitung stark eingeschränkt.<br />

Mitte der sechziger Jahre gingen bereits 40 prozent<br />

aller Mietzeitschriften in die öffentliche auslage. die friseure<br />

allein bezogen 13 prozent der Mappen.<br />

198


treue soll belohnt werden<br />

um den exodus der kunden zu stoppen und sich gegenüber<br />

der konkurrenz die notwendigen alleinstellungsmerkmale zu<br />

verschaffen, wurde ab 1964 das leistungsspektrum von daheim<br />

verbreitert. welchem angebot dabei die größte Bedeutung<br />

beigemessen wurde, geht schon daraus hervor, dass dafür<br />

sogar eine umfirmierung vorgenommen wurde. aus dem<br />

»lesezirkel daheim richard ganske« wurde der »leserkreis<br />

daheim Volksverband der Bücherfreunde«. kurt ganske hatte<br />

den firmenmantel des Volksverbandes der Bücherfreunde<br />

(VdB) sechs Jahre nach den zunächst geplatzten Verhandlungen<br />

1961 schließlich doch noch erworben. am vorletzten tag<br />

des Jahres übernahm er alle anteile an der Berliner gmbh. er<br />

war aber nur an deren klassiker-Bibliothek interessiert. den<br />

noch vorhandenen Mitgliederbestand der ehemals größten<br />

Buchgemeinschaft der weimarer republik übergab er zur weiteren<br />

Betreuung an Bertelsmann.<br />

er wollte nämlich mit einem etwas anderen Buchclub versuchen,<br />

doch noch in das geschäft mit einer geschlossenen<br />

abnehmergruppe einzusteigen. dass es ganske etwas anders<br />

machen wollte als die holtzbrincks und vor allem die im clubgeschäft<br />

zu dieser Zeit so überaus erfolgreichen Bertelsmänner,<br />

zeigte sich daran, dass nur daheim-abonnenten berechtigt<br />

waren, Bücher aus dem vorhandenen angebot zu beziehen,<br />

denn »grundlage jeder zusätzlichen leistung ist der Bezug<br />

unserer Mappe«, hieß es in der ankündigung. der Vorteil für<br />

den kunden sollte umso höher sein, je länger er an seinem<br />

abo festhielt. nach 26 wochen braven Zeitschriftenlesens erhielt<br />

er das recht, Bücher des VdB in beliebiger Menge zum<br />

Vorzugspreis zu beziehen – allerdings zunächst nur in der<br />

klasse B. nach einem weiteren halben Jahr rückten treue kunden<br />

in die preisklasse a auf. das bedeutete, dass sie die Bücher<br />

zu einem »nochmals ermäßigten Vorzugspreis« kaufen durf-<br />

199


ten. danach gab es alle sechs Monate eine treue-gutschrift,<br />

die beim Bücherkauf angerechnet wurde. wer zwei Jahre lang<br />

die lesemappe bezogen hatte, durfte sich als treueprämie einen<br />

Band aus der klassiker-Bibliothek auswählen – kostenlos<br />

natürlich.<br />

die zunächst 18 Bücher im angebot waren sehr hochwertig<br />

ausgestattet, nämlich auf dünndruckpapier, mit einem flexiblen<br />

halbledereinband und mit Ballonleinen-Überzug. damit<br />

schmutzfinger der pracht nichts anhaben konnten, war das<br />

Buch zudem noch in einen durchsichtigen Zellophanumschlag<br />

gehüllt. Besondere raffinesse: Bei werken der deutschen literatur<br />

war der lederrücken blau, werke französischer dichter<br />

leuchteten rot aus dem regal, russische dichter kamen dunkelgrün<br />

daher. ebenso edel wie der einband war der inhalt. es<br />

handelte sich ausschließlich um werke der weltliteratur, um<br />

klassiker wie homers »ilias« und die »odyssee«, um dichterfürsten<br />

wie goethe und schiller, cervantes und dickens,<br />

shakespeare und tolstoi. neben Märchen aus »tausendundeiner<br />

nacht« standen bald die »Buddenbrooks« von thomas<br />

Mann und andere edelfedern. denn den 18 einstiegsbänden<br />

folgten in rascher folge weitere werke der weltliteratur.<br />

alles war sehr sorgfältig ausgedacht. nur <strong>eines</strong> hatte man<br />

nicht genügend bedacht – nämlich ob den kunden, von denen<br />

viele bereits meckerten, weil sie eine »hochgestochene« Zeitschrift<br />

wie Merian einmal im Monat in ihrer Mappe fanden,<br />

wirklich sehr viel am verbilligten Bezug der »ilias« oder der<br />

gesammelten werke von shakespeare gelegen war. schließlich<br />

waren die hungerjahre, in denen gegessen wurde, was auf den<br />

tisch kam, und in denen alles gelesen wurde, was in der Mappe<br />

lag, schon lange vorbei.<br />

um ihr kundenbindungsprogramm attraktiv zu machen,<br />

hatte die geschäftsführung von daheim sich aber noch mehr<br />

einfallen lassen. um den eigenen Mappen-kunden »entscheidend<br />

mehr« anzubieten als die konkurrenz, hatte man eine<br />

200


Vorkriegsidee wieder zum leben erweckt: den Verkauf von Versicherungsdienstleistungen.<br />

doch diesmal ging es zunächst<br />

nicht um lebensversicherungen und andere dutzendware, wie<br />

sie auch jeder Versicherungsvertreter routinemäßig anbietet.<br />

es war eine »urlaubs-unfall-Versicherung für aussetzerzeiten«.<br />

filialleiter und Boten wussten natürlich sofort, was dieses<br />

wortungetüm zu bedeuten hatte. außenstehenden musste man<br />

es nicht erklären, weil das strategiepapier damals natürlich<br />

streng vertraulich war. doch heute kann es verraten werden:<br />

aussetzer waren alle, die dem Boten mitteilten, dass er in den<br />

nächsten wochen nicht zu kommen brauche, da sie entweder<br />

kein geld hätten, weil sie die raten für das neue fernsehgerät<br />

abstottern müssten, oder weil sie einfach keine Zeit zum lesen<br />

fanden. der häufigste grund dafür wiederum war eine urlaubsreise.<br />

solange die »aussetzer« danach wieder brav zum leserkreis<br />

zurückkamen, war das nicht weiter tragisch. doch in den<br />

sechziger Jahren wurde es immer schwerer, sie nach den ferien<br />

wieder einzufangen. die leser mutierten zu schaulustigen.<br />

dagegen hoffte die geschäftsleitung nun ein patentrezept<br />

gefunden zu haben. sie versprach den erfolgsverwöhnten filialleitern,<br />

die das veränderte Verhalten der kunden sehr nervös<br />

gemacht hatte: »so bleiben ihnen auch aussetzer treu. ihr kunde<br />

kann sich, zum Beispiel für seinen urlaub, über den leserkreis<br />

daheim zu einem ungewöhnlichen tarif versichern. eine<br />

so günstige Versicherung kann ihm niemand anders bieten!<br />

die prämie deckt sich mit seinen üblichen lesegebühren.«<br />

das war nun wirklich eine pfiffige idee. denn auch wenn<br />

daran nicht viel zu verdienen war, blieb der kontakt zum kunden<br />

erhalten. der kam auf diese art gar nicht erst aus seinem<br />

üblichen Zahlungsrhythmus heraus – und damit auch nicht<br />

auf die idee, dass er sein geld auch auf andere art ausgeben<br />

könnte.<br />

201


Bücher, platten, spiele<br />

die idee erwies sich aber als allzu pfiffig. denn so einleuchtend<br />

der gedanke war, den »aussetzern« eine reise-kranken-<br />

oder unfallversicherung zu verkaufen, bei den urlaubern verfing<br />

er nicht so recht. dass ihnen in der »schönsten Zeit des<br />

Jahres« etwas unschönes passieren könnte, mochten sie sich<br />

erst gar nicht vorstellen. sie waren eher bereit, eine lebens-<br />

oder eine sterbegeldversicherung abzuschließen. deshalb beschäftigte<br />

sich die Versicherungsabteilung von daheim schließlich<br />

nur noch mit dieser Variante, die schon in den dreißiger<br />

Jahren mit erfolg verkauft worden war. angeboten wurden die<br />

Versicherungen in Zusammenarbeit mit der nürnberger lebensversicherung<br />

und dem württembergischen Versicherungsverein.<br />

»für uns war der einsatz dabei gering«, macht der<br />

heutige Marketingleiter heinz-dieter lechte die dimensionen<br />

klar. »damals war es eine person. heute würde dank pc-unterstützung<br />

eine halbtagskraft die arbeit bewältigen.« Man<br />

kochte auf kleiner flamme und hoffte, einen teil der abonnenten<br />

auf diese art fester an den leserkreis zu binden. das<br />

gelang aber nur in geringem umfang. deshalb wurde die Zusammenarbeit<br />

mit der Versicherung 1981 beendet.<br />

die edlen klassiker-ausgaben, von denen insgesamt 38 Bände<br />

erschienen, entwickelten sich auch nicht gerade zu einem<br />

renner. Bei einem teil der kunden kamen die luxusausgaben<br />

zwar gut an: »wir bekamen damals viele Briefe, in denen sich<br />

die kunden für die wunderschönen Bücher bedankten«, erinnert<br />

sich fred-ruthard stahnke, der sein Berufsleben 1967 in<br />

der Buchversandabteilung begann. insgesamt war die Bilanz<br />

aber ernüchternd. »eine analyse des absatzergebnisses der<br />

klassiker im lk daheim zeigt, dass auch künftig mit überwältigenden<br />

resultaten nicht gerechnet werden kann. im Vordergrund<br />

steht die kundenerhaltung; der Buchverkauf kann<br />

sicher im laufe der Zeit gesteigert werden, bleibt aber ein an-<br />

202


genehmes nebenresultat«, musste schon im Januar 1965 bei<br />

einer Bestandsaufnahme festgehalten werden.<br />

»die leute bekamen alle halbe Jahre eine treue-gutschrift<br />

von einer Mark, die sie beim kauf einlösen konnten. das geld<br />

wollten sie nicht verfallen lassen«, berichtet stahnke. das Buchgeschäft<br />

zog immer dann an, wenn im fernsehen ein film wie<br />

»anna karenina« gelaufen war. danach ließ sich tolstois roman<br />

gleich stapelweise verkaufen. das galt auch für andere<br />

Bücher, die man rasch einkaufte, wenn im fernsehen eine Verfilmung<br />

lief. dabei stellte sich bald heraus, dass sich mit unterhaltungsliteratur<br />

bessere geschäfte machen ließen als mit<br />

literaten von weltruf, deren werke oft nur wegen ihres gediegenen<br />

aussehens ins regal gestellt wurden. Bücher von Vicki<br />

Baum und heinz g. konsalik brachten höhere umsätze als<br />

goethe und schiller. ein besonderer renner war »der arzt<br />

von stalingrad«. Mit diesem roman gelang dem »trivialautor«<br />

konsalik der große durchbruch. er erschien bis heute in einer<br />

auflage von mehr als 3,5 Millionen exemplaren und gilt als das<br />

meistgelesene Buch der nachkriegszeit in deutschland. Besonders<br />

seit der Verfilmung mit o. e. hasse 1958 lief auch die sonderausgabe<br />

bei daheim »wie geschmiert«.<br />

erfolg hatte der spezialversand für lkd-abonnenten in<br />

der zweiten hälfte der sechziger Jahre aber nicht nur mit populären<br />

einzelbänden, sondern auch mit Buchpaketen, die mit<br />

drei bis vier populären schmökern gefüllt wurden. sie wurden<br />

zu sonderkonditionen bei Verlagen wie kindler oder heyne<br />

beschafft und konnten dadurch sehr günstig angeboten und<br />

durch die einlösung der treue-gutschriften weiter verbilligt<br />

werden. »fünf- bis sechstausend pakete je aktion gingen da jedes<br />

Mal weg«, erinnert sich stahnke. im rahmen des Versandgeschäfts<br />

für kunden verkaufte daheim zeitweise auch schallplatten<br />

und abspielgeräte. Bei den platten handelte es sich<br />

meist um titel, die besonders von den älteren semestern geschätzt<br />

wurden. neben lauschiger tanzmusik waren es schon<br />

203


etwas reifere künstlerinnen wie Zarah leander und tenöre<br />

wie fritz wunderlich, enrico caruso oder richard tauber, die<br />

bei der älteren generation die erinnerung an schöne stunden<br />

wachriefen.<br />

1967 wollte man ganz genau wissen, wer der kunde, das unbekannte<br />

wesen, eigentlich war und was er über die verschiedenen<br />

angebote dachte. dabei stellte sich heraus, dass es sich<br />

bei 55 prozent um abonnentinnen handelte, dass fast 58 prozent<br />

aller Mappen-Bezieher älter als 50 Jahre alt waren und<br />

ein Viertel sogar um die 70 Jahre zählte. die hälfte verfügte<br />

damals über ein haushalts-nettoeinkommen von höchstens<br />

800 dM. da verwundert es nicht, dass über 13 prozent am Bezug<br />

verbilligter Bücher und schallplatten interessiert waren.<br />

aber 23 prozent der Befragten nannten die Möglichkeit, an<br />

preisrätseln teilzunehmen, bei denen bis zu 50 000 dM zu gewinnen<br />

waren, als ihren größten herzenswunsch.<br />

in den siebziger Jahren ließ das interesse an solchen angeboten<br />

nach. Billige Bücher gab es auch woanders. schallplatten<br />

wurden durch neue speichermedien wie die Musikkassette<br />

und später die cd verdrängt. preisrätsel veranstalteten viele.<br />

Man musste sich wieder etwas neues einfallen lassen, um gegen<br />

die abwanderung von kunden anzukämpfen.<br />

dazu gehörte zum Beispiel der spieleverleih, den daheim<br />

am ende des Jahrzehnts eine weile im angebot hatte. »leihen<br />

sie sich von uns spiele ihrer wahl zu einem Bruchteil des ladenpreises«,<br />

ermunterte man die kunden. »wir verleihen oder<br />

verkaufen spiele, die spannung, spaß und freude in ihr haus<br />

bringen … denn gute spiele sind nicht gerade preiswert. auf<br />

jeden fall zu teuer, um nach einiger Zeit ungenutzt in der ecke<br />

zu stehen.« das galt auch für manche der spielzeuge, die sich<br />

seinerzeit zwar jeder Junge wünschte, mit denen viele aber<br />

schon nach kurzer Zeit nicht mehr spielten, wie fischer-technik<br />

und elektronik-Baukästen. Bestellen konnte man beim Zusteller<br />

oder per anruf in der filiale. die Miete betrug 10 pro-<br />

204


zent des ladenpreises und wurde angerechnet, wenn der<br />

kunde das spiel behalten wollte. das lief am anfang ganz gut,<br />

doch auch diesem Zusatzgeschäft war kein anhaltender erfolg<br />

beschieden. wieder war es das fernsehen, das die lebensgewohnheiten<br />

veränderte. statt gemeinsam zu spielen, hockten<br />

immer mehr familien erst noch miteinander und später sogar<br />

jeder für sich vor den Mattscheiben. die generation der coachpotatoes<br />

wuchs heran.<br />

der Mann mit den goldenen stiften<br />

Besonders viel phantasie entwickelte der geschäftsführer erwin<br />

schmitz, dem kurt ganske Mitte der sechziger Jahre die<br />

leitung von daheim übertragen hatte. Zu dieser Zeit war der<br />

früher immer sehr rentable leserkreis tief in die roten Zahlen<br />

geraten. der Mantel war für das schrumpfende geschäft zu<br />

groß geworden. die früher so erfolgreiche Mannschaft und<br />

die auf wachstum getrimmte organisation passten nicht mehr<br />

in eine Zeit, in der die ganze Branche unter den folgen des<br />

strukturwandels litt. »wie tief daheim in die Verlustzone geraten<br />

war, lässt sich wie so manches andere aus den noch vorhandenen<br />

unterlagen nicht mehr ermitteln«, bedauert thomas<br />

ganske. »heute dokumentieren wir alles haarklein und heben<br />

vielleicht zu viel auf. früher wurde dagegen zu wenig archiviert.<br />

deshalb lassen sich viele entwicklungen nicht mehr lückenlos<br />

nachvollziehen. aber sicherlich ist der rückgang der<br />

abonnentenzahl nicht immer von entsprechenden Maßnahmen<br />

zur kostensenkung begleitet worden. das hat schmitz<br />

dann bereinigt und überkommene strukturen so verändert,<br />

dass der leserkreis wieder wirtschaftlich zu führen war.«<br />

erwin schmitz, der sich zuvor um die einführung der datenverarbeitung<br />

und andere organisatorische fragen in den<br />

verschiedenen ganske-unternehmen gekümmert hatte, wehrte<br />

sich zunächst »mit händen und füßen« gegen diese aufgabe.<br />

205


»die hatten beim lkd immer noch sehr viele kunden, waren<br />

aber so schlecht organisiert, dass sie trotzdem viel geld verloren.«<br />

deshalb hatten die geschäftsführer in immer schnellerer<br />

folge gewechselt – ohne dass es zu dem erforderlichen kurswechsel<br />

kam. das übernahm dann schmitz. er halbierte die<br />

Mitarbeiterzahl und änderte das entlohnungssystem für die<br />

nun auf den tatsächlichen Bedarf reduzierte Botenzahl. statt<br />

des stundenlohns wurde ein abrechnungssystem eingeführt,<br />

bei dem für jeden kundenbesuch und jeden gefahrenen kilometer<br />

eine bestimmte punktzahl gutgeschrieben wurde. statt<br />

wie bisher die Zeitschriften in den filialen einzeln mit den<br />

auch als werbeträger dienenden grünen schutzumschlägen<br />

zu versehen, gelang es schmitz, die Verlage dazu zu bewegen,<br />

ihre Blätter gleich im daheim-gewand zu liefern. der charakteristische<br />

graue, grüne und heute blaumelierte umschlag<br />

wird seit 1971 am ende der druckstraße um die Zeitschriften<br />

geheftet und nicht erst einzeln bei daheim. schon vorher hatte<br />

schmitz dafür gesorgt, dass die Mappen für die kunden nicht<br />

mehr zentral angefertigt wurden, sondern dieser produktionsschritt<br />

1969 wieder zurück in die filialen verlegt wurde.<br />

weil die filialen sich wieder ganz dem Vertrieb widmen<br />

sollten, wurden ihre inzwischen viel zu großen Büros auf das<br />

notwendige Minimum reduziert, und der größte teil der Verwaltungsarbeiten<br />

wurde wieder in hamburg konzentriert. rechnungen,<br />

Mahnungen, lieferscheine wurden nur noch in der<br />

Zentrale geschrieben. das alles war nur möglich, weil der technisch<br />

und handwerklich versierte geschäftsführer zusammen<br />

mit einem Mitarbeiter anfang der siebziger Jahre eigenhändig<br />

ein edV-programm entwickelte, das bereits entscheidungsprozesse<br />

unterstützte und die geschäftsabläufe bei daheim so gut<br />

abbildete, dass es über 35 Jahre lang im einsatz blieb. erst ab<br />

2007 sollte das 1972 installierte system schrittweise durch das<br />

lange erwartete »daheim informationssystem« (daisY) abgelöst<br />

werden. die alte software hätte auch noch länger funktio-<br />

206


niert. doch inzwischen hatte sie nicht nur ihren längst pensionierten<br />

Vater, sondern auch fast alle Mitarbeiter überdauert,<br />

die die programmsprache noch beherrschten und bei problemen<br />

eingreifen konnten. »eigentlich hatten wir nur noch eine<br />

Mitarbeiterin, die das system verstand. ich darf gar nicht daran<br />

denken, was alles hätte passieren können, wenn sie für längere<br />

Zeit erkrankt wäre«, schildert geschäftsführer Joachim<br />

herbst das risiko. außerdem konnte so platz auf den schreibtischen<br />

geschaffen werden, denn da das Methusalem-programm<br />

auf einem veralteten Betriebssystem basierte, mussten für alle<br />

anderen Büroarbeiten zusätzliche pcs bereitgestellt werden,<br />

die unter windows arbeiteten.<br />

seine kenntnisse in der datenverarbeitung hatte sich erwin<br />

schmitz in einer amerikanischen dienststelle in Marokko erworben,<br />

die über einen computer verfügte, der mit 30 000 röhren<br />

bestückt war und einen ganzen raum ausfüllte. nur das<br />

Militär konnte sich damals solche ungetüme leisten. es war die<br />

letzte station auf einer reise, die er als junger Mann mit 25 dM<br />

in der tasche begonnen hatte und die ihn innerhalb einiger<br />

Monate rund um das Mittelmeer führen sollte. sie dauerte<br />

schließlich zehn Jahre und brachte ihm unter anderem erfahrungen<br />

als ingenieur, lehrer, feuerwehrmann und elektroniker<br />

ein. als er sich 1961 eher zufällig beim Jahreszeiten Verlag<br />

bewarb, traf er zunächst auf Michael ganske. der stellte ihn<br />

seinem Vater vor – und der ihn als assistent für organisationsfragen<br />

ein. »der ist entweder genial oder verrückt – mal sehen,<br />

was davon zutrifft«, erklärte kurt ganske seinem sohn diese<br />

personalentscheidung.<br />

als schmitz sich an seinem ersten arbeitstag meldete, war<br />

Michael ganske gerade auf hochzeitsreise, und niemand<br />

konnte ihm sagen, was er denn nun eigentlich organisieren<br />

sollte. deshalb erstellte er erst einmal einen Übersichtsplan,<br />

in den er alle unternehmen einzeichnete, die kurt ganske<br />

gehörten. da der Verleger sie alle als einzelunternehmen<br />

207


führte und die meisten Mitarbeiter bei daheim, hoffmann<br />

und campe oder dem Jahreszeiten Verlag gar nicht wussten,<br />

welche anderen firmen kurt ganske sonst noch besaß, war<br />

vorher niemand auf eine solche idee gekommen. Über das<br />

organigramm einer so damals noch gar nicht existierenden<br />

organisation setzte schmitz erstmals die Überschrift »ganskegruppe«.<br />

da sich aber nach wie vor niemand dafür interessierte,<br />

nahm er sich der organisation der datenverarbeitung an. es<br />

ging darum, für den Jahreszeiten Verlag eine abonnentenverwaltung<br />

aufzubauen. daran hatte sich bereits die Zuse ag<br />

versucht, das unternehmen des deutschen Vaters der elektronischen<br />

datenverarbeitung, konrad Zuse. Viel Brauchbares<br />

war dabei jedoch nicht herausgekommen. »können sie nicht<br />

mal gucken, ob sie das hinbekommen?«, lautete der auftrag.<br />

schmitz besann sich auf seine bei den amerikanern erworbenen<br />

kenntnisse. »die Maschine wurde auf steckkarten programmiert,<br />

das waren tafeln mit vergoldeten löchern und<br />

steckern. Jedes Byte musste von hand gesteckt werden, jeder<br />

einzelne Befehl in kleinsten schritten dargestellt werden.«<br />

schmitz und sein helfer bekamen zwar eine abo-Verwaltung<br />

und auch eine einfache gehaltsabrechnung hin, aber »es war<br />

eigentlich alles Mist«. es stellte sich bald heraus, dass es mit der<br />

Zuse-Maschine einfach nicht ging. erst nachdem eine univac<br />

bestellt worden war, bekam man die sache in den griff. noch<br />

als pensionär zeigt schmitz voller stolz umfangreiche aktenordner,<br />

vollgestopft mit den von ihm gezeichneten plänen zur<br />

architektur des programms.<br />

diese leistung beeindruckte kurt ganske offenbar so sehr,<br />

dass er es dem begabten Bastler zutraute, auch den auf eine abschüssige<br />

Bahn geratenen lesezirkel neu zu programmieren –<br />

obwohl schmitz beim einstellungsgespräch die erste frage,<br />

»haben sie schon einmal bedient?«, mit »nein« beantwortet<br />

hatte. die Belieferung von lesezirkel-abonnenten zählte nicht<br />

208


zu den vielen Jobs, die er während seiner lehr- und wanderjahre<br />

rund um das Mittelmeer ausgeübt hatte.<br />

aber kurt ganske hatte auf den richtigen Mann gesetzt. ein<br />

Jahr nach Beginn der schmitz-kur wurde bei daheim bereits<br />

eine null geschrieben. nach weiteren zwölf Monaten konnte<br />

schmitz seinem arbeitgeber eine Bilanz vorlegen, in der wieder<br />

ein gewinn ausgewiesen wurde.<br />

lesen statt kochen<br />

nicht ganz so erfolgreich war erwin schmitz, wenn es um neue<br />

Marketing-ideen ging – auch wenn er immer wieder originelle<br />

einfälle hatte. so kam er auf den gedanken, dem lesezirkel<br />

einen tV-reparaturservice anzugliedern. eine noch weitergehende<br />

idee bestand 1984 darin, einen mobilen hausmeisterservice<br />

zu etablieren. ausgebildete klempner und elektromeister<br />

mit einem gutausgestatteten werkstattwagen sollten einmal<br />

pro woche bei den abonnenten vorbeifahren und sich erkundigen,<br />

ob alles in ordnung sei. wer außer haus war, sollte einen<br />

Zettel in den Briefkasten legen und darauf vermerken, ob<br />

der wasserhahn tropfte, eine glühbirne ausgewechselt werden<br />

musste oder die türklingel streikte. kleine instandhaltungsarbeiten<br />

waren im abo-preis enthalten. wurde der service gerufen,<br />

weil ein wasserrohr geplatzt, die heizung kalt oder der<br />

kühlschrank kaputt war, sollte eine extra-rechnung geschrieben<br />

werden. »als kurt ganske hörte, dass ich bereits einen<br />

Musterwagen ausgerüstet hatte, ließ er ihn kommen. der fahrer<br />

sollte den ganzen kabelsalat der fernsehgeräte ordnen und<br />

ordentlich verlegen und auch sonst alles reparieren, was in der<br />

wohnung irgendwie defekt war. kg war anschließend sehr zufrieden.«<br />

doch das war es dann auch. »im Management hat<br />

sich sonst keiner dafür interessiert. allein gegen alle konnte<br />

ich das nicht durchziehen«, ärgerte sich schmitz noch drei<br />

Jahrzehnte später.<br />

209


dass schmitz immer wieder solche ideen entwickelte, hing<br />

damit zusammen, dass er selber zeitlebens ein begeisterter<br />

tüftler und Bastler war. Zu seinen glanzleistungen gehörte<br />

der Bau <strong>eines</strong> wohnmobils auf Basis <strong>eines</strong> Mercedes-lkw. nach<br />

der ankunft auf dem campingplatz konnte die rollende luxusherberge<br />

hydraulisch auf fast die doppelte länge ausgefahren<br />

werden. Mit dem unikat, das noch mit vielen anderen<br />

technischen raffinessen ausgestattet war, gewann schmitz bei<br />

einschlägigen wettbewerben mehrfach den ersten preis. er beeindruckte<br />

mit seinem gefährt aber nicht nur andere camper,<br />

sondern auch den chef. »als ich einmal spät am abend in der<br />

garage an dem ding bastelte, kam kg vorbei und sah sich alles<br />

an. als unternehmer hat er sofort überlegt, ob man solche<br />

fahrzeuge nicht auch bei daheim einsetzen könnte – zum Beispiel<br />

als wohnmobil für Vertreter oder als mobilen Messestand.«<br />

aus der eigenen freizeitbeschäftigung heraus entstand<br />

auch der Vorschlag, parallel zum gemeinschaftslesen eine gemeinschaftsnutzung<br />

von heimwerkergeräten zu organisieren.<br />

das war an sich ein naheliegender gedanke. do-it-yourself lag<br />

im trend. gute Maschinen waren damals noch sehr kostspielig.<br />

da die meisten hobby-schreiner, -tapezierer, -fliesenleger<br />

oder -gärtner sie nur ein- oder zweimal im Jahr wirklich<br />

brauchten, wäre es sinnvoll gewesen, sie günstig zu leihen statt<br />

teuer zu kaufen. dennoch wurde nichts aus der idee »werkzeug<br />

für daheim«. ein solcher service hätte ebenso wie der<br />

hausmeisterdienst per abo nicht so recht zu einer Mediengruppe<br />

gepasst.<br />

Vielleicht war es ein trost für erwin schmitz, dass auch<br />

manche idee von kurt ganske aus dem gleichen grund schließlich<br />

wieder begraben wurde. so überlegte er 1966, den daheimkunden<br />

eigenheime zu verkaufen. »kg beabsichtigt, daheimfertighäuser<br />

für unsere kunden in das programm aufzunehmen.<br />

es ist geplant evtl. Beteiligung an einer guten, soliden mittleren<br />

210


herstellerfirma, die diese häuser liefern soll. darüber hinaus<br />

soll eine Bausparkasse gekauft werden«, wurde Mitte 1966 in<br />

einem Besprechungsprotokoll vermerkt. dort ist auch nachzulesen,<br />

dass nach der devise »If you can’t beat them, join them« der<br />

Verleih von fernsehgeräten geprüft und über das angebot<br />

einer tV-reparaturversicherung nachgedacht werden solle.<br />

offenbar war das ergebnis der denkprozesse aber negativ.<br />

auch die fertighaus-pläne verschwanden bald wieder in der<br />

schublade.<br />

wenn der kassettenmann kommt<br />

ein letzter Versuch, die böse konkurrenz fernsehen mit den<br />

eigenen waffen zu schlagen, wurde im herbst 1981 unternommen.<br />

Mit dem slogan »sie brauchen nur noch die cassette einzulegen«<br />

wurde für den neu ins programm genommenen<br />

hauszustell-service »Video daheim« geworben. ohne aufnahmegebühr,<br />

clubbeitrag oder kaution konnten die kunden sich<br />

aus einem immer wieder aktualisierten katalog Videobänder<br />

ihrer wahl in einem der drei damals miteinander konkurrierenden<br />

formate Vhs, Betamax oder Video-2000 ins haus<br />

bringen lassen. hier legt schmitz allerdings wert auf die feststellung,<br />

dass die idee nicht von ihm stammte. »das kam aus<br />

dem Verband heraus. die hielten das für eine tolle idee, waren<br />

aber überzeugt, dass es nur funktionieren könne, wenn auch<br />

der Branchenprimus mitmachte – sonst sei das ding von anfang<br />

an tot.«<br />

Überlegungen, ins Video-geschäft einzusteigen, hatte es<br />

schon seit vielen Jahren gegeben. das riss die Süddeutsche Zeitung<br />

1970 sogar zu einer Zukunftsvision hin: »ein Bild aus den<br />

späten siebziger Jahren: Jede woche oder vielleicht alle 14 tage<br />

kommt dann der kassettenmann. was früher der lesezirkel<br />

seinen kunden frei haus lieferte – Bilder und storys aus aller<br />

welt –, das verleiht er nun als fernsehfilm … das angebot des<br />

211


kassettenmannes ist bunt wie der schaukasten <strong>eines</strong> Zeitungskiosks.<br />

es reicht vom Bildungsprogramm, der schulfernsehsendung<br />

und den gesammelten lektionen des telekollegs über<br />

aktuelle politische informationen, spielfilme und shows bis<br />

zur pornographischen Bilderserie.« klar, dass die lesezirkel<br />

angesichts so rosiger Zukunftsaussichten dabei sein wollten.<br />

doch die technische umsetzung gestaltete sich viel schwieriger<br />

und langwieriger, als der lesezirkelverband, der springer Verlag<br />

und ullstein aV, die alle schon das große geschäft mit<br />

bespielten platten und Bändern witterten, gedacht hatten. erst<br />

zehn Jahre später, im herbst 1981, konnten 60 lesezirkel, die<br />

sich zu diesem Zweck der Media-rent gmbh angeschlossen<br />

hatten, damit beginnen, bespielte kassetten unter die leute zu<br />

bringen.<br />

das Mitmachen fiel schmitz trotz aller skepsis leicht, weil<br />

daheim die Videobänder zunächst kostenlos zur Verfügung<br />

gestellt wurden. die rechnung musste erst beglichen werden,<br />

wenn sie auch tatsächlich ausgeliehen wurden. das geschah allerdings<br />

zunächst nur in bescheidenem umfang, da eine Mietvorauszahlung<br />

von 50 dM, wie sie Media-rent festgesetzt hatte,<br />

reichlich hochgegriffen war. deshalb setzte schon bald »ein<br />

preisverfall« ein, wie der Verband bedauernd feststellte. der<br />

allerdings half dem umsatz auf die Beine. alle teilnehmenden<br />

lesezirkel zusammen konnten 1982 fast 135 000 Vermietungen<br />

melden. Bei einem gesamtumsatz von 2,2 Millionen dM entsprach<br />

das einer durchschnittlichen Mietgebühr von rund<br />

16 dM. doch dieser anfangserfolg war vor allem dem neugiereffekt<br />

zu verdanken. auf die dauer waren solche preise nicht<br />

marktgerecht. nach einem zunächst vielversprechenden Jahr<br />

klagten die Verleiher daher 1983 erneut über eine sehr stark<br />

schwankende nachfrage und einen weiteren preisverfall.<br />

das einzige, was wirklich gut lief, waren sex-Videos wie<br />

»emmanuelle« oder »liebesgrüße aus der lederhose«. doch<br />

wer so etwas verlieh, bekam damals rasch Ärger mit dem staats-<br />

212


anwalt. irgendein tugendwächter fand sich immer, der sofort<br />

anzeige erstattete, sobald er sittenverfall und unrat witterte.<br />

erwin schmitz hatte das geahnt. deshalb ließ er alles, was nach<br />

»schmutz und schund« roch, in einen versiegelten Behälter<br />

legen. »da konnte niemand behaupten, wir machten Jugendlichen<br />

sex-filme zugänglich.« es dauerte auch nicht lange, bis<br />

jemand den leserkreis anschwärzte. schmitz erhielt eine Vorladung.<br />

doch nachdem er dem staatsanwalt seine kindersicherung<br />

vorgeführt hatte, durfte er bald wieder gehen: »alles in<br />

ordnung.«<br />

wiederentdeckung <strong>eines</strong> erfolgsmodells<br />

weniger ordentlich lief hingegen das geschäft. denn überall<br />

im lande schossen Video-shops wie pilze aus dem Boden. Bei<br />

den spezialanbietern konnte jeder interessent in ruhe aus<br />

einem großen angebot auswählen und die Bänder schon<br />

am nächsten tag gegen einen anderen film austauschen. wer<br />

»schweinkram« sehen wollte, musste das nicht seinem lesezirkel-Boten<br />

sagen, und auch die kinder bekamen die päckchen<br />

mit der heißen ware nicht so leicht in die finger. außerdem<br />

boten die Videotheken ihre filme deutlich billiger an. die meisten<br />

lesezirkel stiegen deshalb schon bald wieder aus dem<br />

Videogeschäft aus oder eröffneten selbst einen Videoladen.<br />

als daheim den kassettenverleih wieder einstellte, war es<br />

für erwin schmitz ein abschied ohne tränen. »große kosten<br />

hatten wir nicht und daher auch keine Verluste. Mir ist von<br />

vorneherein klar gewesen, dass die kunden bald andere und<br />

bessere Möglichkeiten haben würden, an filme zu kommen.<br />

ich wollte nur nicht als der große spielverderber dastehen. hätten<br />

wir nicht mitgemacht, hätten die anderen Verbandsmitglieder<br />

uns die schuld dafür gegeben, dass die sache in die<br />

hose gegangen ist.« außerdem hatte der kurze ausflug in die<br />

welt der flimmernden Bilder einen sehr erfreulichen neben-<br />

213


effekt. »so viel publizität wie damals hatten wir noch nie«, freut<br />

sich anzeigenleiter wolfgang declair noch heute. »alle großen<br />

Zeitungen und auch das fernsehen haben über die Videothek<br />

berichtet. allein in der Drehscheibe des Zdf hatten wir zwanzig<br />

Minuten sendezeit – und das zum nulltarif.«<br />

ein großer und dauerhafter erfolg war dagegen die wiederentdeckung<br />

der variablen Mappe. erwin schmitz sah, dass die<br />

Zeit vorbei war, in der man den kunden eine Zeitschriftenauswahl<br />

nach der Methode »Vogel, friss oder stirb« anbieten<br />

konnte. seit 1984 gibt daheim den kunden wieder die Möglichkeit,<br />

aus einem bunten strauß von Blättern auszuwählen.<br />

die leser bestellen, was sie wirklich interessiert – so wie einst<br />

in den gründerjahren. »wir haben die standardmappe zwar<br />

heute noch, und sie bietet auch einen gewissen preisvorteil.<br />

aber sie macht nur noch rund zehn prozent des absatzes aus«,<br />

beschreibt Joachim herbst, der seit 2001 die geschäfte des<br />

leserkreises führt, die entwicklung. wer sich bei einer der filialen<br />

oder im internet unter leserkreis.de über das angebot<br />

informiert, kann heute seine Mietzeitschriften aus über hundert<br />

titeln auswählen. sie werden zu einem preis ins haus gebracht,<br />

der schon in der woche des erscheinens um rund ein<br />

drittel unter dem kioskpreis liegt. nach einer woche liegt der<br />

rabatt bei über 40 prozent. wer noch eine woche länger warten<br />

will, zahlt wenig mehr als die hälfte des aufgedruckten<br />

preises. Öfter als drei- oder viermal verleihen heute nur noch<br />

wenige lesezirkel ein Blatt.<br />

das restaurant im kühlschrank<br />

nicht überlebt hat dagegen eine andere geschäftsidee, für die<br />

erwin schmitz ebenfalls die Vaterschaftsrechte beansprucht.<br />

es war ein weiterer Versuch, die kernkompetenz »Zustell-service«<br />

über den Zeitschriftenbereich hinaus auf andere gebiete<br />

auszudehnen. diesmal war es ein service, der der hausfrau<br />

214


oder auch männlichen und weiblichen singles das leben erleichtern<br />

sollte. unter dem namen »Menü daheim« wurden<br />

seit anfang 1981 tiefgekühlte fertigmahlzeiten auf wunsch ins<br />

haus geliefert – zunächst in hamburg. »das kochen können<br />

wir vergessen. daheim bringt tiefgekühltes essen«, wurde in<br />

reimform für das neue angebot geworben. »anruf genügt« –<br />

jedenfalls von Montag bis freitag von 8 bis 16 uhr. dass es<br />

einmal pizza-, sushi- und andere Zustelldienste geben könnte,<br />

die bis tief in die nacht oder gar rund um die uhr liefern,<br />

konnte man sich anfang der achtziger Jahre noch nicht vorstellen.<br />

wer damals keine lust hatte zu kochen, musste das<br />

lange im Voraus wissen und sich auch rechtzeitig überlegen,<br />

auf was er im laufe der woche appetit haben würde. der fahrer<br />

kam nämlich nach einem festen tourenplan, auf den die<br />

kunden keinen einfluss hatten. außerdem mussten sie über<br />

ein tiefkühlfach verfügen, um die bestellten Menüs lagern zu<br />

können.<br />

Zu preisen zwischen 5,80 und 6,80 dM je Menü konnten<br />

sich kochmüde zwischen vier verschiedenen Vorschlägen für<br />

den wochenspeiseplan entscheiden, der entweder von hähnchenschnitzel<br />

mit Butterreis bis zu grünen Bohnen mit rauchspeck<br />

oder von geschnetzeltem rindfleisch in sahnetunke bis<br />

zu hirschbraten mit wacholdersauce reichte. Man konnte sich<br />

aber auch für eine ganze woche mit schonkost versorgen lassen.<br />

wer für noch längere Zeit den kochlöffel ruhen lassen<br />

wollte, konnte sich sogar für vier wochen im Voraus eindecken.<br />

»eine begeisternde idee hat sich durchgesetzt und kommt jetzt<br />

auch zu ihnen«, verkündete der Menü-service und meinte damit<br />

vier wochenkartons mit je sieben verschiedenen Menüs.<br />

das waren 28 Mahlzeiten »im praktischen kochbeutel«. die kundinnen<br />

brauchten sie nur in heißes wasser zu legen und konnten<br />

dann weiter in ihren illustrierten blättern. »gut essen ohne<br />

zu kochen« kostete zwischen 38 und 43 dM pro person und<br />

woche. linientreue konnten genau nachrechnen, wie viele ka-<br />

215


lorien sie bei jeder Mahlzeit zu sich nahmen, denn deren genaue<br />

Zahl wurde bei jedem gericht gleich mitgeliefert.<br />

wie viel man sich davon versprach, den daheim-kunden<br />

nicht mehr nur geistige nahrung ins haus zu bringen, sondern<br />

ihnen das »eigene restaurant im tiefkühlfach« einzurichten<br />

und regelmäßig zu füllen, lässt sich daran erkennen,<br />

dass zum zweiten Mal in der geschichte des inzwischen fast<br />

75-jährigen unternehmens die firmenbezeichnung geändert<br />

wurde. aus »leserkreis daheim Volksverband der Bücherfreunde«<br />

wurde der bis heute bestehende »daheim liefer-service<br />

gmbh«. das schloss auch die Möglichkeit ein, nicht mehr nur<br />

Zeitschriften und Bücher, sondern auch fertigmenüs und später<br />

vielleicht weitere waren bis an die haustür zu bringen.<br />

die »begeisternde idee« zündete aber nicht so wie erhofft.<br />

das geschäft lief zwar auch diesmal zunächst ganz gut an, und<br />

erwin schmitz schmiedete schon pläne, den Menüservice für<br />

privathaushalte und firmenkantinen um spezielle angebote<br />

für diabetiker zu ergänzen. noch als pensionär war er stolz darauf,<br />

bereits adressen von über 6000 interessenten gesammelt<br />

zu haben, und er hatte sogar eine eigene Zeitschrift für diesen<br />

kundenkreis entwickelt. doch dann beschloss thomas ganske,<br />

der inzwischen die leitung der unternehmensgruppe übernommen<br />

hatte, den Menü-dienst aus daheim auszugliedern<br />

und einem in dieser Branche erfahrenen geschäftsführer anzuvertrauen.<br />

da er von unilever (iglo, langnese) kam, durfte<br />

man von ihm annehmen, dass er etwas vom lebensmittel- und<br />

tiefkühlgeschäft verstand. doch auch mit diesem sachverstand<br />

war das geschäftsmodell nicht zum erfolg zu führen. es<br />

gab nicht genügend familien, die das restaurant im kühlschrank<br />

regelmäßig aufsuchen wollten. das Versprechen »die<br />

tägliche warme Mahlzeit … taufrisch, gesund und köstlich aus<br />

ihrem tiefkühlfach« konnte nach ansicht der konsumenten<br />

wohl doch nicht so ganz erfüllt werden. thomas ganske<br />

schmeckte das geschäft mit der tiefkühlkost ebenfalls nach<br />

216


einiger Zeit nicht mehr. »das passt nicht zu einem Verlagshaus.<br />

außerdem braucht man dafür eine eigene fahrzeugflotte, damit<br />

die kühlkette nicht unterbrochen wird. die transportmittel<br />

der Boten, die die Zeitschriften zustellen und abholen, sind<br />

dafür völlig ungeeignet.« die erhofften synergie-effekte ließen<br />

sich daher nicht erzielen.<br />

dass die idee an sich trotzdem richtig war, zeigen die umsätze,<br />

die ein Vierteljahrhundert später mit fertiggerichten<br />

erzielt werden. allein »Joey’s pizza-service« liefert in ganz<br />

deutschland täglich rund 17 000 gerichte aus und erzielte damit<br />

2005 einen umsatz von 42 Millionen euro. »hallo pizza«,<br />

der größte der Branche, verkaufte sogar für 45 Millionen<br />

euro warme gerichte an der haustür. insgesamt kämpfen in<br />

deutschland heute 2700 heimlieferdienste um die gunst der<br />

kunden und kassierten bei ihnen 2006 über eine halbe Milliarde<br />

euro. als erwin schmitz »Menü daheim« auf den weg zu<br />

bringen versuchte, war der Markt dafür aber noch nicht reif,<br />

die Vorbestellungszeiten waren zu lang und das essen meist<br />

nicht heiß genug. heute heißt es: anruf genügt. kurze Zeit später<br />

steht der Bote mit den dampfenden gerichten vor der tür.<br />

einige lieferanten bereiten das fast-food-gericht sogar direkt<br />

vor dem haus des kunden in ihren rollenden küchen zu.<br />

weder arm noch alt noch ungebildet<br />

für eine andere leistung dagegen ist man erwin schmitz nicht<br />

nur bei daheim, sondern in der ganzen Branche noch bis heute<br />

dankbar. die lesezirkel ärgerten sich seit langem darüber,<br />

dass sie bei der für das anzeigengeschäft so wichtigen Medienanalyse<br />

zu schlecht wegkamen. der grund dafür war eine für<br />

sie ungünstige fragestellung. dadurch wurde der Beitrag, den<br />

sie zur Verbreitung der von ihnen verliehenen Zeitschriften<br />

leisteten, ebenso systematisch unterbewertet wie die reichweite<br />

der werbeaufkleber und die Beilagen ihrer Mappen. die<br />

217


arbeitsgemeinschaft Media-analyse (ag.Ma) dazu zu bewegen,<br />

ihre ermittlungsmethoden zu ändern, erschien aber kaum möglich.<br />

»alle sachverständigen, die wir dazu befragten, waren der<br />

auffassung, dies sei unerreichbar«, klagte der Verband in seinem<br />

geschäftsbericht. »auf anregung von herrn schmitz, daheim,<br />

unternahmen wir aber trotzdem … einen Versuch.« tatsächlich<br />

hatte ihn erwin schmitz jedoch nicht nur angeregt,<br />

sondern auch selbst unternommen – »obwohl die mich für verrückt<br />

erklärt haben«. er sah eine chance, weil er den Verantwortlichen<br />

bei der ag.Ma gut kannte. sie hatten früher den<br />

gleichen heimweg von der arbeit gehabt, sich daher oft getroffen<br />

und geplaudert. deshalb war es nicht schwer, nun auch geschäftlich<br />

ins gespräch zu kommen.<br />

schmitz überzeugte ihn, dass die bisherigen untersuchungsmethoden<br />

unzureichend waren. das »unerreichbare« wurde<br />

wirklichkeit. Zunächst wurden die lesezirkel als eigenständige<br />

werbeträger in die Media-analyse aufgenommen. danach<br />

wurde noch einige Zeit herumexperimentiert, um die richtige<br />

fragestellung zu finden. 1977 war es endlich so weit: die in die<br />

repräsentativen umfragen einbezogenen leser wurden nicht<br />

mehr nur gefragt, welche Blätter sie gelesen hatten, sondern<br />

auch, ob sie die Zeitschriften in einer lesezirkelmappe gefunden<br />

hatten – zu hause oder in einer der zahlreichen öffentlichen<br />

auslagen. dabei stellte sich heraus, dass weit mehr leser<br />

die Mappen und damit die vom lesezirkel verbreiteten Zeitschriften<br />

zur hand nahmen, als bisher unterstellt worden war.<br />

Mindestens so schön für die Branche war, dass gleichzeitig das<br />

uralte Vorurteil widerlegt wurde, ihre kunden seien alt, arm<br />

und ungebildet. das war bis dahin die gängige Meinung in der<br />

Medienbranche. nun stellte sich auf grund exakter Zahlen<br />

das genaue gegenteil heraus. diejenigen, die die Mappen nutzten,<br />

waren im Vergleich zur gesamtbevölkerung »jung, wohlhabend<br />

und gebildet«, wie der Verband deutscher lesezirkel<br />

triumphierend meldete. daran hat sich bis heute nichts geän-<br />

218


dert. die Mappen, die privat bezogen oder in der »öffentlichen<br />

auslage« bei Ärzten, friseuren, in coffee-shops oder fitnessstudios<br />

gelesen werden, erreichen woche für woche über elf<br />

Millionen leser. das sind 17 prozent der gesamtbevölkerung.<br />

da sie in diesen »wartesituationen« von vielen personen genutzt<br />

werden, erhöhen die Mappen die reichweite der eingelegten<br />

Zeitschriften beträchtlich.<br />

Über diesen erfolg freute sich erwin schmitz auch 20 Jahre<br />

später noch – ebenso wie über die unternehmerischen gestaltungsmöglichkeiten,<br />

die er als geschäftsführer hatte. »ich<br />

habe daheim wie mein eigenes unternehmen betrachtet. kurt<br />

ganske hat mir sehr viel freiheit gelassen, da er den leserkreis<br />

seit anfang der siebziger Jahre an sehr langer leine führte.«<br />

gelegentlich fällte kg aber auch einsame entscheidungen –<br />

zum Beispiel, als er Mitte der siebziger Jahre gegen den rat s<strong>eines</strong><br />

geschäftsführers eine preiserhöhung beschloss. da es eine<br />

schwierige Zeit war, in der man um jeden abonnenten kämpfen<br />

musste, herrschte große unruhe im Betrieb: »Jetzt hagelt<br />

es abbestellungen, das gibt uns den rest«, war die allgemeine<br />

Meinung. heinz-dieter lechte, damals Vorsitzender des gesamtbetriebsrates,<br />

trug erwin schmitz die sorgen der Mitarbeiter<br />

vor. wie so oft waren geschäftsführer und Betriebsrat<br />

auch diesmal einer Meinung. »dann versuchen sie doch ihr<br />

glück bei ihm«, forderte schmitz ihn auf. »ich habe mich vergeblich<br />

bemüht, kg das auszureden.« lechte, der den Verleger<br />

noch nie von nahem gesehen hatte, schrieb ihm einen Brief, in<br />

dem er seine sorgen begründete. »erst mal passierte lange gar<br />

nichts. dann klingelte an einem sonntag – es war außerdem<br />

mein geburtstag – bei mir zu hause das telefon.« kurt ganske<br />

wollte mit ihm reden.<br />

lechte machte sich auf den weg in die »Villa«. die geburtstagsfeier<br />

musste warten. »ganske hörte sich an, was ich zu sagen<br />

hatte. seine etwas überraschende antwort: ›Mein friseur<br />

hat auch gerade seine preise erhöht. trotzdem gehe ich bald<br />

219


wieder hin. und bei dem bekomme ich nicht einmal etwas,<br />

sondern lasse sogar meine haare da!« damit war für ihn die<br />

sache erledigt. lechte machte sich etwas deprimiert auf den<br />

heimweg. im Betrieb wurden bereits wetten abgeschlossen,<br />

wie viele abonnenten sich nach der preiserhöhung dankend<br />

vom lesezirkel verabschieden würden. »aber nichts passierte.<br />

keine andere preiserhöhung ging so glatt durch wie diese.«


sechstes kapitel<br />

sein langster ¨<br />

tag


n ach Meinung seiner frau lilo handelte es sich bei dem,<br />

was der junge autor in ein leeres kontobuch mit extra<br />

weitem Zeilenabstand hineingeschrieben hatte, »um künstlerisch<br />

organisierten persischen fliegendreck«. gemeint war damit<br />

allerdings nur die handschrift und nicht der inhalt, den sie<br />

mit hilfe einer aus wehrmachtsbeständen geretteten schreibmaschine<br />

in eine auch für dritte lesbare form gebracht hatte.<br />

Zu denen, die den text lasen, gehörte willy haas, zu dieser Zeit<br />

kultureller chefberater der Welt, deren herausgeberin 1950<br />

noch die britische Besatzungsmacht war. da captain haas der<br />

Meinung war, dass sich der text hervorragend als fortsetzungsroman<br />

für das Blatt eignete, bekam der feuilleton-redakteur<br />

siegfried lenz, der das, was ihn bewegte, in seinen freien stunden<br />

zu papier gebracht hatte, ohne sich vorher zu fragen, wer<br />

seinen roman denn drucken werde und ob er dafür einen Vorschuss<br />

bekommen könne, ein honorar von 3000 Mark – eine<br />

summe, die für ihn »unbegreiflich hoch« war. für die hälfte<br />

des Betrags buchte er zusammen mit seiner frau auf einem Bananendampfer<br />

eine passage nach afrika; vom rest des geldes<br />

leisteten sie sich eine Bettcouch und ersetzten die Munitionskiste,<br />

die ihnen bis dahin als zentraler einrichtungsgegenstand<br />

gedient hatte, durch richtige Möbel.<br />

Bedeutsamer war eine Beziehungskiste, die lenz von da an<br />

immer begleitete. nachdem die ersten folgen s<strong>eines</strong> romans<br />

in der Welt erschienen waren, erkundigten sich kollegen, welcher<br />

Verlag das Buch denn drucken werde. darüber hatte sich<br />

siegfried lenz bis dahin noch gar keine gedanken gemacht.<br />

225


die machten sich nun kollegen, die kontakte in die Verlagswelt<br />

hatten. der erste Verlag, der sich bei dem jungen redakteur<br />

meldete, war hoffmann und campe. siegfried lenz zauderte<br />

nicht lange und unterschrieb am 17. oktober 1950 den<br />

angebotenen Vertrag. schließlich erhält ein bis dahin unbekannter<br />

25-jähriger schriftsteller nicht jeden tag die chance,<br />

sein erstes Buch gleich bei einem so renommierten haus zu<br />

veröffentlichen. da wartet man nicht lange, ob sich vielleicht<br />

noch andere interessenten melden. diese frage stellte sich der<br />

autor auch später nicht mehr, denn es war der Beginn einer<br />

wunderbaren Beziehung, die auch nach mehr als einem halben<br />

Jahrhundert von beiden seiten noch als glücklich empfunden<br />

wurde. was unter dem arbeitstitel »große und kleine Vögel«<br />

im Vertrag stand, kam schon im februar 1951 unter dem<br />

titel »es waren habichte in der luft« in den Buchhandel, und<br />

aus dem unbekannten autor wurde einer der bedeutendsten<br />

und erfolgreichsten deutschen schriftsteller von der nachkriegszeit<br />

bis in die gegenwart.<br />

die startauflage von 3000 exemplaren, von der nach einem<br />

halben Jahr erst knapp die hälfte verkauft war, ließ das allerdings<br />

noch nicht erahnen. eher schon die Besprechungen, die<br />

in den feuilletons einflussreicher Zeitungen erschienen. der<br />

kritiker der Zeit fand »sätze von wunderbarer schönheit«. die<br />

Frankfurter Allgemeine vermutete, dass man dem »jungen autor<br />

siegfried lenz einen platz unter den hoffnungen unserer jungen<br />

erzählenden literatur einräumen muss«. schon mit dem<br />

1955 erschienenen erzählungsband »so zärtlich war suleyken«<br />

zeig-te sich, dass der kritiker damit ins schwarze getroffen<br />

hatte. die erzählungen wurden zu einem großen erfolg. Bereits<br />

mit seinem zweiten großen werk schaffte der immer noch<br />

junge autor den sprung in die Bestsellerlisten. die masurischen<br />

geschichten fanden bis heute über 200 000-mal als<br />

hardcover und eine Million Mal als taschenbuch den weg<br />

zum leser.<br />

226


hoffmann und campe hatte in lenz einen autor gewonnen,<br />

der das profil des Verlags inzwischen seit mehr als einem<br />

halben Jahrhundert mitprägt. denn fortan erschienen alle<br />

seine Bücher bei hoca, und die frage war nur noch, ob die<br />

einzelnen werke ein großer oder ein sehr großer erfolg werden<br />

würden. nach einer reihe weiterer romane und erzählungen<br />

gelang siegfried lenz 1968 mit »die deutschstunde«<br />

sein größter erfolg. fast 2,3 Millionen exemplare wurden verkauft,<br />

450 000 davon als hardcover. dazu kamen Übersetzungen<br />

in mehr als 20 sprachen. Über 90 romane, erzählbände,<br />

essays, hörspiele oder hörbücher aus der feder des 1926 im<br />

ostpreußischen lyck geboren autors sind seit 1951 bei hoffmann<br />

und campe erschienen. anlässlich s<strong>eines</strong> 80. geburtstages<br />

erschienen 2006 seine sämtlichen erzählungen noch einmal<br />

in einem Band, dazu die autobiographische essaysammlung<br />

»selbstversetzung« – natürlich bei seinem angestammten hamburger<br />

Verlag.<br />

lenz hat nie ernsthaft darüber nachgedacht, ob er zu einem<br />

anderen Verlag wechseln sollte, nicht einmal, als sein enger<br />

freund albrecht knaus 1977 als programmleiter ausschied –<br />

und schon gar nicht, weil ein anderer Verlag mit mehr geld<br />

lockte. »das stand für mich nie zur debatte. ich fühlte mich<br />

bei hoffmann und campe immer so gut aufgehoben – auch<br />

durch herrn ganske –, wie man sich das als autor nur wünschen<br />

kann.«<br />

das gegenseitige treueverhältnis gründet nicht zuletzt auf<br />

der engen Beziehung, die sich zwischen siegfried lenz und<br />

seinen Verlegern kurt und später thomas ganske entwickelte.<br />

denn obwohl kg in der zweiten lebenshälfte immer menschenscheuer<br />

wurde, öffentliche auftritte mied, für interviews nie<br />

zur Verfügung stand und für die große Mehrzahl der Mitarbeiter<br />

in seinen unternehmen zum geheimnisvollen unbekannten<br />

wurde, pflegte er die persönlichen Beziehungen zu den wichtigen<br />

autoren s<strong>eines</strong> Buchverlags. sie waren oft – und häufig<br />

227


über längere Zeit – gast auf hohenhaus, er jagte und angelte<br />

mit denen, die diese art von freizeitgestaltung zu schätzen<br />

wussten. Bei einem guten rotwein diskutierte er mit seinen<br />

gästen oft bis tief in die nacht über gott und die welt.<br />

siegfried lenz hatte er nach der rückkehr aus afrika in<br />

den Verlag eingeladen, um ihm persönlich die inzwischen erschienenen<br />

kritiken zu seinem erstlingswerk zu überreichen.<br />

darunter waren zum erstaunen des autors nicht nur Besprechungen<br />

aus der Zeit, der FAZ, der Süddeutschen Zeitung und anderen<br />

Blättern mit einem großen feuilleton. auch in einem<br />

Ärzteblatt, einer gazette der hamburger gaswerke und einem<br />

fleischereifachblatt sowie anderen, den schönen künsten und<br />

der literatur sonst eher verschlossenen periodika, hatte man<br />

sich mit seinem roman auseinandergesetzt – was ihn noch<br />

Jahrzehnte später amüsierte und wunderte.<br />

nach diesem ersten gespräch bei »dünnem tee und keksen«<br />

sind sich autor und Verleger immer wieder begegnet, in<br />

hamburg und in hohenhaus, bei kaffee und bei wein. »wir<br />

haben uns nicht sehr häufig gesehen. aber wenn wir uns sahen,<br />

haben wir uns immer sehr gründlich ausgetauscht. er war eine<br />

gründernatur. aber ihm war auch immer sehr daran gelegen,<br />

dass seine autoren sich gut betreut fühlten.« lenz hat es zwar<br />

stets abgelehnt, Vorschüsse für seine Bücher zu verlangen, weil<br />

er »nicht in eine schuldenfalle geraten wollte«. aber er wusste<br />

auch, dass ihn sein Verleger nicht im stich lassen würde, wenn<br />

einmal not am Mann sein sollte. er ließ ihn auf dezente weise<br />

wissen, dass der Verlag immer helfen werde, wenn es notwendig<br />

sei. »so war er eben, der alte herr«, erinnert sich lenz<br />

dankbar, weil ihm das freiheit gab und Zeitdruck von ihm<br />

nahm. »wir haben diese hilfe glücklicherweise nie gebraucht«,<br />

fügt lenz hinzu. und dann fällt ihm ein, dass er sie einmal<br />

doch gern annahm, nämlich als er ein haus suchte, in dem neben<br />

seiner frau lilo und ihm auch die vielen tausend Bücher<br />

einen platz finden konnten. »da hat er uns den kauf durch ei-<br />

228


nen Vorschuss ermöglicht – aber der war gedeckt durch bald<br />

zu erwartende einnahmen, so dass wir nicht in den schuldenturm<br />

gerieten.«<br />

fast ebenso wichtig wie solche erinnerungen ist dem passionierten<br />

angler siegfried lenz, dass er auf hohenhaus den<br />

zweitgrößten fisch s<strong>eines</strong> lebens an land zog, einen zwölf<br />

pfund schweren karpfen. ehe sie ihn in den kochtopf legte,<br />

löste gerda ganske zum andenken eine schuppe. lenz trägt<br />

sie nach mehr als drei Jahrzehnten immer noch im portemonnaie<br />

bei sich. ein angler-talisman.<br />

es gab keinen Berufeneren als siegfried lenz, um 1979 am<br />

grab des Verlegers an die persönlichkeit und das lebenswerk<br />

kurt ganskes zu erinnern.<br />

Mit seinem sohn thomas, den er noch als kleinen Jungen<br />

erlebt hat, verbindet den autor eine enge persönliche freundschaft,<br />

die auch das du einschließt. der Vater dagegen blieb<br />

immer »herr ganske«. selbst heute empfindet lenz das kürzel<br />

kg als unangemessen, wenn er über ihn spricht. »thomas ist<br />

für mich ein glücksfall. wir telefonieren sehr oft zusammen.<br />

als ich ihn einmal amerikanischen Journalisten als my friend<br />

and publisher vorstellte, waren die fassungslos. ein Verleger als<br />

freund – für sie fast unvorstellbar.« Viele leser dagegen können<br />

sich nicht vorstellen, dass Verleger manchmal auch sehr<br />

praktische hilfe leisten, damit ein Buch entstehen kann. als<br />

siegfried lenz die idee zu seinem 2003 erschienenen roman<br />

»fundbüro« hatte, »fuhr mich thomas nach hannover, weil er<br />

den chef des dortigen fundbüros kannte«. lenz konnte ihm<br />

fragen stellen und beobachten, wie so ein Büro organisiert ist.<br />

auch die phantasie <strong>eines</strong> schriftstellers braucht ein solides<br />

fundament.<br />

229


auf Bestseller abonniert<br />

ein glücklicher fund für den Verlag war eine autorin, die in<br />

den fünfziger Jahren ebenfalls zunächst durch Beiträge in einer<br />

tageszeitung aufgefallen war. es war harriet wegener, die<br />

ihre artikel im Hamburger Echo (aus dem später das Boulevardblatt<br />

Hamburger Morgenpost wurde) über das leben im fernen<br />

osten gelesen und dabei schriftstellerisches talent entdeckt<br />

hatte. sie überredete alice eckert-rotholz, die dreizehn Jahre<br />

ihres lebens in Bangkok verbracht hatte, sich an einem roman<br />

zu versuchen. als er 1954 unter dem titel »reis aus silberschalen«<br />

erschien, durfte sich hoffmann und campe über seinen<br />

ersten Bestseller nach dem krieg freuen. Ähnliche erfolge<br />

erzielten der Verlag und seine autorin auch mit den nachfolgen<br />

romanen. insgesamt erschienen 17 Bücher aus ihrer feder<br />

bei hoca, das letzte im Jahr 2000 anlässlich ihres 100. geburtstags.<br />

»im feurigen licht« enthält gedichte, an denen die<br />

1995 verstorbene autorin noch bis in ihr 93. lebensjahr hinein<br />

gearbeitet hatte – in dieser hinsicht ihrer entdeckerin nicht<br />

unähnlich. denn als harriet wegener am 8. november 1970<br />

ihren 80. geburtstag feierte, wurde ihr nicht nur das Bundesverdienstkreuz<br />

erster klasse verliehen. sie konnte sich auch als<br />

deutschlands dienstälteste noch tätige lektorin bezeichnen.<br />

Zu den erfolgreichen autoren dieser Jahre zählten auch rudolf<br />

hagelstange, dinah nelken, percy ernst schramm oder<br />

Max tau. unter leitung von albrecht Bürkle, der den Verlag<br />

von 1958 bis 1963 führte, besetzte hoca jedoch nicht nur in<br />

der Belletristik, sondern auch im sachbuchbereich immer wieder<br />

spitzenplätze. Zu den erfolgsbüchern dieser kategorie<br />

zählten so unterschiedliche werke wie peter von Zahns Berichte<br />

aus der neuen welt, die rezepte des fernsehkochs clemens<br />

willmenrod sowie »der weg zur natürlichen geburt«<br />

von grantly dick-read oder paul herrmanns »sieben vorbei<br />

und acht verweht – das abenteuer der frühen entdeckungen«.<br />

230


eine besonders erfolgreiche Zeit ist bei hoffmann und<br />

campe mit dem namen albrecht knaus verbunden, der von<br />

1967 bis 1977 programmgeschäftsführer war und die vorderen<br />

plätze auf den Bestsellerlisten abonniert zu haben schien. er<br />

nutzte die unternehmerische freiheit, die kurt ganske seinen<br />

geschäftsführern ließ, um werke zu verlegen, zu denen vielen<br />

anderen der Mut oder das gespür für die wünsche des Marktes<br />

fehlten.<br />

sein erster und sehr persönlicher erfolg, an den sich knaus<br />

auch im neunten lebensjahrzehnt noch gern erinnerte, war<br />

das jüdische heldenepos »Masada – der letzte kampf um die<br />

festung des herodes« von Yigael Yadin. der rowohlt Verlag<br />

hatte das Manuskript abgelehnt. auch bei hoca kam erst einmal<br />

der einwand: »so etwas haben wir doch noch nie gemacht.«<br />

doch knaus setzte sich durch und hatte prompt seinen ersten<br />

Bestseller. Zum glück des tüchtigen gehörte es, dass die saga<br />

von den jüdischen rebellen, die sich lieber von ihrem Burgfelsen<br />

in den tod stürzten, als sich den römischen Belagerern<br />

zu ergeben, kurz nach dem sechs-tage-krieg erschien, der<br />

in der Bundesrepublik mit großer emotionaler anteilnahme<br />

verfolgt worden war. das Buch kam im frühjahr 1967 in den<br />

Buchhandel und verkaufte sich im sommer immer noch glänzend.<br />

umso mehr ärgerte es knaus, der sich mit seinem für<br />

den kaufmännischen Bereich zuständigen kollegen rüdiger<br />

hildebrandt nicht nur bei dieser gelegenheit herzlich gestritten<br />

hatte, dass das Buch rasch vergriffen war, als die nachfrage<br />

im weihnachtsgeschäft noch einmal kräftig anzog. der kaufmann,<br />

der mit Blick auf die Bilanz nicht mit hohen lagerbeständen<br />

ins nächste Jahr gehen wollte, hatte zu knapp kalkuliert.<br />

ein schneller nachdruck war wegen der vielen farbigen<br />

abbildungen damals noch nicht möglich. seine Vorsicht musste<br />

der Verlag mit verlorenen umsätzen teuer bezahlen.<br />

ein Jahr später wäre mit der »deutschstunde« beinahe das<br />

gleiche Malheur passiert. knaus drängte darauf, dass papier<br />

231


für mindestens 70 000 exemplare bestellt werde. hildebrandt<br />

hielt das für weit überzogen. er wurde dabei von kurt ganske<br />

unterstützt, der sich ebenfalls nicht vorstellen konnte, dass von<br />

einem so anspruchsvollen Buch so viele exemplare bis Jahresende<br />

verkauft werden könnten. knaus konnte immerhin erreichen,<br />

dass papier für den druck von 60 000 Büchern geordert<br />

wurde. als er anfang dezember bei einer autorenlesung in<br />

stuttgart erlebte, mit welcher Begeisterung der roman von<br />

den Zuhörern aufgenommen wurde, rief er noch in der gleichen<br />

nacht hildebrandt an und beschwor ihn, sofort papier<br />

nachzubestellen und eine druckerei ausfindig zu machen, die<br />

noch vor weihnachten liefern könne. die skepsis s<strong>eines</strong> kollegen<br />

überwand er mit dem satz: »wenn sie das hier erlebt hätten<br />

…« diesmal gab hildebrandt nach.<br />

der hersteller des Verlags machte eine druckerei in lengerich<br />

ausfindig, die zusicherte, die gewünschten Bücher kurzfristig<br />

zu liefern. danach banges warten. es dauerte länger als<br />

versprochen. schließlich wurden die Bücher doch noch kurz<br />

vor weihnachten ausgeliefert. Bis Jahresende war das hundertste<br />

tausend erreicht.<br />

»das haben wir noch nie gemacht« – diese hürde mussten<br />

auch die texte des liedermachers franz Josef degenhardt<br />

(»spiel nicht mit den schmuddelkindern«) oder von wolfgang<br />

neuss überwinden. knaus verlegte mit »der paralleldenker«<br />

von heinz von cramer den ersten pop-roman und scheute<br />

sich nicht, populäre und teure autorinnen wie utta danella an<br />

den Verlag zu binden. 1971 wagte er es, die bittersüße »love<br />

story« des amerikanischen literatur-professors erich segal zu<br />

veröffentlichen. der amerikanische Verlag des autors hatte bis<br />

dahin nur dessen wissenschaftliche schriften publiziert und<br />

damit geld verloren. Von segals Vorhaben, selbst einen roman<br />

zu veröffentlichen, hielt man bei Mcgraw-hill so wenig, dass<br />

der professor weder einen Vorschuss erhielt noch geld für werbung<br />

ausgegeben wurde. die Verlage in den deutschsprachigen<br />

232


ländern, denen das Manuskript angeboten wurde, schätzten<br />

die erfolgsaussichten sogar noch schlechter ein. keiner wollte<br />

das Buch haben. auch knaus war zunächst unschlüssig. er bat<br />

deshalb die große alte dame des Verlags um ihre Meinung.<br />

harriet wegener las die »love story« übers wochenende und<br />

hielt sie »für machbar« – falls die rechte günstig zu haben<br />

seien. sie waren es, da niemand sonst daran interesse zeigte.<br />

doch kaum war die tinte unter dem Vertrag trocken, stand<br />

das Buch, für das keine anzeigen geschaltet worden waren und<br />

über das bis dahin keine rezensionen erschienen waren, in<br />

den usa auf den Bestsellerlisten – wochenlang. das rührstück,<br />

für das die meisten kritiker nur hohn und spott übrig hatten,<br />

erlebte in deutschland allein im ersten Jahr elf auflagen; weltweit<br />

wurden davon 20 Millionen exemplare verkauft.<br />

Über solchen erfolgen vergaß albrecht knaus die pflege<br />

der klassiker nicht und bereicherte den Verlag zudem um<br />

neue segmente wie das politische sachbuch und die Biographien<br />

prominenter politiker. Beispiele dafür sind »die amerikanische<br />

herausforderung« von Jean-Jacques servan-schreiber,<br />

topographien des wohlstands wie »die reichen und die<br />

superreichen« in den usa und in deutschland sowie die reihe<br />

der politischen Memoiren, die 1971 mit willy Brandt begann<br />

und mit den 2006 erschienenen »entscheidungen« von gerhard<br />

schröder sicher nicht beendet ist. auch mit erzählenden<br />

sachbüchern wie hoimar von dithfurts »am anfang war der<br />

wasserstoff« oder in Buchform verpackter lebenshilfe schaffte<br />

knaus es in die Bestsellerlisten.<br />

trotz der Jagd nach Bestsellern wurde die pflege der großen<br />

literarischen tradition des Verlags jedoch nicht vernachlässigt<br />

und 1972 zudem mit dem systematischen aufbau <strong>eines</strong> wissenschaftsprogramms<br />

begonnen. autoren wie karl popper und<br />

ossip k. flechtheim leisteten dazu ihre Beiträge. Mit einer historisch-kritischen<br />

gesamtausgabe der werke heinrich h<strong>eines</strong><br />

knüpfte hoca 1973 an seine große Vergangenheit an. durch<br />

233


die Übernahme des heinrich-heine-Verlags waren vier Jahre<br />

zuvor nicht nur sämtliche rechte am gesamtwerk des dichters<br />

hans henny Jahnn erworben worden, sondern es war auch das<br />

recht damit verbunden, den Verlag mit dem namen h<strong>eines</strong> zu<br />

schmücken. das kann heute jeder Besucher des Verlags sehen:<br />

thomas ganske ließ vor der Villa am harvestehuder weg eine<br />

stele errichten, die eine große plakette mit dem kopf des dichters<br />

trägt. die von caesar heinemann geschaffene Bronze war<br />

1898 bereits einmal am damaligen domizil des Verlags an der<br />

schauenburger straße enthüllt worden, musste aber 1939 vor<br />

den nazis versteckt und bis kriegsende vor den Bomben gerettet<br />

werden.<br />

der hoffmann und campe Verlag, der im laufe seiner bis<br />

ins Jahr 1781 zurückreichenden geschichte 17-mal die adresse<br />

wechseln musste und zwischen 1911 und 1922 seinen hauptsitz<br />

sogar nach Berlin verlegt hatte, kann nun schon seit über<br />

einem halben Jahrhundert einen festen standort an der hamburger<br />

außenalster vorweisen. seit den fünfziger Jahren residierte<br />

er in einer rot verklinkerten Villa im klassischen Bauhaus-stil<br />

zwar »standesgemäß«, aber in drangvoller enge. 1991<br />

bezog hoca direkt dahinter einen neubau, der sich so geschickt<br />

in das parkähnliche gelände schmiegt, dass er trotz<br />

seiner größe nicht dominiert, sondern zu einer fortsetzung<br />

der historischen Villenarchitektur mit modernen ausdrucksformen<br />

geriet. gelöst hat die schwierige aufgabe der frankfurter<br />

architekt Jochem Jourdan, der zuvor schon in hohenhaus<br />

die ehemalige remise des gutshauses mit viel einfühlungsvermögen<br />

in ein exklusives hotel verwandelt hatte.<br />

nun versuchte er im auftrag von thomas ganske, ein Verlagsgebäude<br />

zu errichten, das sich nicht nur in das historische<br />

ensemble einfügte und den Mitarbeitern eine menschenfreundliche<br />

umgebung bot, sondern zugleich auch ein spiegel der<br />

unternehmenskultur sein sollte, ein baulicher ausdruck für<br />

ein weltoffenes kommunikationsunternehmen, das auf seine<br />

2<strong>34</strong>


geschichte stolz und für die Zukunft offen ist. »wir haben uns<br />

dafür viel Zeit genommen, viel mehr, als das heute bei immobilien<br />

üblich ist«, schildert karl udo wrede, der im Vorstand<br />

der gruppe für die Bereiche handel und treasury zuständig<br />

ist, den ablauf. »thomas ganske wird oft nachgesagt, dass er<br />

sehr zögerlich sei. ich sehe es anders. Bei ihm muss es eine ausgereifte<br />

lösung sein. wenn sie einmal gefunden ist, dann wird<br />

sehr zügig gehandelt und investiert.« Vielleicht sei in diesem<br />

fall anfänglich sogar zu stark investiert worden, räumt wrede<br />

ein. »aber dafür ist eine Qualität entstanden, die für Jahrzehnte<br />

trägt.« das passt zu der philosophie, die ganske auch<br />

im Zeitschriftengeschäft vertritt: »wir machen tiefwurzler,<br />

keine flachwurzler.«<br />

für die Zeitschriftengruppe dagegen musste schon anfang<br />

der fünfziger Jahre nach einer anderen lösung gesucht werden.<br />

für die rasch wachsende Zahl ihrer Mitarbeiter war in<br />

dem Villenviertel am harvestehuder weg kein platz zu finden.<br />

sinnlich und selbstbewusst<br />

als ende november 2005 das neue Verlagsgebäude des Jahreszeiten<br />

Verlags eingeweiht wurde, wussten selbst die festredner<br />

nicht, warum dies am hamburger poßmoorweg gefeiert wurde –<br />

außer dass der moderne glaspalast neben dem roten Backsteinbau<br />

hochgezogen worden war, den kurt ganske dort Mitte der<br />

fünfziger Jahre hatte errichten lassen. als er damals seine Mitarbeiter<br />

auf die suche nach einem geeigneten standort geschickt<br />

hatte, gab er ihnen dafür vor allem eine Vorgabe mit<br />

auf den weg: das grundstück sollte weder rechts noch links<br />

der alster, sondern nahe ihrer nördlichen spitze liegen. der<br />

grund war simpel: die Boten des lesezirkels, die den östlichen<br />

oder westlichen teil von hamburg bedienten, sollten nicht<br />

ständig um das große hamburger gewässer herumfahren<br />

müssen.<br />

235


derartige gesichtspunkte spielen heute keine rolle mehr.<br />

daher sitzt nur noch die daheim-Zentrale am poßmoorweg.<br />

die filiale, die die abonnenten in hamburg und im umland<br />

versorgt, ist in den stadtteil hammerbrook umgezogen. der<br />

Jahreszeiten Verlag dagegen residiert weiterhin am alten platz,<br />

allerdings wesentlich komfortabler als in vielen Jahren zuvor.<br />

im alten gemäuer war es im laufe der Jahre immer enger<br />

geworden. die Zeiten, in denen Film und Frau von einer so kleinen<br />

Mannschaft konzipiert und redigiert wurde, dass alle zusammen<br />

in einer umfunktionierten wohnung platz finden<br />

konnten, waren schon lange vorbei. aus dem in gold-chamois<br />

gehaltenen glamourblatt war zudem 1969 die petra geworden,<br />

deren redaktion mit ihren aufgaben wuchs. Architektur und<br />

kultiviertes Wohnen, zunächst ein kleiner ableger von Film und<br />

Frau, hatte sich als Architektur & Wohnen zu einer eigenständigen<br />

Zeitschrift entwickelt. die Stimme der Frau machte seit 1957<br />

unter dem neuen titel Für Sie karriere. 1967 war die Zeitschriftenfamilie<br />

des Jahreszeiten Verlags nach einigen Jahren pause<br />

zudem um zu hause erweitert worden. Zwei Jahre später kam Vital<br />

hinzu, und in den siebziger Jahren bereicherte kurt ganske<br />

sein portefeuille um den Feinschmecker und selber machen. ehe<br />

die redaktionen des Jahreszeiten Verlags in ihr heutiges domizil<br />

umziehen konnten, hatte thomas ganske die Zeitschriftengruppe<br />

überdies noch um Country und den Wein Gourmet erweitert.<br />

Zeitweise musste auch für die redaktionen von Tempo und<br />

der Woche ein platz gefunden werden. und weil Zeitschriften<br />

nicht nur von redaktionen gemacht werden, sondern auch anzeigenabteilungen,<br />

Marketing, eine personalverwaltung, eine<br />

rechtsabteilung und nicht zuletzt eine kaufmännische führung<br />

brauchen, herrschte schließlich am poßmoorweg eine<br />

drangvolle enge. das änderte sich erst mit dem umzug 2005.<br />

Vital, die erste Zeitschrift, die nach dem gründungsboom<br />

in den fünfziger Jahren die bisherige palette des Jahreszeiten<br />

Verlags erweiterte, ist eine gebürtige schweizerin. sie war 1966<br />

236


vom hallwag-Verlag in Basel gestartet worden, konnte auf dem<br />

kleinen schweizer Markt aber nicht in die erhofften auflagendimensionen<br />

wachsen. in kurt ganske fand sie aber immerhin<br />

einen adoptivvater. ihm gefiel die publizistische idee, die hinter<br />

Vital steckte. deshalb übernahm er 1969 die Monatszeitschrift,<br />

positionierte sie neu und brachte sie in der zweiten<br />

Jahreshälfte als erste deutsche Zeitschrift mit dem redaktionellen<br />

schwerpunkt »gesundheit« auf den Markt.<br />

ob es daran lag, dass der Jahreszeiten Verlag über so viel geballte<br />

kompetenz im Bereich der frauenzeitschriften verfügte,<br />

oder ob das interesse an gesundheit, Vitalität und lebensfreude<br />

bei frauen deutlicher ausgeprägt ist als bei Männern,<br />

sei dahingestellt. tatsache aber ist, dass Vital seit anbeginn vor<br />

allem von frauen gekauft und gelesen wurde. seit ende der<br />

achtziger Jahre setzte die redaktion daher ganz gezielt auf<br />

themen und konzepte für weibliche leser und entwickelte<br />

Vital zu einer frauenzeitschrift der speziellen art. heute erreicht<br />

sie mit einer auflage von 250 000 exemplaren monatlich<br />

rund 640 000 leserinnen mit themen aus den Bereichen<br />

gesundheit, fitness, anti-aging, ernährung und schönheit.<br />

und ein schuss erotik gehört auch dazu.<br />

Vital war zwar die erste Zeitschrift, die sich ausschließlich<br />

themen rund um gesundheit und körperliches wohlbefinden<br />

widmete, blieb aber nicht auf dauer das einzige Magazin auf<br />

einem Markt, auf dem heute ebenso wie auf allen anderen special-interest-gebieten<br />

ein bunter strauß konkurrierender gazetten<br />

angeboten wird. Vital konnte seine führende stellung<br />

daher nur behaupten, weil es auf dem weg zum heutigen konzept<br />

den sich wandelnden Bedürfnissen und wünschen seiner<br />

leserinnen aufmerksam folgte. während in den siebziger Jahren<br />

noch brav die gesundheit dominierte, drehte sich seit<br />

ende der achtziger Jahre alles um fitness. der damalige chefredakteur<br />

peter ploog brachte es auf die formel: »wir richten<br />

uns an frauen von heute. an frauen, die bewusst leben, die be-<br />

237


wusst genießen. frauen, die wissen, dass man etwas für seine<br />

gesundheit, seinen körper tun muss. und die auch tatsächlich<br />

etwas dafür tun. die aber darüber die schönen dinge des lebens<br />

nicht zu kurz kommen lassen.«<br />

Zu Beginn der neunziger Jahre wurde fitness durch wellness<br />

abgelöst, einen trend, der für frauen wie für anbieter<br />

den Vorteil hat, dass er keine altersgrenzen kennt. wellness<br />

wurde zum publizistischen leitgedanken von Vital. die – wieder<br />

einmal – aus den usa herübergeschwappte Bewegung versteht<br />

wellness als harmonie zwischen körper, geist und seele.<br />

in analogie dazu wurden titel und inhalt des Magazins für<br />

körperbewusste zeitgemäß überarbeitet. da zum Zeitgeist auch<br />

der umweltgedanke gehört, den Vital seit Beginn der achtziger<br />

Jahre hochhält und dem bereits 1985 ein preis gewidmet wurde,<br />

veranstaltete die redaktion 1990 einen design-wettbewerb für<br />

den schönsten wertstoff-container. Bedauerlicherweise hat er<br />

zwar bei den leserinnen, nicht aber bei der deutschen Müllwirtschaft<br />

anklang gefunden, wie die hässlichen container<br />

zeigen, die deutschlands städte und dörfer verunzieren.<br />

ideen rund um haus und garten<br />

um den leserinnen nicht nur journalistische leckerbissen,<br />

sondern auch wissenschaftlich fundierten rat servieren zu<br />

können, wurde das Beraterteam, das die redaktion unterstützt,<br />

im Jahr 2000 zum »wissenschaftlichen Beirat« aufgewertet<br />

und auf 14 und 2004 sogar auf 20 köpfe mit sachverstand auf<br />

gebieten wie fitness, Medizin, kosmetik, psychologie und ernährung<br />

erweitert. »das erfolgsrezept von Vital ist der gelungene<br />

Mix aus wohltuend entspannter unterhaltung und fundiert<br />

recherchierter Berichterstattung«, verrät Jörg hausendorf,<br />

der nach verschiedenen anderen führungsaufgaben seit 2003<br />

als geschäftsführer für den Bereich frauenmagazine im Jahreszeiten<br />

Verlag tätig ist. »Vital hat alles, was frauen brauchen,<br />

238


um sich rundum wohl zu fühlen«, verkündet chefredakteurin<br />

Joy Jensen im internet und erklärt zugleich, welche leserinnen<br />

sie dabei vor augen hat: »wir machen unser heft für moderne,<br />

sinnliche, selbstbewusste und vor allem für kluge frauen.« und<br />

weil man meint, dass die es am liebsten auf englisch hören,<br />

werden sie mit dem satz »wellcome to welness« begrüßt. Vital<br />

kann heute die unangefochtene Marktführerschaft im segment<br />

wellness für sich reklamieren. das erkennt auch die konkurrenz<br />

indirekt an: als gruner+Jahr 2005 ebenfalls vom gesundheitstrend<br />

profitieren wollte und mit dem englischen titel<br />

healthy living auf den deutschen Markt drängte, erschien die<br />

erste ausgabe mit einer titelseite, mit der auch Vital schon in<br />

sehr ähnlicher form um käuferinnen gebuhlt hatte – allerdings<br />

sechs Jahre früher.<br />

leser, die nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihr<br />

wohnumfeld etwas tun wollen, versorgt der Jahreszeiten Verlag<br />

ebenfalls seit Jahrzehnten regelmäßig mit ideen und informationen<br />

– zunächst mit der Zeitschrift Architektur, später zusätzlich<br />

mit zu hause. nachdem kurt ganske bereits während des<br />

krieges mit harriet wegener bewiesen hatte, dass er frauen<br />

viel zutraute, berief er 1969 christa von hantelmann zur chefredakteurin<br />

der damals zweimal jährlich erscheinenden Zeitschrift.<br />

sie war in erster ehe mit albrecht Bürkle verheiratet,<br />

der Merian für die große weite welt geöffnet hatte, ehe er 1958<br />

Verlagsleiter von hoffmann und campe wurde. als ihr Mann<br />

1963 im alter von 47 Jahren einem herzinfarkt erlag und seine<br />

damals 35-jährige frau mit zwei kindern zurückblieb, bot ihr<br />

kurt ganske am grabe ihres Mannes spontan an, im Verlag<br />

eine aufgabe ihrer wahl zu übernehmen. »hinter diesem<br />

knurrigen kerl verbarg sich eine sehr teilnehmende seele«,<br />

sagt die gelernte innenarchitektin, deren erster Mann zu den<br />

wenigen persönlichen freunden gehörte, die kurt ganske unter<br />

seinen führenden Mitarbeitern hatte. »er war ja ein etwas<br />

scheuer Mensch, der öffentliche auftritte mied und sich auch<br />

239


von irgendwelchen feierlichkeiten schnell zurückzog. er war<br />

mit Menschen lieber im kleinen kreis zusammen.«<br />

trotz des großzügigen angebots fiel ihr die wahl einer passenden<br />

beruflichen aufgabe zunächst schwer. christa Bürkle,<br />

wie sie damals noch hieß, hatte kurt ganske und seine familie<br />

vor dem tod ihres Mannes nur auf privater ebene kennengelernt.<br />

alles, was sie über den Verlag wusste, stammte aus den<br />

abendlichen gesprächen mit ihrem Mann. ganske gab ihr daher<br />

zunächst den etwas nebulösen auftrag, dem Verlagssitz an<br />

der außenalster ein »geistiges gesicht« zu geben. während sie<br />

noch darüber nachdachte, wie das in der praxis aussehen<br />

könnte, lud sie der damalige chefredakteur der Für Sie ein, in<br />

seine redaktion zu kommen. »das gab es damals noch, dass<br />

man jemandem einfach sagte: gucken sie doch mal, ob sie das<br />

können.« Von heinz scheibenpflug lernte die innenarchitektin,<br />

wie man eine Zeitschrift baut. das gab ihr den Mut, laut »hier«<br />

zu rufen, als curt und helga waldenburger pensioniert wurden<br />

und auch für Architektur ein neuer kopf gesucht wurde.<br />

weil die Zeitschrift seit 1957 zweimal jährlich als sonderheft<br />

von Film und Frau herausgekommen war, durfte das chefredakteurs-duo<br />

waldenburger 1968 nach dem abschied vom<br />

Mutterblatt noch zwei ausgaben produzieren. danach sollte<br />

daraus ein eigenständiges Magazin werden. im herbst 1968<br />

übernahm christa von hantelmann diese aufgabe und blieb<br />

ihr ein Vierteljahrhundert lang treu. auch nach ihrer pensionierung<br />

fand an der spitze von Architektur & Wohnen, wie das<br />

Magazin seit 1969 hieß, kein »Bäumchen-wechsel-dich« statt.<br />

nach einem kurzen Zwischenspiel wurde die Zeitschrift gute<br />

fünf Jahre lang von wolfgang nagel geführt; seit anfang 1999<br />

zeichnet Barbara friedrich für A&W verantwortlich. es gibt<br />

nicht viele Zeitschriften in deutschland, die bei ihrem 50-jährigen<br />

Jubiläum nur vier chefredakteure lobend erwähnen müssen<br />

– plus der doppelspitze beim start. christa von hantelmann,<br />

die 1992 in den ruhestand verabschiedet wurde, nimmt<br />

240


übrigens immer noch regelmäßig an redaktionskonferenzen<br />

teil, allerdings ohne ihrer nachfolgerin ins handwerk zu pfuschen:<br />

»ich rede nur, wenn ich gefragt werde.«<br />

das zeigt, dass die konzepte, die im laufe der Jahre an der<br />

redaktionsspitze entwickelt wurden, jeweils über eine längere<br />

strecke stimmig waren. deshalb konnte die Zeitschrift in der<br />

Ära christa von hantelmann auch schrittweise von zwei- auf<br />

zunächst drei- und dann viermaliges erscheinen im Jahr umgestellt<br />

werden. seit 1985 kommt das Magazin alle zwei Monate<br />

auf den Markt. im selbstverständnis der redaktion soll<br />

Architektur & Wohnen Qualitäts- und Meinungsführer im segment<br />

der gehobenen wohn- und lifestyle-Magazine sein, spiegelbild<br />

der ästhetischen tendenzen unserer Zeit. Zugleich soll<br />

es auch selbst stilbildend wirken. A&W ist heute in die Bereiche<br />

wohnen, garten, architektur und style gegliedert. der<br />

Bereich style umfasst inhalte wie dekoration, design, antiquitäten<br />

und kunst. Mit diesem konzept findet das Blatt alle zwei<br />

Monate rund 87 000 käufer, die – wie könnte es bei diesem anspruch<br />

anders sein – den bildungsnahen schichten angehören<br />

und überdurchschnittlich hohe einkommen beziehen.<br />

nicht ganz so geradlinig verlief die entwicklung <strong>eines</strong> sprösslings,<br />

der 1988 aus A&W hervorging. weil sie beobachtet hatte,<br />

dass »die lust, auf dem land zu leben« bei den zivilisationsmüden<br />

großstädtern und den sogenannten Besserverdienern<br />

zunahm, koppelte von hantelmann dieses thema als eigenständige<br />

Zeitschrift aus A&W aus. nach dem ersten Countryheft<br />

im november 1988 erschienen im folgenden Jahr drei<br />

und 1990 vier ausgaben. 1991 wurde sogar alle zwei Monate<br />

ein heft auf den Markt gebracht, kam aber bei der Zielgruppe<br />

doch nicht so gut an wie erhofft. denn ein Jahr später verschwand<br />

Country erst einmal still und leise vom Markt. die themen,<br />

die sich mit den freuden des modernen landlebens beschäftigten,<br />

wurden wieder bei A&W untergebracht. erst<br />

sechs Jahre später unternahm man einen neuen anlauf, zu-<br />

241


nächst mit zwei ausgaben. ab 2003 erschien das Magazin für<br />

»ländliche lebensart« auf grund der nun »exzellenten Vertriebsentwicklung«,<br />

wie es in einer internen Mitteilung hieß,<br />

schon wieder alle zwei Monate. und diesmal wurde der geschmack<br />

des »neuen landadels« offenbar getroffen. Mit steigerungsraten<br />

von 11 und 14 prozent gegenüber den Vorjahren<br />

wurde 2003 eine verkaufte auflage von rund 95 000 exemplaren<br />

erreicht. im Jahr darauf waren es schon deutlich über<br />

hunderttausend. dieser erfolg ermutigte zu einem weiteren<br />

ableger, auf neudeutsch line-extension genannt: Country-Garden.<br />

gleich 150 000 exemplare wurden davon gedruckt. die<br />

Zeitschrift für den modernen Bauerngarten konnte sich als eigenständige<br />

auskopplung aber nicht dauerhaft durchsetzen.<br />

dafür, dass es beim zweiten anlauf klappte, hat Verleger thomas<br />

ganske eine recht einfache erklärung: »als wir den ersten<br />

Versuch starteten, war es offensichtlich zu früh für eine solche<br />

Zeitschrift. als wir sie 2003 mit einem nahezu identischen konzept<br />

erneut auf den Markt brachten, wurde sie zu einem erfolg.<br />

Beim ersten Mal stimmte die idee, aber das timing nicht.«<br />

heute bietet Barbara friedrich, die ebenso wie christa von<br />

hantelmann für Country wie für A&W in personalunion verantwortlich<br />

zeichnet, den meist wohlsituierten lesern, die entweder<br />

schon über einen Zweitwohnsitz im in- oder ausland<br />

verfügen oder noch davon träumen, mehr, als nur einen Blick<br />

auf und in die schönsten landhäuser zu werfen. Country gibt<br />

auch rat für deren kauf und einrichtung. den glücklichen Besitzern<br />

steht das Blatt zudem mit tipps für rustikale gastlichkeit<br />

zur seite.<br />

da Zivilisationsflüchtlinge auf Zeit nicht nur im garten graben,<br />

sondern das landleben in vollen Zügen genießen wollen,<br />

vermittelt ihnen die redaktion selbstverständlich auch wissenswertes<br />

über angeln, golfen, reiten und nennt die besten<br />

adressen für ein gehobenes landleben. hinzu kommen praktische<br />

gartentipps, ausgesuchte reportagen über altes hand-<br />

242


werk, über Menschen und tiere, dazu hinweise auf Märkte<br />

und Messen, feste und turniere. ein wohlfühl-konzept für<br />

leute, die sich etwas leisten können. heute sind es alle zwei<br />

Monate über 72 000 käufer und noch mehr leser, die sich regelmäßig<br />

über die freuden des landlebens und – wie man<br />

diese noch steigern kann – informieren wollen. kein wunder,<br />

dass 29 prozent der leser zum typus »luxusorientierter konsument«<br />

gehören und fast ebenso viele über ein monatliches<br />

netto-einkommen von 3500 euro und mehr verfügen.<br />

schöner wohnen – selbstgemacht<br />

ein wenig bescheidener geht es bei den lesern von zuhause<br />

wohnen zu, einer Zeitschrift, die im Jubiläumsjahr des leserkreises<br />

daheim ebenfalls grund hat zu feiern. die fachzeitschrift<br />

rund ums schöne heim konnte 2007 immerhin schon<br />

auf ein 40-jähriges Bestehen zurückblicken. die Zeitschrift für<br />

»individuelle leser, die ihre umgebung mit emotion und Verstand<br />

wahrnehmen und sich entspannt einrichten wollen«, erschien<br />

erstmals 1967. heute wird sie mehrheitlich von leuten<br />

gekauft, deren haushaltseinkommen netto unter 2000 euro<br />

liegt. der kreis ist daher deutlich größer als die gruppe, die<br />

sich exklusive landhäuser leisten kann. allerdings gehören 16<br />

prozent zu denen, die mehr als 3500 euro im Monat zur Verfügung<br />

haben und sich deshalb zumindest schon den traum von<br />

einem traumhaus gönnen wollen.<br />

<strong>eines</strong> allerdings haben die aufsteiger und die bereits etablierten<br />

gemeinsam: es sind nach Marktuntersuchungen Menschen,<br />

die »viel leisten und im ausgleich dafür eine ganz besondere<br />

lebens- und wohnqualität suchen«. die redaktion<br />

will sie dabei mit tipps und Beispielen unterstützen. ihre Vorschläge<br />

richten sich an leute, die auf eine stilsichere einrichtung<br />

wert legen und bereit sind, dafür Zeit und auch geld zu<br />

investieren. reportagen, die Menschen und ihre wohnungen<br />

243


zeigen, und anregungen von renommierten innenarchitekten<br />

sollen ihnen dafür die notwendigen anregungen liefern – zum<br />

Beispiel mit exklusiven deko-ideen von silvia lafer. die frau<br />

des bekannten fernseh- und sternekochs bietet ihre schönsten<br />

Blumen-dekorationen den lesern zur nachahmung an. Jette<br />

Joop gibt tipps rund um schmuck, wohnen und Mode. Über<br />

ihren persönlichen wohnstil schreibt sie im wechsel mit der<br />

gestaltungsexpertin Brigitte von Boch, die ihre erfahrungen<br />

als Buchautorin, hotelbesitzerin, hausfrau und Mutter preisgibt.<br />

die redaktion will sinnlichkeit und Ästhetik mit service,<br />

kreativität und kompetenz verbinden. fast 200 000 abonnenten<br />

und käufer finden das gut und greifen auch gern zu den<br />

regelmäßig erscheinenden extras, die ihnen die redaktion beschert,<br />

ohne dafür extra etwas zu verlangen: Balkon & Garten<br />

oder Anbau – Umbau lauten die titel der schwerpunkthefte. andere<br />

versprechen Bad & Ideen, geben tipps rund um Küche &<br />

Gäste oder bieten einen Großen Ratgeber Licht. die extras werden<br />

zusammen mit dem Mutterblatt geliefert, entweder eng verbunden<br />

durch eine Banderole oder gemeinsam eingeschweißt<br />

in eine plastikhülle. dass chefredakteurin regine kuhlei in<br />

den 40 Jahren, in denen zuhause wohnen dem geneigten publikum<br />

ideen rund um das gepflegte heim ins haus liefert, nur<br />

vier Vorgänger hatte, ist ein deutliches indiz dafür, dass der<br />

Verlag mit deren konzepten und publizistischen erfolgen zufrieden<br />

war.<br />

ein themenbereich rund um das eigene heim kam sogar<br />

so gut an, dass daraus ein eigenes Blatt entstand. ab 1975 kam<br />

zunächst alle zwei Monate das sonderheft zuhause mach’s selbst<br />

in die kioske. seit 1978 erscheint das ratgeberblatt unter dem<br />

titel selber machen monatlich als eigene Zeitschrift. die Bastler-<br />

Bibel ist heute das auflagenstärkste do-it-yourself-Magazin,<br />

nicht nur in deutschland, sondern auch in europa. allein in<br />

der Bundesrepublik finden jeden Monat 130 000 exemplare<br />

244


ihren käufer und fast siebenmal so viele nutzer. die 870 000<br />

vorwiegend männlichen leser nutzen die ideen und Bauanleitungen<br />

rund um haus, wohnung und garten oder erweitern<br />

ihr Basiswissen. nicht einmal vor »autos für selbermacher«<br />

schreckt die Bastlergemeinde zurück, wie ein 100 seiten<br />

starkes extra vom november 2005 beweist.<br />

weil die kleinen und großen arbeiten in haus und garten,<br />

die reparaturen am auto oder computer keine grenzen kennen<br />

und heimwerker überall in europa für die gleichen probleme<br />

und aufgaben nach lösungen suchen, werden die inhalte<br />

von selber machen seit 1990 europaweit vermarktet – zunächst<br />

in ungarn unter dem titel fifika plusz, später auch in polen,<br />

griechenland, italien, spanien oder tschechien. inzwischen<br />

erscheint das ideenblatt für tüftler in 17 ländern, darunter<br />

auch außereuropäischen wie china und israel. wer als tourist<br />

den titel in der jeweiligen sprache nicht wiedererkennt, kann<br />

am markanten diY-logo, das alle ausgaben ziert, die Verbindung<br />

zum deutschen Vorbild erkennen.<br />

Man reist nicht nur, um anzukommen<br />

Zu den letzten Zeitschriften, die kurt ganske auf den weg<br />

brachte, gehört Der Feinschmecker. den titel hatte er von dem<br />

bekannten kochbuchautor arne krüger übernommen, der<br />

mit seinen Vorschlägen für eine abwechslungsreiche küche<br />

mehr erfolg hatte als mit dem rezept für eine eigene Zeitschrift.<br />

das 1960 gegründete Blatt hatte es nie auf mehr als<br />

6000 leser gebracht – zu mager für eine Zeitschrift rund ums<br />

gute essen. kurt ganske wollte daraus ein Magazin machen,<br />

das seine leser über den rand des kochtopfs hinausblicken<br />

ließ. Jochen karsten, der als assistent bei ganske begonnen<br />

und danach unter anderem als redakteur von Merian im hause<br />

gearbeitet hatte, erhielt 1975 den auftrag, dafür ein konzept<br />

zu entwickeln. Zusammen mit seinem kollegen Jürgen arnold,<br />

245


der 30 Jahre später das gourmet-Blatt immer noch als chef<br />

vom dienst betreute, löste karsten diese aufgabe an einem<br />

wochenende.<br />

etwas länger dauerte es, bis aus der idee eine erfolgreiche<br />

Zeitschrift wurde. wie viele gute Journalisten, die eine publizistische<br />

Vision umsetzen wollen, hatte er sich zunächst über<br />

die »Zielgruppe« und die wünsche potenzieller anzeigenkunden<br />

wenig gedanken gemacht, sondern stattdessen ein Blatt<br />

konzipiert, das seinen Vorstellungen von einem anspruchsvollen<br />

Magazin für essen, trinken und genussvolles reisen<br />

entsprach. »unterhaltend und kritisch sollte es sein, mit einer<br />

genießerischen Balance aus kulinarischen reisethemen, hotel-<br />

und restauranttests, porträts von Meisterköchen und ihren geheimen<br />

rezepten. er dachte an reportagen über weingüter<br />

und weinregionen, plante Vergleichstests der besten weine als<br />

Blindverkostung ohne ansehen von herkunft und preis. produkte<br />

rund um das thema sollten vorgestellt werden, ideen<br />

für küche und lebensart.« so beschrieb er emanuel eckardt<br />

seine damaligen ideen.<br />

den Bedenkenträgern im Verlag schmeckte dieses Menü<br />

aber überhaupt nicht. den Verlauf der debatte hat Jochen<br />

karsten, der 2005 kurz vor seinem 80. geburtstag starb, eckardt<br />

für dessen kurt-ganske-Biographie noch schildern können:<br />

auf der entscheidenden sitzung machte eine ganze riege von<br />

Verlagsmanagern front gegen die idee, ein Magazin für die<br />

feine lebensart auf den Markt zu bringen. einer nach dem anderen<br />

erklärte, warum das konzept nichts tauge, warum eine<br />

Zeitschrift für gourmets in deutschland keine chance habe<br />

oder das risiko <strong>eines</strong> teuren fehlschlags zu hoch sei. nur Michael<br />

ganske war auf karstens seite. kurt ganske, der mit zunehmendem<br />

alter immer schweigsamer und für seine Mitarbeiter<br />

schwer durchschaubar geworden war, sagte zu allem kein<br />

wort. karsten musste deprimiert zuhören, wie seine ideen systematisch<br />

in die tonne getreten wurden. als sich kg schließ-<br />

246


lich doch noch äußerte, beschränkte er sich auf drei worte:<br />

»Mir gefällt es.« damit war die sitzung beendet.<br />

»das konzept ist gut«, sagte er im hinausgehen zu karsten,<br />

der immer noch nicht glauben konnte, dass seine wochenendarbeit<br />

nicht vergeblich gewesen war. »Jetzt müssen sie nur noch<br />

einen chefredakteur suchen.« die antwort von Jochen karsten<br />

fiel ebenfalls sehr kurz aus: »der steht vor ihnen.« kurt<br />

ganske überlegte nicht lange: »dann machen sie es.« da der<br />

Verleger es dennoch nicht riskieren wollte, viel geld zum fenster<br />

hinauszuwerfen, zog sich die testphase in die länge. nachdem<br />

der Feinschmecker im herbst 1975 erstmals mit einer startauflage<br />

von 100 000 exemplaren erschienen war, wurden die<br />

deutschen gourmets und der etat erst einmal auf schonkost<br />

gesetzt. in den ersten zwei Jahren kam nur alle vier Monate ein<br />

heft auf den Markt, ab 1986 erschien er alle zwei Monate, und<br />

erst seit anfang 1989 liegt jeden Monat ein neuer Feinschmecker<br />

auf den tisch. etwas frugal war zunächst auch die präsentation.<br />

»wenn man sich die ersten ausgaben ansieht, wirkt das<br />

Blatt schon recht bescheiden, ohne die aufwendigen fotos, die<br />

wir heute haben, auf einfacherem papier gedruckt und ohne<br />

die fülle von informationen, die wir inzwischen den lesern<br />

bieten«, urteilt Madeleine Jakits, die seit 1997 die redaktion<br />

leitet.<br />

doch schon in den 14 Jahren, in denen Jochen karsten als<br />

Blattmacher die richtung vorgab, hatte sich ein ständiger wandel<br />

vollzogen, und mit dem wachsenden erfolg des genießer-<br />

Magazins konnte er seine ideen immer perfekter umsetzen.<br />

schon im herbst 1976 erschien eine liste der besten restaurants<br />

in deutschland. nach einschätzung der redaktion verdienten<br />

damals genau 27 etablissements diesen titel. erst<br />

zehn Jahre später wagte man sich an eine punktbewertung heran,<br />

die die gourmet-tempel zusätzlich in eine rangfolge<br />

rückte. im august 1994 wurde Qualität zum globalen thema:<br />

Der Feinschmecker präsentierte eine aktuelle liste der »100 bes-<br />

247


ten weine der welt«. wer argwöhnte, dass sich die redaktion<br />

mit solchen Veranstaltungen eine kompetenz zumesse, die sie<br />

nicht besitze, musste dieses urteil spätestens 1997 revidieren,<br />

denn da wurde das Magazin im australischen adelaide bei der<br />

Vergabe der »world food Media awards« als beste foodzeitschrift<br />

ausgezeichnet.<br />

dass Madeleine Jakits der wein ein besonderes anliegen ist,<br />

zeigt sie nicht nur im gespräch und an dem stellenwert, der<br />

den edlen gewächsen im Feinschmecker eingeräumt wird. es<br />

wird auch daran deutlich, dass sie mit ihrer redaktion viermal<br />

im Jahr den Wein Gourmet mit themen rund um wein und lebensart<br />

kredenzt und damit den geschmack von über 40 000<br />

freunden <strong>eines</strong> guten tropfens trifft. wer sich vom urteil der<br />

kenner überzeugen lässt, erfährt nicht nur, wo und wie sich<br />

die gewünschte Zahl von flaschen bestellen lässt. detaillierte<br />

karten und wegbeschreibungen weisen ihm in beiden Magazinen<br />

den weg direkt zu den winzern. denn so wie schon goethe<br />

nicht bloß reisen wollte, um anzukommen, so sollten genießer<br />

nach Meinung von Jakits nicht nur in die weinregionen<br />

fahren, um günstig einzukaufen. die reise selbst sollte für den<br />

weinkenner und feinschmecker ein erlebnis sein. deshalb unterscheidet<br />

sich der Feinschmecker von anderen Zeitschriften,<br />

die sich der suche nach irdischen genüssen verschrieben haben,<br />

nicht zuletzt dadurch, dass er sich auch als reisezeitschrift<br />

der besonderen art versteht, als ratgeber für Menschen, die<br />

individuell reisen, nicht für touristische hammelherden. die<br />

über 800 000 leser, die den Feinschmecker Monat für Monat<br />

goutieren, leben daher zu 90 prozent in haushalten, die monatlich<br />

3000 euro und mehr springen lassen können. Bemerkenswert:<br />

die genießer sind mehrheitlich genießerinnen. frauen<br />

sind innerhalb der leserschaft leicht in der Überzahl.<br />

Madeleine Jakits selbst ist ein lebender Beweis dafür, dass<br />

wein nicht mehr nur Männersache ist. als nachweis dafür,<br />

dass in der ganske-gruppe auch frauen als Blattmacher eine<br />

248


chance haben, muss sie allerdings nicht herhalten. denn anders<br />

als zur Zeit von harriet wegener, ilse tönnies oder christa<br />

von hantelmann sind chefredakteurinnen längst nicht<br />

mehr ausnahmeerscheinungen in einer Männerwelt. eher müssen<br />

die Männer sich fragen, wie groß ihre chancen sind, es<br />

im Jahreszeiten Verlag bis an die spitze einer redaktion zu<br />

schaffen. »wir sind inzwischen im Verlag in der Mehrheit«,<br />

stellt Jakits fest. »ich weiß nicht, warum thomas ganske so<br />

stark auf frauen setzt. aber es ist eine tatsache.« es könnte<br />

natürlich einfach an der Qualifikation der kandidatinnen<br />

liegen.<br />

auch der geistige Vater des Feinschmecker hatte nichts dagegen,<br />

nach dieter ebert und wolf thieme eine frau auf seinem<br />

stuhl zu sehen. für Madeleine Jakits war Jochen karsten<br />

ein »väterlicher freund«, der seinen rat gab, wenn sie ihn<br />

wünschte – und sie fragte ihn gern, weil sie spürte, dass er immer<br />

helfen, sich aber nie ungebeten einmischen wollte. Ähnlich<br />

wie christa von hantelmann und viele andere ehemalige<br />

Mitarbeiter blieb er seinem Blatt und dem Verlag auch im ruhestand<br />

eng verbunden – wenn der Begriff »ruhe« in diesem fall<br />

angemessen ist. denn bis kurz vor seinem tod erschien der<br />

pensionär noch regelmäßig in der redaktion und nahm den<br />

kollegen zeitraubende arbeiten ab – wie zum Beispiel die ausführliche<br />

Beantwortung von leserbriefen. er sagte auf wunsch<br />

seine Meinung und freute sich, dass die redaktion neue wege<br />

zum leser und in die Öffentlichkeit erschloss, indem sie eine<br />

eigene »event-kultur« entwickelte.<br />

was damit gemeint ist, erläutert Madeleine Jakits nicht ohne<br />

stolz. »unsere werbemittel sind begrenzt. da mussten wir uns<br />

etwas anderes einfallen lassen, um auf uns aufmerksam zu machen.«<br />

das geschieht nicht nur durch öffentlichkeitswirksam<br />

verliehene auszeichnungen für die besten hotels und restaurants.<br />

dazu gehören auch glanzvolle Veranstaltungen wie die<br />

Verleihung der »wein-awards« auf schloss Bensberg. die re-<br />

249


daktion ermittelt mit hilfe ihrer leser auch gerne mal die 500<br />

besten fleischer deutschlands. ein bundesweiter wettbewerb<br />

von hobby-köchen, der mit einem spannenden finale der Besten<br />

in einem first-class-hotel endet, sorgt regional für aufmerksamkeit.<br />

ein event wie die seit 2001 jährlich zelebrierte<br />

olivenöl-Messe »olio« findet bundesweit Beachtung. auf der<br />

zunächst in köln und jetzt in München organisierten schau<br />

stellen rund 100 produzenten aus aller welt und vor allem aus<br />

den anbaugebieten rund um das Mittelmeer ihre spitzenerzeugnisse<br />

vor. einkäufer und private kunden können die verschiedenen<br />

Öle des jeweiligen Jahrgangs wie bei einer weinverkostung<br />

vergleichen und dabei erleben, dass die Vielfalt der<br />

Qualitäten und geschmacksrichtungen bei diesem alten kulturprodukt<br />

kaum geringer ist als bei wein oder käse.<br />

Besuch bei den rheinischen katholiken<br />

während kurt ganskes traum in erfüllung ging, neben und<br />

auch für seinen lesezirkel einen Zeitschriftenverlag aufzubauen,<br />

mit dessen hilfe er seine Mappen selbst dann hätte füllen<br />

können, wenn andere Verleger ihm einmal die Belieferung<br />

verweigert hätten, hatte er mit einem ausflug in die welt der<br />

politischen Zeitungen weniger glück. auf der suche nach einer<br />

druckerei, an der er sich als Zeitschriftenverleger beteiligen<br />

oder die er ganz übernehmen könnte, war er Mitte der<br />

fünfziger Jahre auf die erst 1946 gegründete rhenania druck-<br />

und Verlags gmbh in koblenz gestoßen. sie brauchte dringend<br />

einen geldgeber.<br />

rund um die rhenania war neben der druckerei ein kleiner<br />

Blätterwald entstanden. dazu gehörte Der kleine und unterhaltende<br />

hinkende Bote, der Rheinische Hausfreund oder der Hauskalender<br />

für Frauen, deren titel bereits signalisierten, dass es<br />

sich nicht gerade um Blätter von welt handelte. das glanzstück<br />

in der sammlung wiederum besaß nur eine begrenzte<br />

250


weltsicht. es war der Rheinische Merkur, ein erzkonservatives<br />

Blatt mit einer streng katholischen redaktion und leserschaft,<br />

zu der allerdings so bedeutende köpfe wie der damalige Bundeskanzler<br />

konrad adenauer zählten. wie eng die Verbindung<br />

der schreibenden christen zu ihren glaubensbrüdern in der<br />

politik war, zeigte sich daran, dass paul wilhelm wenger, einer<br />

der Mitbegründer und journalistisch führenden köpfe des<br />

Rheinischen Merkur, sich nicht nur in seinem Blatt für die kanzlerschaft<br />

konrad adenauers eingesetzt hatte, sondern für ihn<br />

zugleich als ghostwriter und Berater tätig war.<br />

durch seinen einstieg bei rhenania beteiligte sich kurt<br />

ganske nicht allein an einem sehr heterogenen unternehmen.<br />

er wurde auch Mitglied <strong>eines</strong> konfliktfreudigen gesellschafterkreises.<br />

denn auch wenn Journalisten und eigentümer der<br />

rhenania gmbh die fahne des glaubens stets hochhielten,<br />

war im umgang miteinander von christlicher nächstenliebe<br />

oft wenig zu spüren. die beiden gründer franz albert kramer<br />

und Josef stein hatten sich wegen einer rundfunksendung<br />

steins bereits nach einem Jahr so gründlich verkracht, dass<br />

stein ende 1947 aus der geschäftsführung herausflog. im folgenden<br />

Jahr entzog ihm die französische Militärregierung aus<br />

politischen gründen die Verlegerlizenz, und ein deutsches gericht<br />

verurteilte ihn wegen falscher anschuldigung und übler<br />

nachrede, später noch einmal wegen öffentlicher Beleidigung<br />

und vorsätzlicher körperverletzung. nicht so handgreiflich,<br />

aber offenbar nicht weniger hitzig ging es in den nachfolgenden<br />

Jahren im gesellschafterkreis zu. darauf deutet nicht<br />

nur der häufige wechsel der handelnden personen, sondern<br />

auch der rege austausch von gesellschafteranteilen hin. dabei<br />

gab es aber immer zwei konstanten: die weltanschauliche und<br />

politische haltung des Blattes und die prekäre finanzielle lage<br />

der unternehmensgruppe.<br />

Zehn Jahre nach ihrer gründung brauchte die rhenania<br />

wieder dringend eine finanzspritze. kurt ganske, der 1956<br />

251


erstmalig persönlich an den Verhandlungen der gesellschafter<br />

teilnahm, erwarb über einen treuhänder am 1. Mai dieses<br />

Jahres die Mehrheit der geschäftsanteile der rhenania druck-<br />

und Verlagsgesellschaft. ihn interessierte zwar vor allem die<br />

druckerei, aber sie war nur im paket zu haben. es gab nämlich<br />

noch einen weiteren interessenten, adenauers »graue eminenz«<br />

hans globke, staatssekretär im Bundeskanzleramt, der<br />

aus der schwarzen wochenzeitung Rheinischer Merkur gern eine<br />

regierungsfromme tageszeitung gemacht hätte. doch das misslang<br />

ebenso wie später der Versuch, einen regierungsnahen<br />

privaten tV-sender zu etablieren. das Zeitungsprojekt scheiterte<br />

am einstieg von kurt ganske, das »adenauer-fernsehen«<br />

am Bundesverfassungsgericht.<br />

so wurde der norddeutsche protestant zum Verleger einer<br />

defizitären katholischen wochenzeitung. die auflage des frommen<br />

Blattes lag damals bei 63 000 exemplaren. das war Mitte<br />

der fünfziger Jahre durchaus respektabel, und der Rheinische<br />

Merkur übertraf damit noch den wichtigsten konkurrenten, die<br />

hamburger Zeit. aber es reichte bei weitem nicht aus, um dauerhaft<br />

über die schwelle der rentabilität zu kommen.<br />

der unbekannte auf dem flur<br />

die druckerei sollte vor allem der herstellung einer eigenen<br />

rundfunkzeitschrift dienen, die ganske seinen lesezirkelmappen<br />

gratis beilegte. als es um die konditionen für den druckvertrag<br />

ging, schickte er seinen damaligen assistenten erich<br />

Marx nach koblenz. der tat auch sein Bestes, um möglichst<br />

günstige konditionen herauszuschlagen – bis ihn sein etwas<br />

besser informierter gesprächspartner darauf aufmerksam<br />

machte, dass durch seine hartnäckigen Bemühungen nur geld<br />

von der einen in die andere tasche umgefüllt werde. schließlich<br />

gehöre die druckerei seinem Verleger. das war für Marx<br />

neu und zugleich bezeichnend dafür, wie kurt ganske seine<br />

252


unternehmen führte, nämlich nach dem prinzip »getrennt<br />

marschieren«. Von vereint schlagen war dagegen nicht die<br />

rede. der Begriff »synergie« gehörte noch nicht zum sprachschatz<br />

deutscher Manager und unternehmer und ist kg sicher<br />

nie über die lippen gekommen. der erste Versuch, wenigstens<br />

eine art »organisationsplan« der gruppe aufzustellen, wurde<br />

erst sechs Jahre später von einem jungen Mann namens erwin<br />

schmitz unternommen.<br />

erich Marx bekam schon bald operative Verantwortung.<br />

1958 wurde er auf Verlangen von kurt ganske in koblenz dem<br />

seit zehn Jahren selbstherrlich, aber glücklos amtierenden geschäftsführer<br />

hans kaufmann zur seite gestellt, ehe der wenige<br />

Monate später das feld ganz räumen musste. was Marx<br />

beim rhenania Verlag vorfand, machte ihm wenig freude. der<br />

Rheinische Merkur entpuppte sich als Millionengrab. durch sein<br />

anspruchsvolles niveau einerseits und die stramm katholische<br />

haltung andererseits war sein leserpotenzial eng begrenzt.<br />

die idee von erich Marx, die schwarze postille mit den ebenfalls<br />

notleidenden protestantischen Blättern Christ und Welt<br />

und Sonntagsblatt zu vereinen und so eine (über)lebensfähige<br />

wochenzeitung mit christlicher grundhaltung zu schaffen,<br />

scheiterte am widerstand von otto B. roegele, dem erzkatholischen<br />

chefredakteur des Merkur. an ihm scheiterte auch so<br />

manche andere anregung des geschäftsführers, das Blatt etwas<br />

lebendiger und weltoffener zu gestalten. »alles, was ich erreichte,<br />

war ein kardinalsroter Balken auf der titelseite«, gestand er<br />

ein halbes Jahrhundert später emanuel eckardt. die wirtschaftlichen<br />

folgen lassen sich unter anderem daran ablesen, dass<br />

das stammkapital des Merkur immer wieder aufgestockt werden<br />

musste und es im gesellschafterkreis wie in einem taubenschlag<br />

zuging. dass im dezember 1962 bei der Muttergesellschaft<br />

rhenania das stammkapital durch eine einlage kurt<br />

ganskes erst auf 1,25 Millionen Mark erhöht und vier Minuten<br />

später wieder auf eine Million herabgesetzt wurde, ist nur <strong>eines</strong><br />

253


der Beispiele dafür, wie prekär die finanzielle situation der<br />

rhenania-gruppe oft war.<br />

obwohl ganske immer wieder geld nach koblenz überweisen<br />

musste, hatte er keine Möglichkeit, auf das redaktionelle<br />

konzept des Rheinischen Merkur einfluss zu nehmen. in die<br />

tagesgeschäfte der redaktion mischte er sich ebenso wie bei<br />

seinen Blättern nie ein, befürwortete aber eine grundsätzliche<br />

kursänderung, um aus der klerikalen ecke herauszukommen.<br />

»Mein Vater wollte die streng katholische ausrichtung korrigieren,<br />

mit der Ökumene als Ziel«, beschreibt sein sohn thomas<br />

die intentionen. tatsächlich hatte ganske aber außer guten<br />

worten keine Möglichkeit, auf das redaktionelle konzept des<br />

Rheinischen Merkur einfluss zu nehmen, da er sich beim kauf<br />

schriftlich verpflichtet hatte, die inhaltliche linie beizubehalten.<br />

deshalb war es für ihn ein großes Ärgernis, dass die katholischen<br />

Bischöfe, für deren anliegen der Merkur unter der leitung<br />

s<strong>eines</strong> chefredakteurs otto B. roegele immer wacker<br />

focht, 1968 viel geld in die hand nahmen, um eine konkurrierende<br />

wochenzeitung zu gründen. Publik gewann zwar rasch<br />

an ansehen, aber ebenfalls nie genügend leser und anzeigenkunden.<br />

nach nur drei Jahren wurde den oberhirten die sache<br />

zu teuer. der fehlbetrag, den die Bischöfe aus dem klingelbeutel<br />

begleichen mussten, war zwischenzeitlich von sechs<br />

auf neun Millionen Mark gestiegen. Publik drohte zu einem<br />

fass ohne Boden zu werden.<br />

diese gefahr sah kurt ganske auch beim Merkur. Vor allem<br />

aber sah der protestant von der waterkant nicht ein, warum er<br />

ein rheinisches katholikenblatt dauerhaft subventionieren<br />

sollte, dessen redaktion sich beharrlich weigerte, aus ihrer<br />

nische herauszukommen. umgekehrt sahen die oberhirten<br />

die gefahr, dass auch noch das letzte schwarze schaf von der<br />

Medienweide verschwinden könnte. Man wurde sich deshalb<br />

handelseinig: im Juni 1976 verkaufte ganske die wochenzei-<br />

254


tung nach zehn mühseligen und verlustreichen Jahren an das<br />

erzbistum köln, das sie seither im Verein mit sieben weiteren<br />

Bistümern am leben erhält. ironie der geschichte: der not<br />

gehorchend fanden der katholische Merkur und die protestantische<br />

sonntagszeitung Christ und Welt schließlich doch noch<br />

zueinander – und wandelten von stund an gemeinsam auf<br />

einem ökumenischen pfad. das Sonntagsblatt hingegen blieb<br />

single und kümmerte einsam vor sich hin. seit 2000 existiert<br />

es nur noch in gestalt von Chrismon, einer kostenlosen monatlichen<br />

Beilage zu liberalen Zeitungen wie Süddeutsche und Zeit.<br />

die koblenzer firmengruppe löste sich so in den siebziger<br />

Jahren langsam in ihre Bestandteile auf. die rhenania-druckerei<br />

war bereits 1971 an die Rhein-Zeitung verkauft worden.<br />

kurt ganske war inzwischen zu der ansicht gekommen, dass es<br />

für ihn wenig sinn hatte, sich mit der investition in eine eigene<br />

druckerei zu belasten. »damit laden wir uns nur probleme<br />

auf«, erklärte er seinem ältesten sohn, der sich als geschäftsführer<br />

des Jahreszeiten Verlags in den siebziger Jahren um die<br />

druckverträge kümmerte. »es ist besser, die probleme von anderen<br />

zu nutzen, um günstige konditionen zu bekommen, als<br />

sich selbst welche aufzuladen«, erinnert sich Michael ganske<br />

an einen der lehrsätze s<strong>eines</strong> Vaters. »er hat uns außerdem<br />

eingeschärft, dass man bei unternehmerischen entscheidungen<br />

immer eine alternative haben muss.« die fehlt, wenn es<br />

um die auslastung der eigenen druckerei geht.<br />

Übriggeblieben vom ausflug an den rhein sind der rhenania<br />

fachverlag und die rhenania Buchhandlung, die sich in<br />

den siebziger Jahren zu quicklebendigen unternehmen entwickelten.<br />

der Buchverlag verdiente sein geld vor allem mit<br />

fachzeitschriften für küche, restaurant und hotel und brachte<br />

Blätter wie Rund um den Pelz unter das interessierte fachpublikum.<br />

gemeinsam mit dem arne Verlag hatte man sich ab 1972<br />

dem einsatz der »neuen Medien« gewidmet und sich an der<br />

herstellung audiovisueller lernprogramme für hotel- und res-<br />

255


taurantmanager versucht. der potenzielle kundenkreis bevorzugte<br />

allerdings weiterhin die gedruckte form, wie sich am absatz<br />

von fachblättern wie Brot und Backwaren, Die Küche oder<br />

Der Hotelfachmann zeigte.<br />

Zukunftspotenzial steckte auch in der rhenania Buchhandlung.<br />

sie hatte bereits 1962 damit begonnen, unter dem werbeslogan<br />

»das billige Buch« einen auf preiswerte angebote spezialisierten<br />

Versandbuchhandel aufzubauen. Zusammen mit<br />

akzente, frölich & kaufmann und Mail:order:kaiser (siehe kapitel<br />

8) spielt der seit 1999 in lahnstein am rhein residierende<br />

rhenania BuchVersand bis heute eine eigene rolle innerhalb<br />

der ganske-gruppe – die es allerdings zu lebzeiten von kg<br />

nach außen gar nicht gab. das von ganske geschaffene firmengebäude<br />

blieb für außenstehende jahrzehntelang fast unsichtbar.<br />

selbst die Mehrzahl der Mitarbeiter wusste wenig bis gar<br />

nichts darüber. diese form des Managements führte nicht nur<br />

bei Verhandlungen über druckverträge gelegentlich zu skurrilen<br />

situationen.<br />

so lag die daheim-Zentrale in hamburg zwar direkt neben<br />

dem Jahreszeiten Verlag, und es gab sogar einen Verbindungsgang,<br />

aber die tür war stets verschlossen. die meisten Mitarbeiter<br />

wussten gar nicht, dass sie unter dem gleichen unternehmensdach<br />

arbeiteten. »wir hatten untereinander keinerlei<br />

kontakt«, erinnert sich albert Buschinski, der schon seit den<br />

sechziger Jahren für daheim arbeitet. deshalb wusste auch<br />

sein kollege wolfgang declair nicht, wer der rundliche kleine<br />

Mann war, dem er einmal sehr spät abends auf dem gang begegnete.<br />

der brummelte nur etwas unverständliches, als er<br />

ihn fragte, was er dort zu suchen habe. doch da der kleine unbekannte<br />

einen schlüssel zu der tür besaß, die daheim vom<br />

Jahreszeiten Verlag trennte, schloss declair messerscharf, dass<br />

es sich wohl doch nicht um einen einbrecher handeln könne.<br />

am nächsten tag klärte ihn sein geschäftsführer auf, dass er<br />

das seltene glück gehabt habe, kurt ganske zu begegnen.<br />

256


helmut Brümmer, der schon als student bei daheim in düsseldorf<br />

jobbte, handelte sich einmal einen gehörigen anpfiff<br />

ein, weil er einer abonnentin, die nicht sofort öffnete, die Zeitschriftenmappe<br />

einfach vor die haustür geworfen hatte. aus<br />

einem Vermerk auf der lieferkarte ging hervor, dass sie nie<br />

zahlte. deshalb sah er keinen grund, sich mit einer so schlechten<br />

kundin viel Mühe zu geben. sein filialleiter hans löber<br />

klärte ihn auf, dass es sich um die schwester des chefs gehandelt<br />

habe. der student war doppelt erstaunt. »Von einem herrn<br />

ganske hatte ich noch nie gehört. Bis dahin glaubte ich, dass<br />

der ganze laden löber gehören würde.« heute ist Brümmer<br />

selbst filialleiter in düsseldorf.<br />

erst thomas ganske machte mit dem führungsprinzip »getrennt<br />

marschieren« schluss – nicht nur, um bis dahin brachliegende<br />

synergien nutzen zu können, sondern auch, weil es<br />

einfach nicht mehr zeitgemäß war. anders als der Militärstratege<br />

carl von clausewitz gelehrt hatte, erlaubte es dieser altbackene<br />

führungsstil nämlich nicht, am ende »vereint zu<br />

schlagen«. aber neue Marschbefehle konnte er erst geben,<br />

nachdem er selbst chef geworden war.<br />

»da muss er jetzt durch«<br />

Über seine nachfolge hat kurt ganske schon früh nachgedacht.<br />

eine Beteiligung von frau und kindern am Jahreszeiten<br />

Verlag, der ihm zuvor zu 100 prozent gehört hatte, war ein erster<br />

schritt, sein haus zu bestellen. die söhne hielten wie er<br />

selbst ab März 1972 jeweils 24 prozent der anteile. frau und<br />

tochter traten mit je 14 prozent in den gesellschafterkreis ein.<br />

danach änderten sich die anteile und die höhe des stammkapitals<br />

noch mehrfach. »aber der erste schritt war der schwerste.<br />

es ist meinem Vater sicher nicht leichtgefallen, sein unternehmen<br />

mit anderen zu teilen – selbst wenn es dabei um die eigene<br />

familie ging«, meint sein sohn thomas. »er war nicht<br />

257


mehr alleinunternehmer, sondern hatte plötzlich gesellschafter<br />

mit eigenen rechten.« ein erbverzicht der kinder gab kg<br />

jedoch die Möglichkeit, die eigentumsverhältnisse und Verantwortlichkeiten<br />

im unternehmen so zu regeln, wie es ihm am<br />

zweckmäßigsten erschien.<br />

seinen ältesten sohn Michael hatte kurt ganske schon kurz<br />

nach dem schulabschluss ins unternehmen geholt. die drei<br />

Jahre jüngere schwester Mareile, die nach einer gartenbaulehre<br />

ihr agrarwirtschaftliches studium als diplom-ingenieur<br />

abgeschlossen hatte, sollte die Bewirtschaftung von hohenhaus<br />

übernehmen, verzichtete aber später aus persönlichen<br />

gründen darauf. auch ihre anteile am Verlag gab sie 1995 ab.<br />

thomas, der 1947 geborene jüngere sohn, studierte in göttingen<br />

und München und erhielt dadurch eine gute Vorbereitung<br />

auf seine künftige aufgabe, wie er meint: »kunstgeschichte,<br />

geschichte, Zeitungswissenschaft – alles, was eine ästhetische,<br />

kulturelle urteilskraft verschafft, ist ein solides fundament für<br />

den Beruf, den ich jetzt ausübe.« die wahl der fächer war aber<br />

auch ein ausdruck der rebellion gegen den dominierenden<br />

Vater. ein betriebswirtschaftliches studium hält er allerdings<br />

auch heute nicht für zwingend. das notwendige rüstzeug zur<br />

führung <strong>eines</strong> unternehmens eignete er sich später selbst<br />

durch die praktische arbeit im unternehmen und mit hilfe<br />

s<strong>eines</strong> Vaters an. »er war ein perfekter lehrmeister, der sein<br />

unternehmen bis ins letzte detail kannte.«<br />

Michael ganske, der 1939 als erstes kind von gerda und<br />

kurt ganske in hohenhaus zur welt gekommen war, hatte<br />

nach der schule zunächst eine druckerausbildung bei richard<br />

gruner in itzehoe absolviert. danach begannen seine lehr-<br />

und wanderjahre in den väterlichen unternehmen, da, wo<br />

auch für seinen großvater das unternehmerdasein begonnen<br />

hatte, bei daheim. um das lesezirkelgeschäft von der pike auf<br />

zu lernen, »bediente« er ebenso wie einst sein Vater, der schon<br />

als schüler die Mappen und gelegentlich auch den kohleeimer<br />

258


zu den abonnenten geschleppt hatte. um erfahrungen zu sammeln,<br />

jobbte er zudem bei befreundeten lesezirkeln. 1967 war<br />

der 28-Jährige für einige Monate chefredakteur des von Film<br />

und Frau zur Modernen Frau mutierten Blattes. er wurde einer<br />

der geschäftsführer des Jahreszeiten Verlags, und 1977 war er<br />

das zeitweise auch bei daheim. da er die »schwarze kunst« erlernt<br />

hatte, interessierte er sich für druckverträge und papierbeschaffung.<br />

er verhandelte geschickt mit lieferanten in<br />

deutschland und finnland und holte zusammen mit einem<br />

günstigen druckvertrag die petra als dreingabe ins haus.<br />

doch es gab nicht nur erfolge zu feiern. es waren schwierige<br />

Jahre, in denen bei den Zeitschriften nicht immer alles<br />

rund lief. der druck auf den jungen Mann, der als sohn des<br />

chefs von den Mitarbeitern, den führungskräften und nicht<br />

zuletzt vom Vater aufmerksam beobachtet wurde, war enorm.<br />

Michael ganske war überdies schon damals ein Mensch, der<br />

sich lieber in der natur als im Büro aufhielt. Mitarbeiter erinnern<br />

sich, dass er konferenzen und Besprechungen gern ins<br />

freie verlegte oder mit ihnen um die alster lief – seine spezielle<br />

art des management by walking. er schätzte kreative arbeiten,<br />

teilte aber nie die liebe s<strong>eines</strong> Vaters zu Zahlen und Bilanzen.<br />

er konnte es nur schwer verwinden, wenn eine neue Zeitschriften-idee<br />

wie Schöner Reisen, die er bis zur nullnummer<br />

entwickelt hatte, am renditedenken der kaufleute scheiterte.<br />

das »rechenhafte« stieß ihn ab. im dritten lebensjahrzehnt<br />

dachte er deshalb immer häufiger darüber nach, ob er darin<br />

seine Zukunft sehen könne. irgendwann, als er sich »im kopf<br />

ganz leer« fühlte, begegnete ihm zudem die Versuchung in gestalt<br />

<strong>eines</strong> chefredakteurs, der ihm ein glas whisky in die<br />

hand drückte. es blieb nicht bei dem einen »absacker«.<br />

es kam zum streit mit dem Vater. »es war eigentlich ein<br />

ganz nichtiger anlass«, erinnert sich Michael ganske. »aber<br />

nun entlud sich plötzlich alles, was sich während einer langen<br />

Zeit zwischen uns aufgestaut hatte.« es war zugleich der anlass,<br />

259


seinem lebensweg eine andere richtung zu geben. er beschloss,<br />

seinen traum in kanada zu verwirklichen. ohne das<br />

land zuvor schon einmal gesehen zu haben, wanderte er 1978<br />

mit seiner familie dorthin aus. die ehe überstand die Belastungen<br />

nicht. Michael ganske suchte die einsamkeit und weite<br />

des landes. er jagte und fischte, lebte zeitweise mit indianern<br />

zusammen. er hat viel von ihnen gelernt, über das leben, die<br />

natur – und auch über den umgang mit seiner krankheit, die<br />

er schließlich besiegte. seine Verbindungen zu den indianern<br />

pflegt er noch heute. sie war zeitweise so eng, dass er bei ihnen<br />

seine zweite frau fand. aber es zeigte sich, dass die kulturellen<br />

unterschiede doch zu groß waren. um dennoch die nähe zur<br />

natur zu bewahren, baute er sich ein haus in der einsamkeit<br />

von Yukon, einer provinz im hohen norden, wo sich nicht nur<br />

die füchse, sondern auch die wölfe gute nacht sagen.<br />

das haus in der wildnis besitzt er immer noch. aber inzwischen<br />

verbringt Michael ganske den größten teil des Jahres<br />

auf einer kleinen farm in British columbia, in einem idyllischen<br />

tal direkt an der grenze zu den usa. seine dritte frau,<br />

mit der er seit Mitte der neunziger Jahre zusammenlebt, stammt<br />

aus china, das sie nach den schrecken der kulturrevolution<br />

verlassen hat. die beiden teilen nicht nur die leidenschaft für<br />

die Jagd und den fischfang in den reißenden Bächen und strömen<br />

des riesigen landes, sondern auch für den gartenbau.<br />

Zusammen mit ling und ihrem über 80 Jahre alten Vater baut<br />

Michael ganske dort rings um sein Bilderbuch-farmhaus eine<br />

Baumschule der besonderen art auf. der schwiegervater, ein<br />

schweigsamer Mann und begnadeter Botaniker, veredelt und<br />

züchtet Ziersträucher, wie sie sonst niemand im lande anbieten<br />

kann – und für die sich im nahe gelegenen Vancouver nach Michael<br />

ganskes Meinung ein riesiger Markt finden lässt. die boomende<br />

Metropole am pazifik ist von Villenvororten umgeben,<br />

in denen es überall grünt und blüht und wo die nachbarn um<br />

die schönsten gärten und die seltensten sträucher wetteifern.<br />

260


Michael ganske bereut seinen entschluss nicht, das enge<br />

Büro gegen die freie natur getauscht zu haben. »ich glaube,<br />

dass auch unser Vater zufrieden ist, wenn er von oben herunterschaut<br />

und sieht, wie sich die dinge entwickelt haben. nach<br />

unserer Versöhnung hat er mir einmal gesagt, dass er selbst<br />

gern nach amerika auswandern würde, wenn er noch jünger<br />

wäre. unsere schwester lebt das leben, das sie sich gewünscht<br />

hat. und damit, wie thomas sein unternehmen führt und weiterentwickelt<br />

hat, ist er sicher ebenfalls einverstanden.«<br />

eine alternative, nach der der unternehmer kurt ganske<br />

bei allen seinen plänen immer suchte, hatte ihm auch bei der<br />

lösung der nachfolgefrage zur Verfügung gestanden. als<br />

sich abzeichnete, dass der ältere sohn seine Zukunft nicht<br />

innerhalb des familienunternehmens sah, holte er den acht<br />

Jahre jüngeren Bruder von der universität und aus München<br />

zurück an die alster. als assistent s<strong>eines</strong> Vaters erhielt er zunächst<br />

einblick in alle Bereiche des komplexen gebildes, das<br />

dieser im Verlauf der Jahrzehnte geschaffen hatte. nachdem er<br />

schon 1972 zusammen mit seinen geschwistern in den gesellschafterkreis<br />

des Jahreszeiten Verlags aufgenommen worden<br />

war, wurde er 1973 auch gesellschafter von hoffmann und<br />

campe. ein Jahr später setzte er dort sein »lernen durch tun«<br />

fort, zunächst als assistent des kaufmännischen geschäftsführers<br />

rüdiger hildebrandt und als Verlagsleiter von Merian.<br />

dort arbeitete er sich in die verschiedenen betriebswirtschaftlichen<br />

Bereiche und funktionen wie anzeigen, Vertrieb oder<br />

controlling ein. als albrecht knaus, der viele Jahre lang das<br />

Buchprogramm mit großem erfolg gestaltet hatte, 1977 das<br />

haus nach heftigen auseinandersetzungen mit seinen kollegen<br />

in der geschäftsführung verließ, um seinen eigenen Verlag<br />

zu gründen, rückte der sohn des Verlegers in die Verlagsleitung<br />

ein – und sah sich dort plötzlich allein gelassen.<br />

ein knappes Jahr nach knaus kamen die beiden anderen<br />

Mitglieder des triumvirats, rüdiger hildebrandt und hans<br />

261


helmut röhring, in thomas ganskes Büro, weil sie unabhängig<br />

voneinander, aber zur selben Zeit angebote anderer Verlage<br />

erhalten und bereits angenommen hatten, wie sie zum gegenseitigen<br />

erstaunen feststellten. röhring kehrte zwar nach<br />

wenigen Monaten reumütig von gruner+Jahr zu hoca zurück,<br />

aber da hatte ganske die durch den gleichzeitigen exodus der<br />

spitzenmanager ausgelöste krise schon hinter sich. die härteste<br />

Bewährungsprobe musste er bereits zwei tage nach der<br />

überraschenden kündigung bestehen. die für den Verlag so<br />

wichtige Vertreterkonferenz stand bevor. die herolde des<br />

Buchs, die beim handel die aktuellen produkte des Verlags anpreisen<br />

und möglichst viele davon verkaufen sollen, waren bereits<br />

durch den abschied von knaus, der sie mit einer langen<br />

reihe von Bestsellern verwöhnt hatte, äußerst beunruhigt. als<br />

sie die nachricht von einem weiteren abschied im doppelpack<br />

erreichte, probten sie den aufstand. sie trauten es dem erst<br />

30-jährigen thomas ganske, dem gerade fast 100 Jahre Berufserfahrung<br />

abhanden gekommen waren, nicht zu, den Verlag<br />

aus dieser krise herauszuführen. nach zwölf fetten knaus-Jahren<br />

sahen sie magere Zeiten auf sich zukommen. sie verlangten<br />

eine garantie-provision.<br />

»dass auf einen schlag die ganze führungscrew von Bord<br />

ging, musste nach außen den eindruck erwecken, dass ich an<br />

diesem aderlass schuld war und der Verlag in einer tiefen<br />

krise steckte. das traf nicht zu. dass ich noch keine großen erfahrungen<br />

vorzuweisen hatte, war hingegen nicht zu bestreiten«,<br />

räumt thomas ganske ein. dennoch wusste er, dass er einer<br />

solchen forderung auf keinen fall nachgeben durfte. »es<br />

war eine sehr schwierige situation, und mein Vater hätte allen<br />

anlass gehabt, da hineinzugrätschen.« aber er tat es nicht.<br />

während der sohn die halbe nacht mit den rebellierenden<br />

Vertretern rang, weil die erfüllung ihrer forderung für den<br />

Verlag eine tödliche gefahr heraufbeschworen hätte, besuchte<br />

der Vater seine schwiegertochter Veronika. »das ist eine sehr<br />

262


schwierige situation für thomas. aber da muss er jetzt durch.<br />

das muss er alleine schaffen.« dann sprach er über andere<br />

dinge. als der sohn am frühen Morgen endlich nach hause<br />

kam, berichtete ihm seine frau von dem gespräch, aber auch<br />

davon, dass »kg voll hinter dir steht«. da wusste er, dass er sich<br />

auf seinen Vater verlassen konnte – und auch, dass der bereit<br />

war, ihm viel freiheit zu gewähren. auch die freiheit, fehler zu<br />

machen. deshalb fühlte er sich »richtig glücklich«, als er nach<br />

seinem bis dahin längsten und schwersten arbeitstag endlich<br />

zu Bett gehen konnte.


siebentes kapitel<br />

1oo Jahre und kein<br />

Bisschen MÜde


a ls daheim 1982 zum vierten Mal ein »rundes« firmenjubiläum<br />

feierte, rückte das mit Zahlenangaben sonst nicht<br />

gerade großzügige unternehmen mit einigen beeindruckenden<br />

kalkulationen heraus: pro Jahr wurden 1,5 Millionen erstmappen<br />

zusammengestellt. Zusammen wogen sie 5000 tonnen.<br />

das ließ sich in das gewicht von 850 ausgewachsenen<br />

elefanten umrechnen. alle Zeitschriften dieser Mappen hintereinandergelegt<br />

ergaben eine strecke von 4500 kilometern.<br />

das entsprach der entfernung von hamburg bis spitzbergen.<br />

hätte man sie stattdessen aufeinandergestapelt, wäre daraus<br />

ein turm von 88 kilometer höhe geworden. da sie aber in<br />

wirklichkeit von den Boten breit im land verteilt wurden, war<br />

eine andere rechnung realistischer: auf dem weg zum kunden<br />

legten alle Zusteller dabei pro Jahr 4,3 Millionen kilometer<br />

zurück – und fuhren so zusammen mehr als hundertmal<br />

um die erde.<br />

das war alles recht eindrucksvoll, sagte aber wenig über das<br />

unternehmen aus. wer dagegen die 1,5 Millionen erstmappen<br />

durch 52 wochen teilt, kommt auf eine Zahl, die weit mehr<br />

über die leistung in den vergangenen Jahren aussagt. denn<br />

dann zeigt sich, dass die daheim lieferservice gmbh im Jubiläumsjahr<br />

wöchentlich fast 29 000 aktuelle Mappen auslieferte.<br />

das bedeutete, dass der stand von 1955 wieder erreicht worden<br />

war – trotz aller turbulenzen, durch die die Branche in den<br />

Jahren zuvor gegangen war. Man hatte also allen grund, 1982<br />

endlich einmal einen »runden geburtstag« angemessen zu<br />

feiern. so geschah es auch. wie es sich für ein hanseatisches<br />

267


unternehmen gehört, fand die feier des leserkreises daheim<br />

auf der »wappen von hamburg« statt. geladen waren kollegen<br />

aus der Branche, repräsentanten der Verlage, mit denen<br />

man seit Jahrzehnten zusammenarbeitete, ausgewählte kunden,<br />

Mitarbeiter und 20 pensionäre, die ihrem unternehmen<br />

25 Jahre und länger die treue gehalten hatten.<br />

gastgeber war aber nicht kurt ganske, sondern sein sohn<br />

thomas. dem unternehmer, der den von seinem Vater gegründeten<br />

Betrieb groß gemacht und später um die keimzelle herum<br />

eine vielgestaltige <strong>Verlagsgruppe</strong> aufgebaut hatte, war es<br />

nicht vergönnt, den 75. geburtstag s<strong>eines</strong> unternehmens zu erleben.<br />

der schwer zuckerkranke Verleger, der sich um die ratschläge<br />

seiner Ärzte nie sonderlich gekümmert hatte, war drei<br />

Jahre vor dem Jubiläum, am 20. März 1979, in hohenhaus in<br />

den armen seiner frau gerda gestorben. nun erinnerte sein<br />

sohn an seine unternehmerische leistung und insbesondere<br />

auch an die Bedeutung, die kurt ganske dem prinzip der<br />

»kontinuität« beigemessen hatte. »dieser grundsatz verlangt<br />

allerdings den engagierten unternehmer. er steht in krassem<br />

gegensatz zu einer von kapitalanlage-interessen bestimmten<br />

geschäftspolitik, die zu finanzholdings und konglomeraten<br />

führt«, betonte thomas ganske. er konnte damals noch nicht<br />

ahnen, dass dieses thema ein Vierteljahrhundert später, beim<br />

100. geburtstag der unternehmensgruppe, eine noch viel größere<br />

rolle spielen würde. denn von neokapitalistischen »heuschrecken«<br />

wusste man damals noch nichts.<br />

wer genau zuhörte, bekam aber schon einen hinweis, wie<br />

sich der neue chef die kontinuierliche weiterentwicklung der<br />

unternehmensgruppe vorstellte. »Bei aller selbständigkeit der<br />

einzelnen unternehmen unserer gruppe sind sie doch durch<br />

gemeinsame interessen verbunden und dadurch stark. auf dieser<br />

linie müssen wir uns weiterentwickeln und jede chance<br />

nutzen.« es sollte noch einige Jahre dauern, bis jeder verstand,<br />

was er damit angedeutet hatte.<br />

268


als die Mauer fiel<br />

in den 75 Jahren seit seiner gründung am 1. april 1907 in kiel<br />

hatte der leserkreis zwei weltkriege, eine hyperinflation und<br />

eine weltwirtschaftskrise überstanden. er hatte schließlich auch<br />

den tiefgreifenden strukturwandel in der Medienbranche bewältigt,<br />

den die elektronischen Medien ausgelöst hatten und<br />

den sie bis heute beeinflussen. der bereits in den zwanziger Jahren<br />

erkämpfte titel des Branchenprimus und weltweit größten<br />

lesezirkels war aber auch in den schwierigsten Zeiten nie gefährdet<br />

gewesen. daran hat sich auch in dem Vierteljahrhundert<br />

danach nichts geändert. auch zu seinem 100-jährigen Jubiläum<br />

am 1. april 2007 konnte sich der leserkreis daheim<br />

weiterhin als »weltmeister« präsentieren. der in deutschland<br />

nach wie vor gehaltene Marktanteil von 25 prozent zeigt seine<br />

tatsächliche Bedeutung allerdings erst, wenn der hintergrund<br />

mit betrachtet wird. denn der abstand zu den wettbewerbern<br />

ist groß: unter den etwa 120 konkurrenten, die es derzeit noch<br />

in deutschland gibt, erreichen selbst die größten unter den<br />

vielen kleinen nur Marktanteile von 6 bis 7 prozent.<br />

diese starke stellung war aber nicht im abonnement zu haben.<br />

sie musste auch in den Jahren nach 1982 immer wieder<br />

neu erobert werden. die taktiken und Marketing-instrumente<br />

wechselten dabei noch häufiger als die geschäftsführer.<br />

als erwin schmitz 1986 in den ruhestand ging, folgte ihm<br />

dieter pieroth. geprägt durch das eigene familienunternehmen,<br />

das nach dem krieg zu einem der führenden weinhandelshäuser<br />

der welt aufstieg und in den sechziger und siebziger<br />

Jahren auch hinsichtlich Mitarbeiterführung und Mitarbeiterbeteiligung<br />

pionierleistungen vollbracht hatte, setzte pieroth<br />

sehr stark auf Mitarbeiterschulung und service. »Qualitätssicherung,<br />

schulung, 100-prozent-service waren damals die kernpunkte«,<br />

erinnert sich heinz-dieter lechte. während Mitarbeiterversammlungen<br />

zur Zeit s<strong>eines</strong> Vorgängers immer noch an<br />

269


den frontalunterricht in der schule erinnerten und die Mitarbeiter<br />

mehr oder weniger stumm und ergriffen den ausführungen<br />

des chefs lauschten, waren unter pieroths Ägide<br />

arbeitsgruppen, diskussionen und teamarbeit angesagt. die<br />

Mitarbeiter sollten selbst den weg zum »100-prozent-service«<br />

entdecken, denn: »die übliche lösung ist die einschaltung <strong>eines</strong><br />

unternehmensberaters, der uns eine fertige lösung auf<br />

den tisch legt, die wir realisieren sollen«, hieß es in einem aufruf<br />

an alle Beschäftigten. »das kostet nicht nur sehr viel geld,<br />

sondern funktioniert auch in den meisten fällen überhaupt<br />

nicht. denn mit einer solchen lösung identifizieren sich die<br />

Mitarbeiter oft nicht.« gegenüber den kunden betonte pieroth<br />

nicht nur den günstigen preis und den bequemen Bezug, sondern<br />

auch die ökologischen Vorteile von Mietzeitschriften: Je<br />

mehr leser das gleiche Blatt nutzen, desto weniger Bäume müssen<br />

für die papierherstellung ihr leben lassen. außerdem garantieren<br />

die lesezirkel eine ordnungsgemäße entsorgung und<br />

wiederverwertung des altpapiers, führte er ihnen vor augen.<br />

Bevor sich das alles in betriebswirtschaftlichen ergebnissen<br />

niederschlagen konnte, griff die polizei ein. es hätte nicht viel<br />

gefehlt, und sie hätte den geschäftsführer in handschellen<br />

aus der Zentrale abgeführt, die damals noch am hamburger<br />

heidberg 7 beheimatet war. hintergrund war ein skandal um<br />

gepanschte weine. Mitte 1985 kam heraus, dass österreichische<br />

winzer ihre gewächse in großem stil mit glykol versetzt hatten.<br />

einiges von der Brühe war auch in die keller der pfälzer<br />

winzer- und weinhändlerfamilie pieroth geflossen. deren alteingesessener<br />

Betrieb war von dem späteren Bundestagsabgeordneten<br />

und Berliner wirtschaftssenator elmar pieroth während<br />

seiner Zeit als junger unternehmer zu einem der größten<br />

weinhandelshäuser der welt ausgebaut worden. Mitte der achtziger<br />

Jahre wurde das erfolgsverwöhnte unternehmen in seinen<br />

grundfesten erschüttert, als sich herausstellte, dass einige<br />

der von ihm angebotenen weine mit glykolhaltiger ware aus<br />

270


Österreich vermischt worden waren. lkd-geschäftsführer dieter<br />

pieroth hatte damit zwar nichts zu tun, doch bis auch der<br />

staatsanwalt davon überzeugt war, dauerte es eine weile. erst<br />

1996 wurde der fall mit der Verurteilung von sechs Managern<br />

der gruppe abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt hatten längst<br />

andere die geschäftsleitung von daheim übernommen.<br />

Zurück auf anfang<br />

ehe er das haus auf so unsanfte art verlassen musste, hatten<br />

pieroth und seine Mitarbeiter noch eine schwere enttäuschung<br />

zu verkraften. als die Mauer fiel, hatte man den »lieben Besuchern<br />

aus der ddr« schon im november 1989 kostenlose leseproben<br />

in die hand gedrückt. in dem beiliegenden Begrüßungsbrief<br />

stellte sich der leserkreis als ein alter Bekannter<br />

vor: »Bis 1950 hatten wir noch neun filialen in der ddr.« diejenigen,<br />

die keine erinnerung an die fünfziger Jahre mehr hatten,<br />

wurden darüber aufgeklärt, dass der »lesezirkel die preiswerteste<br />

und ökologisch sinnvollste weise ist, sich das neueste<br />

aus aller welt ins haus bringen zu lassen«. Verknüpft wurde<br />

das mit einer kleinen Bitte. »wenn ihnen unser willkommensgeschenk<br />

gefällt, geben sie die hefte auch ihren freunden<br />

und Bekannten.«<br />

kaum war die Mauer auch für Besucher aus dem westen<br />

kein hindernis mehr, da rollten auch schon die ersten Vw-<br />

Busse mit Mitarbeitern des leserkreises über die grenze, vollbeladen<br />

mit Zeitschriften und prospekten. »Mit offenen armen<br />

empfangen«, jubelte die Mitarbeiterzeitschrift im Juli<br />

1990 auf der ersten seite und schilderte im inneren des Blattes<br />

unter der Überschrift »filialeröffnung chemnitz – was für ein<br />

tag!«, wie groß nicht nur dort der andrang von interessenten<br />

war. Überall, wo die abgesandten des lkd erschienen, wurden<br />

ihnen die Mappen geradezu aus der hand gerissen. auch<br />

bei den Mitarbeitern selbst war die Begeisterung groß – so<br />

271


groß, dass dieter pieroth sie sogar mahnen musste, über dem<br />

neukundengeschäft in der (noch existierenden) ddr nicht<br />

die alten abonnenten im westen zu vernachlässigen: »Bei aller<br />

euphorie dürfen wir nicht vergessen, was wir an kundenzahl<br />

drüben aufbauen, dürfen wir hier nicht verlieren.«<br />

ein weiser rat, wie sich bald zeigen sollte. ein großer teil<br />

der so schnell gewonnenen kunden im osten ging bald ebenso<br />

rasch wieder verloren. was sich ende der fünfziger Jahre in der<br />

alten Bundesrepublik abgespielt hatte, wiederholte sich nämlich<br />

in ähnlicher weise in den neuen Bundesländern. nach<br />

einführung der d-Mark saß das geld nicht mehr so locker, andere<br />

konsumwünsche schoben sich in den Vordergrund. der<br />

traum, die alten Vertriebsgebiete im osten rasch zurückzugewinnen,<br />

platzte wie eine seifenblase. das allerdings war eine<br />

erfahrung, die auch viele andere machen mussten, als die goldgräberstimmung<br />

einer realistischen einschätzung der lage in<br />

den neuen Bundesländern wich. »da war einfach zu wenig<br />

kaufkraft«, stellt Joachim herbst im rückblick fest. erst seit einigen<br />

Jahren baut er von dresden aus das geschäft wieder<br />

auf.<br />

gute kunden muss man pflegen<br />

nach dem abschied von pieroth übernahm 1991 der gelernte<br />

Buchhändler hermann schmidt, der zuvor als schulbuchverleger<br />

und Mitglied der geschäftsleitung der Büchergilde gutenberg<br />

Management-erfahrung gesammelt hatte, den chefposten.<br />

Zum lesezirkel hatte er schon von kindesbeinen an ein<br />

Verhältnis, da seine eltern die Mappen viele Jahre lang bezogen<br />

hatten. »da war ja nicht nur klatsch und unterhaltung<br />

drin, sondern auch viele informationen rund um politik, wissenschaft,<br />

reisen und kultur.« er hatte aber auch die probleme<br />

kennengelernt, mit denen sich die Verleihbranche in den sechziger<br />

und siebziger Jahren herumschlagen musste. denn auch<br />

272


seine eltern hatten die Mappe abbestellt, als ein fernseher ins<br />

wohnzimmer kam. »das ist ihnen allerdings nicht leichtgefallen<br />

– nicht zuletzt wegen der Zustellerin. es war eine kriegswitwe,<br />

die viele Jahre lang jede woche mit den neuen Zeitschriften<br />

ins haus gekommen war. da gab es schon eine gewisse emotionale<br />

Bindung.« ein erlebnis, aus dem schmidt viele Jahre später<br />

konsequenzen zog.<br />

Zunächst konnte er sich aber keine sentimentalitäten leisten.<br />

als er die Verantwortung übernahm, war wieder einmal<br />

eine strukturreform fällig. unter pieroth war der Vertrieb personell<br />

zu stark gewachsen. Zudem hatten sich schmidts Vorgänger<br />

zwar intensiv um Qualitätsfragen und eine leistungsfähige<br />

edV gekümmert, aber Marketing, kundengewinnung<br />

und vor allem kundenbindung darüber etwas vernachlässigt.<br />

eine der wichtigsten reformen, die schmidt durchsetzte, war<br />

eine neue Zuordnung der Verantwortlichkeiten. Bis dahin gab<br />

es einen niederlassungsleiter Verkauf, der sich zwar um die<br />

gewinnung neuer kunden kümmerte, sich aber nicht dafür<br />

zuständig fühlte, wenn sie nach einiger Zeit wieder absprangen.<br />

der filialleiter dagegen war für eine ordentliche und<br />

pünktliche Belieferung der abonnenten verantwortlich, aber<br />

nicht dafür, ob deren gesamtzahl am Jahresende gefallen oder<br />

gestiegen war. »die schoben sich immer gegenseitig die schuld<br />

zu, wenn die Zahl der Bezieher zurückging.« schmidt beendete<br />

diesen dualismus. »wenn ein filialleiter die gesamtverantwortung<br />

hat, kann er sich nicht mehr herausreden.« schmidt<br />

löste das system der niederlassungen auf, das sich überlebt<br />

hatte, und fasste die filialen in Bezirke zusammen, an deren<br />

spitze seither ein Bereichs- oder regionalleiter steht.<br />

die umstrukturierung war überdies auch mit einem personalabbau<br />

und damit einer spürbaren kostensenkung verbunden.<br />

die Zahl der Vertreter wurde immer weiter reduziert, weil<br />

der früher so erfolgreiche Verkauf an der haustür die hohen<br />

kosten dieser Vertriebsform nicht mehr einspielte. unseriöse<br />

273


drückerkolonnen, die teppiche, Mitgliedschaften in Buchclubs,<br />

kochtöpfe oder produkte aus angeblichen Blindenwerkstätten<br />

feilboten, hatten den direktvertrieb in Verruf gebracht.<br />

schmidt machte den Mitarbeitern klar, dass »es sehr viel<br />

kostengünstiger ist, abonnenten, die man bereits hat, zu halten<br />

als neue zu gewinnen«. neue kunden musste man über<br />

anzeigen und fernsehwerbung, Mailings oder andere kostspielige<br />

Maßnahmen ansprechen. Von »abspringern« dagegen<br />

hatte man die adressen und musste ihnen auch das produkt<br />

»Mietzeitschrift« nicht erst lange erklären. sie kannten es ja.<br />

Man musste nur herausfinden, warum sie abbestellt hatten,<br />

und versuchen, den grund für die unzufriedenheit zu beseitigen.<br />

das konnte am preis liegen, über den man dann verhandeln<br />

musste. die ursache konnte aber auch sein, dass kunden<br />

mit dem inhalt der Mappe unzufrieden waren. dann konnte<br />

man sie auf die wunschmappe hinweisen und ihnen demonstrieren,<br />

wie groß das angebot war, aus dem sie auswählen konnten.<br />

»die wahlmappe war zwar schon früher eingeführt worden,<br />

aber wir haben sie viel gezielter als Verkaufsargument<br />

eingesetzt«, erklärt schmidt.<br />

die erfahrungen im eigenen elternhaus haben sicher mit<br />

dazu beigetragen, dass er die filialleiter dazu anhielt, sich verstärkt<br />

um die rückgewinnung von abtrünnigen kunden zu<br />

kümmern. Jeder, der absprang, wurde telefonisch angesprochen,<br />

angeschrieben oder persönlich aufgesucht. das galt auch<br />

für kunden, die von kleineren konkurrenten beim lkd abgeworben<br />

worden waren. in der Branche hatte es zwar schon immer<br />

als höchst unfein gegolten, sich gegenseitig die abonnenten<br />

abspenstig zu machen, aber nicht jeder hielt sich an die<br />

regeln. der Branchenführer hatte es lange Zeit großzügig<br />

ignoriert, wenn kleinere heimlich in seinem teich fischten.<br />

»die dachten wahrscheinlich, dass wir es angesichts unserer<br />

kundenzahl gar nicht merken, wenn sie uns ein paar kunden<br />

wegschnappen.« damit war jetzt schluss. schmidt erklärte sei-<br />

274


nen Mitarbeitern, dass die Zeit des wegschauens vorbei sei.<br />

wenn abwerbungen beobachtet wurden, machte er den außendienst<br />

mobil. »wir haben die kunden in den meisten fällen<br />

zurückgewonnen, indem wir ihnen günstigere angebote<br />

machten.«<br />

abwehrmaßnahmen allein reichen allerdings nicht aus,<br />

denn mancher kunde lässt sich auch mit den besten argumenten<br />

nicht zurückgewinnen: Ärzte schließen aus altersgründen<br />

ihre praxis, friseure geben ihren salon mangels kunden auf,<br />

saunas oder sonnenstudios machen pleite, kurkliniken stellen<br />

den Betrieb ein, weil die kassen keine patienten mehr schicken.<br />

private Bezieher sterben oder ziehen in einen anderen ort.<br />

Jahr für Jahr geht ein teil der Bezieher endgültig verloren.<br />

deshalb müssen immer wieder neue interessenten gefunden<br />

werden, um die lücken zu füllen. da hilft es, wenn neue angebotsformen<br />

wie fitness-center, schönheitsfarmen oder wellness-hotels<br />

boomen. weil der traditionelle Verkauf über Vertreter<br />

keine rolle mehr spielt, müssen heute aber andere wege<br />

zum kunden gefunden werden. dazu zählen call-center, Mailings<br />

oder der Verkauf über das internet (www.leserkreis.de).<br />

als besonders erfolgreich erweist sich seit langem das Messegeschäft.<br />

das bedeutet, dass Besucher von Verbrauchermessen<br />

wie »du und deine welt« in hamburg, »Berlin, Berlin« oder<br />

der »hafa« in wiesbaden angesprochen und am stand von daheim<br />

auf die Vorteile <strong>eines</strong> lesezirkel-abonnements aufmerksam<br />

gemacht werden.<br />

weniger erfolgreich war ein erneuter Versuch, die Zustellung<br />

von Zeitschriften und Büchern miteinander zu verbinden.<br />

diesmal ging es darum, den kunden Bücher ins haus zu bringen,<br />

die sie nach Belieben aus der Spiegel-Bestsellerliste auswählen<br />

konnten. »aber das haben wir nicht richtig angepackt<br />

und in den test vor allem anwälte und Ärzte einbezogen. außerdem<br />

bin ich wahrscheinlich zu stark von meinen eigenen<br />

lesegewohnheiten ausgegangen«, räumt schmidt ein, der 1997<br />

275


innerhalb der gruppe als geschäftsführer zum Jahreszeiten<br />

Verlag wechselte. »doch das war ohnehin nur ein nebenkriegsschauplatz.«<br />

auch Joachim herbst, der nach zwei weiteren geschäftsführern<br />

im Jahr 2001 bei daheim im chefsessel platz nahm, sieht<br />

die Zukunft des leserkreises in der konzentration auf das<br />

kerngeschäft. »nachdem hermann schmidt die ganzen alten<br />

Zöpfe im Vertrieb abgeschnitten hat, gibt es hier im zentralen<br />

Bereich in hamburg nur noch anzeigenwerbung, Marketing,<br />

edV-organisation, controlling und Verkauf. die ansprechpartner<br />

für die kunden sitzen in den 27 filialen vor ort. ich<br />

hatte das glück, in eine funktionierende organisation zu kommen,<br />

und kann mich ganz darauf konzentrieren, den dienstleistungsgedanken<br />

nach außen zu tragen.« Zu den großen erfolgen<br />

auf diesem weg zählt neben einer reihe von Übernahmen<br />

die gewinnung von Vorzeigekunden wie starbucks coffee<br />

houses. sie bieten ihren kunden, die sich bei einem Becher<br />

kaffee vom einkaufsstress oder dem Ärger im Büro erholen<br />

wollen, seit 2004 die Möglichkeit, die blaumelierten daheim-<br />

Mappen zur hand zu nehmen und in aller ruhe in einer Zeitschrift<br />

ihrer wahl zu blättern.<br />

hundert Jahre nach seiner gründung erreichen der leserkreis<br />

daheim und die vom werbemerkur betreuten lesezirkel<br />

pro woche rund elf Millionen leser. das sind knapp 17 prozent<br />

der gesamtbevölkerung. 40 prozent der Mappen gehen in<br />

die »öffentliche auslage«. da sie bei friseuren und Ärzten, in<br />

cafés oder restaurants für alle Besucher erreichbar sind, führt<br />

dies zu überdurchschnittlich vielen leserkontakten und erhöht<br />

dadurch die für die meisten Zeitschriften so wichtige reichweite.<br />

Bis zu 60 prozent der leseprogramme werden immer<br />

noch an privathaushalte geliefert. sie gelten als intensivleser,<br />

die auf breite information und abwechslungsreiche unterhaltung<br />

wert legen. 54 prozent der lesezirkel-nutzer gehören zu<br />

der altersgruppe zwischen 14 und 49 Jahren und leben in<br />

276


haushalten mit einem netto-einkommen von 2000 euro und<br />

mehr.<br />

die Zeiten, in denen die abonnenten und sonstigen nutzer<br />

von lesezirkelmappen als alt, arm und ungebildet abgestempelt<br />

werden konnten, sind schon lange vorbei. »die sitzen inzwischen<br />

eher vor dem Bildschirm«, meint albert Buschinski,<br />

der langjährige chef der revision. »Zum lesezirkel kommen<br />

heute vorwiegend anspruchsvolle Vielleser mit gutem einkommen,<br />

denen das tV-programm nicht mehr viel zu sagen hat.«<br />

natürlich werden die standard- oder wahlmappen heute<br />

nicht mehr in pappkartons gesteckt, sondern von den Boten in<br />

durchsichtigen tragetaschen geliefert, die für jeden einzelnen<br />

kunden individuell zusammengestellt werden.<br />

die firma bekommt etwas zurück<br />

eine angenehme atmosphäre erleben nicht nur die kunden,<br />

die in einem der breiten sessel bei starbucks bei einem Milchkaffee<br />

oder espresso sitzen und in ruhe eine der ausliegenden<br />

Zeitschriften lesen können. wohl fühlen sich nicht nur die leser,<br />

die in der sauna eine schwitzpause einlegen oder in einer<br />

wellness-oase entspannt zu einer Zeitschrift im blauen umschlag<br />

greifen. auch die Mitarbeiter von daheim fühlen sich<br />

an ihrem arbeitsplatz offenbar recht wohl. denn nicht nur<br />

»alte hasen« wie anzeigenleiter wolfgang declair beschreiben<br />

das Betriebsklima gern mit den worten: »wir sind hier eine<br />

große familie.« das sagen auch jüngere Mitarbeiter auffallend<br />

oft. Ähnlich drückt sich ein Bezirksleiter wie helmut Brümmer<br />

aus, der sehr genau weiß, wovon er redet, da er schon ende der<br />

sechziger Jahre als student beim leserkreis gejobbt hat und<br />

der firma seither treu geblieben ist. auch viele der übrigen<br />

Mitarbeiter sind schon seit Jahrzehnten dabei. Manche stellen<br />

ihre erfahrung dem lkd auch nach der pensionierung gern<br />

zur Verfügung. dazu gehört albert Buschinski, der sich noch<br />

277


als siebzigjähriger um die Übernahme und eingliederung von<br />

Betrieben kümmert, die ihre kunden dem großen wettbewerber<br />

zu treuen händen übergeben. selbst der langjährige Betriebsratsvorsitzende<br />

scheut sich nicht, dem leserkreis zu bescheinigen,<br />

er sei für die Mitarbeiter »im besten sinne des<br />

wortes eine familie«. niemand, der seinen Job ordentlich mache,<br />

müsse sich gedanken um die sicherheit s<strong>eines</strong> arbeitsplatzes<br />

machen, versichert heinz-dieter lechte. und er fügt<br />

hinzu: »die firma bekommt dafür auch etwas zurück«, nämlich<br />

in form von engagement, Verantwortungsbewusstsein<br />

und einsatzbereitschaft. »hier guckt niemand auf die uhr,<br />

wenn viel zu tun ist – aber auch nicht, wenn jemand aus persönlichen<br />

gründen mal früher gehen will.«<br />

werbung, Marketing, Übernahmen und die gewachsene<br />

Bedeutung der öffentlichen auslage haben ihren teil dazu beigetragen,<br />

dass daheim seinen platz in einer sich ständig wandelnden<br />

Medienwelt bis heute behaupten konnte. doch wenn<br />

Joachim herbst 100 Jahre nach der gründung des unternehmens<br />

feststellen kann, dass der leserkreis seinen kundenstamm<br />

in den vergangenen 20 Jahren trotz des strukturwandels<br />

und der Veränderungen im wirtschaftlichen und sozialen<br />

umfeld stabil halten konnte, dann ist dies nicht zuletzt auch<br />

dem engagement der rund 700 teilzeit- und Vollzeit-Mitarbeiter<br />

zu verdanken, die sich »ihrer familie« verpflichtet fühlen.<br />

»ich glaube, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl und das<br />

teamdenken in den letzten Jahren ganz stark zugenommen<br />

hat«, ist herrmann schmidt überzeugt. »Mit familie wird das<br />

gut umschrieben.«<br />

die wurzeln dieser unternehmenskultur reichen tief. wenn<br />

thomas ganske davon spricht, dass sein großvater »im herzen<br />

ein sozialdemokrat war«, dann meint er damit auch die einstellung,<br />

die der ehemalige werftarbeiter richard ganske, der<br />

1907 zum unternehmer wurde, gegenüber seinen Mitarbeitern<br />

hatte. auch sein sohn, der aus einem großen lesezirkel<br />

278


ereits in den zwanziger Jahren den weltweit größten Vertreiber<br />

von Mietzeitschriften machte, war sich immer bewusst, wie<br />

wichtig die Mitarbeiter an der Basis für den erfolg s<strong>eines</strong> unternehmens<br />

waren. »Zu den Boten hatte er immer ein besonderes<br />

Verhältnis, die waren ihm sehr wichtig«, weiß thomas<br />

ganske aus vielen gesprächen. deshalb gerieten auch die ehemaligen<br />

führungskräfte und langjährigen Beschäftigten nicht<br />

in Vergessenheit, die nach dem fall des eisernen Vorhangs im<br />

osten deutschlands eingesperrt waren. seine söhne erinnern<br />

sich, dass ihr Vater sehr berührt war von den Briefen, mit denen<br />

sich die früheren Mitarbeiter für die pakete bedankten,<br />

die seine frau ihnen in die sowjetisch besetzte Zone schickte.<br />

»als er sie las, stellte er sich die frage, ob es nicht auch im<br />

westen unter den Boten, die während oder nach dem krieg in<br />

pension gegangen waren, Menschen gab, die not litten.«<br />

der Verleger ließ die adressen ermitteln. »wir haben uns<br />

damals sehr gewundert, warum er plötzlich alle diese anschriften<br />

haben wollte«, berichtet erwin schmitz. kurt ganske beauftragte<br />

die leitenden Mitarbeiter in den filialen, die rentner<br />

in ihrem Bereich aufzusuchen, ihnen die besten grüße vom<br />

chef auszurichten, einen Blumenstrauß zu überreichen und<br />

ein wenig mit ihnen über die alten Zeiten zu plaudern. das bot<br />

ihnen die gelegenheit, sich ein Bild von der lebenssituation<br />

der rentner zu machen. wenn sie feststellten, dass die ruheständler<br />

finanziell und persönlich ausreichend versorgt waren,<br />

verabschiedeten sie sich nach einer weile wieder. war das nicht<br />

der fall, hatten sie die Möglichkeit, mit Mitteln aus einem<br />

fonds zu helfen, den kurt ganske dafür eingerichtet hatte.<br />

»die emotionale Verbindung zu seinen langjährigen Mitarbeitern<br />

war sehr eng. Mein Vater, der früher die filialen sehr oft<br />

besuchte, kannte viele der älteren Boten. sie blieben dem unternehmen<br />

ja oft jahrzehntelang verbunden«, erklärt thomas<br />

ganske diese fürsorge.<br />

Bitte diese Kolumne um eine Zeile erweitern.<br />

279


1960 wurde die spontane hilfe in form des richard ganske<br />

hilfswerks e.V. institutionalisiert und gleichzeitig für den hoffmann<br />

und campe Verlag ein regelwerk für soziale sonderleistungen<br />

geschaffen. während es dabei vor allem um urlaubs-<br />

und weihnachtsgeld sowie um leistungen bei Jubiläen ging,<br />

gewährte das hilfswerk unterstützung bei heirat, geburten,<br />

todesfällen und in persönlichen notlagen. es war ein eingetragener<br />

Verein, der gemeinsam vom Jahreszeiten Verlag, hoffmann<br />

und campe und dem leserkreis daheim getragen<br />

wurde. da zwei Jahrzehnte später diese hilfseinrichtung nur<br />

noch älteren Mitarbeitern bekannt war, wurden 1983 alle kolleginnen<br />

und kollegen durch den Betriebsrat ausdrücklich<br />

auf den fonds hingewiesen. gleichzeitig wurde eine Betriebsvereinbarung<br />

über die Mitwirkung der arbeitnehmervertretung<br />

bei seiner Verwaltung abgeschlossen. »falls sie also einmal<br />

in not geraten sollten, zieren sie sich nicht, einen antrag<br />

an das richard ganske hilfswerk einzureichen«, wurden die<br />

Mitarbeiter ermuntert.<br />

Bereits 1959 hatte kurt ganske eine Versorgungsordnung<br />

für tourenboten geschaffen. danach baute sich im laufe der<br />

Jahre nach einem punktesystem, das ihre leistungen bei der<br />

Zustellung der Mappen erfasste, ein Betrag auf, der bei erreichung<br />

der altersgrenze oder vorher bei invalidität und tod<br />

an den Berechtigten oder die hinterbliebenen ausgezahlt<br />

wurde. 1979 wurde diese zusätzliche form der altersvorsorge,<br />

die bei erreichen des rentenalters wie eine lebensversicherung<br />

in einer summe ausgezahlt wurde, durch eine von dem<br />

geschäftsführer schmitz und dem Betriebsratsvorsitzenden<br />

lechte unterzeichnete Betriebsvereinbarung noch einmal bestätigt<br />

und an die veränderten wirtschaftlichen und sozialen<br />

Verhältnisse angepasst. eine unfallversicherung garantiert heute<br />

den Boten oder ihren familien bei tod oder invalidität zudem<br />

eine unterstützungszahlung von rund 10 000 beziehungsweise<br />

20 000 euro.<br />

280


kurt ganske war aber nicht nur inhaber des lesezirkels,<br />

sondern auch Verleger. deshalb schuf er in den fünfziger Jahren<br />

für die leitenden Mitarbeiter seiner Zeitschriften- und<br />

Buchverlage eine alters- und hinterbliebenenversorgung. die<br />

einzelheiten hatte sein damaliger assistent werner hess ausgearbeitet.<br />

als die neue pensionsordnung feierlich verkündet<br />

wurde, verliehen ihm die leitenden angestellten für die Verdienste,<br />

die er sich dabei erworben hatte, eine auszeichnung:<br />

sie dekorierten ihn mit einem sperrholzbrett am Band. auf<br />

dem Brett war eine reihe von sicherheitsschaltern montiert.<br />

»damit die sache finanziell nicht aus dem ruder laufen konnte,<br />

hatte ich eine reihe von rechtlichen und wirtschaftlichen<br />

sicherungen eingebaut. davon waren nicht alle begeistert.<br />

aber im interesse des unternehmens war das natürlich erforderlich.«


achtes kapitel<br />

Mit teMpo in<br />

neue diMensionen


d er Spiegel wusste nicht nur mehr als andere. die rechercheure<br />

des Magazins aus der hamburger Brandstwiete<br />

hatten auch geräusche vernommen, die sonst niemand aufgefallen<br />

waren: »Zähneknirschend musste sohn thomas 1979<br />

mit 31 Jahren das imperium übernehmen, nachdem der Vater<br />

gestorben und sein älterer Bruder Michael nach kanada ausgewandert<br />

war«, schrieb das nachrichtenmagazin im april 1996.<br />

auch von anderen, aktuelleren akustischen signalen wusste<br />

das nachrichtenmagazin zu berichten – von einer zitternden<br />

stimme des Verlegers, einem hysterischen lachen des textchefs<br />

und von schluchzern, die aus den reihen der redaktionsmitglieder<br />

kamen.<br />

geräusche dieser oder ähnlicher art mag es durchaus gegeben<br />

haben, als thomas ganske im april 1996 der davon sicherlich<br />

nicht völlig überraschten redaktion mitteilte, dass die<br />

letzte ausgabe der Zeitgeist-illustrierten Tempo bereits erschienen<br />

sei. das heft, an dem sie gerade arbeiteten, werde es nicht<br />

mehr bis zur druckerei schaffen.<br />

dass es dem flippigen Magazin, dessen chefredakteure zuletzt<br />

eine immer geringere halbwertszeit gehabt hatten, wirtschaftlich<br />

nicht gutging, war schon seit längerer Zeit offenkundig<br />

gewesen. insofern konnte die Mitteilung des Verlegers für<br />

die Blattmacher keine große Überraschung mehr gewesen sein.<br />

Überraschend war eher, dass er das Magazin so lange alimentiert<br />

hatte. »eigentlich hätte Tempo schon zwei oder drei Jahre<br />

früher eingestellt werden müssen«, meint thomas ganske im<br />

rückblick selbstkritisch. »aber ich hing an dem Blatt.« des-<br />

285


halb hatte er es lange in der intensivstation gelassen, ehe er es<br />

schließlich doch vom finanziellen tropf nahm.<br />

außerdem: totgesagte leben länger. Zehn Jahre nach dem<br />

einstellungsbeschluss gab der Jahreszeiten Verlag im november<br />

2006 bekannt: »Tempo erhöht erneut auflage und umfang.« es<br />

handelte sich allerdings um eine einmalige sonderausgabe<br />

zum 20. geburtstag (und 10. todestag) der Zeitschrift, »die<br />

längst ein Mythos geworden ist«. gar nicht mythisch, sondern<br />

sehr real war allerdings die startauflage der sonderausgabe<br />

von 240 000 exemplaren und der beeindruckende heftumfang.<br />

er war auf grund des überraschend starken interesses der anzeigenkunden<br />

mehrfach erweitert worden und lag schließlich<br />

bei 380 seiten. »Tempo ist als Zeitschriftenmarke legendär und<br />

heute so bekannt und aktuell wie zum Zeitpunkt der Markteinführung,<br />

als das Magazin zum identifikationsmedium einer<br />

ganzen generation wurde«, freute sich Vertriebsleiter Michael<br />

westerkamp über die welle der nostalgie, die Tempo zehn Jahre<br />

nach der Versenkung nach oben trug. insofern behielt der Spiegel<br />

schließlich doch recht, der 1996 seinen artikel über den<br />

tod des Blattes mit den worten enden ließ: »die leiche lächelt<br />

noch.«<br />

davon, dass thomas ganske die nachfolge s<strong>eines</strong> Vaters<br />

zähneknirschend und widerwillig angetreten hätte, konnte dagegen<br />

keine rede sein. er hatte sich dafür schon längst warmgelaufen,<br />

und kurt ganske hatte ihn rechtzeitig auf die spätere<br />

nachfolge vorbereitet. Mit einer Vollmacht in der hand<br />

schickte ihn der Vater 1976 los, um den notariellen Vertrag<br />

über den Verkauf des Rheinischen Merkur zu unterschreiben,<br />

übungshalber. wenn es um wichtige diskussionen und entscheidungen<br />

ging, ermunterte er ihn: »wenn es dich interessiert,<br />

kannst du immer daran teilnehmen.« das tat er auch.<br />

schon während seiner Zeit an der universität und erst recht<br />

später, als er zunächst als assistent seinen Vaters und dann als<br />

geschäftsführer von hoffmann und campe praktische erfah-<br />

286


ungen sammelte. wenn albrecht knaus nach München kam,<br />

um mit autoren zu verhandeln, oder wenn er andere termine<br />

hatte, bei denen der Junior nach seiner ansicht mehr lernen<br />

konnte als im hörsaal, lud er ihn ein, daran teilzunehmen. so<br />

sammelte thomas ganske erfahrungen, die ihm später als geschäftsführer<br />

von hoffmann und campe sehr zugute kamen.<br />

ihm war auch schon früh klar gewesen, was der Vater von<br />

seinen kindern erwartete. »er hatte ein familienunternehmen<br />

geschaffen und wünschte sich, dass es innerhalb der familie<br />

weitergegeben werden sollte. ursprünglich sollte mein Bruder<br />

den Zeitschriftenbereich übernehmen; meine schwester sollte<br />

das gut bewirtschaften; ich sollte den Buchbereich führen. es<br />

ist nicht so gekommen, wie er es geplant hatte, weil mein Bruder<br />

und meine schwester sich für einen anderen lebensweg<br />

entschieden haben. dagegen hätte mich mein Berufsweg auch<br />

ohne diese Vorbestimmung mit sicherheit in die Medienwelt<br />

geführt. deshalb habe ich es nie als Zwang, sondern immer<br />

als chance empfunden, dass ich die Möglichkeit hatte, diesen<br />

wunsch im eigenen unternehmen erfüllen zu können.«<br />

als sich abzeichnete, dass der ältere Bruder die ihm zugedachte<br />

aufgabe nicht übernehmen würde, bat kurt ganske<br />

1974 den jüngeren sohn, zurück nach hamburg zu kommen,<br />

damit er ihn systematisch auf seine künftige aufgabe vorbereiten<br />

konnte. neben der arbeit bei Merian nahm er an direktoriumssitzungen<br />

und an konferenzen des Jahreszeiten Verlags<br />

teil. weil sich der zuckerkranke senior, der sich um den rat<br />

seiner Ärzte nie sonderlich geschert hatte, immer länger nach<br />

hohenhaus zurückzog oder die einsamkeit s<strong>eines</strong> österreichischen<br />

Jagdreviers suchte, wuchs der Junior schneller als<br />

eigentlich geplant in seine aufgaben hinein. gesellschafterversammlungen<br />

und geschäftsführersitzungen fanden nun<br />

häufiger an den Zufluchtsorten des patriarchen statt. er<br />

scheute die reise nach hamburg, wollte aber bei wichtigen<br />

entscheidungen dabei sein und notfalls das letzte wort haben.<br />

287


»aber aus dem täglichen geschäft hat er sich – bewusst oder intuitiv<br />

– immer mehr zurückgezogen.« damit gab er dem sohn<br />

die Möglichkeit, die Übernahme von Verantwortung zu proben.<br />

»das ging automatisch und unproblematisch.«<br />

kg ließ ihn auch fehler machen, »ganz bewusst«, wie der<br />

sohn heute glaubt. »wenn du meinst, du solltest es tun, dann<br />

mach es«, hieß es oft am ende einer längeren diskussion. und<br />

wenn sich später herausstellte, dass es tatsächlich ein fehler<br />

war, sagte kg meist nur: »siehst du, ich habe es dir ja gesagt.«<br />

thomas ganske ist dennoch überzeugt, dass das, was er gemacht<br />

hat, richtig war – auch wenn er manchmal damit falsch<br />

lag. »für mich war es richtig. es war lehrgeld.«<br />

als kurt ganske 1979 nach kurzer krankheit an einer unstillbaren<br />

Blutung in der speiseröhre starb, war es trotzdem<br />

nicht nur ein persönlicher schock. »es war ziemlich viel kaltes<br />

wasser, in das ich da plötzlich springen musste. wenn der Vater<br />

länger gelebt hätte, wäre der Übergang organischer gewesen.«<br />

erleichtert wurde der wechsel in den chefsessel zwar dadurch,<br />

dass kg den erbübergang gut vorbereitet und sorgfältig durchdacht<br />

hatte. seinen letzten willen hatte er in einem notariellen<br />

testament hinterlegt und zudem alles mit dem designierten<br />

nachfolger besprochen. er hatte auch keinen testamentsvollstrecker<br />

eingesetzt, durch den alles zeitraubender und komplizierter<br />

geworden wäre. es gab keinen führungskampf innerhalb<br />

der familie, der sich – wie es häufig in solchen fällen<br />

geschieht – lähmend auf die unternehmensgruppe hätten auswirken<br />

können.<br />

Zeit des umbaus<br />

dennoch durchlebte der sohn eine unangenehme Zeit. Bis<br />

alle bürokratischen hürden genommen waren, der ganze papierkram<br />

erledigt und alle formalien erfüllt waren, verging<br />

fast ein Jahr. »erst als das alles erledigt war, konnte ich mich im<br />

288


erforderlichen umfang dem operativen geschäft widmen, die<br />

organisationsstruktur der gruppe und den führungsstil überdenken<br />

und mich wichtigen personalfragen zuwenden.«<br />

der Übergang war auch deshalb schwierig, weil kurt ganske<br />

seine unternehmen als einzelbetriebe geführt hatte, die untereinander<br />

kaum kontakte hatten, deren führungskräfte sich<br />

häufig nicht einmal kannten und die oft nur eine vage Vorstellung<br />

davon hatten, welche unternehmen mit zur familie gehörten.<br />

es gab keine gemeinsamen konferenzen, kein Brainstorming,<br />

keine systematische ideenfindung. da zudem viele<br />

führungskräfte über lange Jahre in der furcht des herrn gelebt<br />

hatten, war bei vielen die eigeninitiative verkümmert und<br />

die Bereitschaft unterentwickelt, Verantwortung zu übernehmen.<br />

einwände gegen pläne und entscheidungen, die der Verleger<br />

– allerdings immer erst nach reiflicher Überlegung und<br />

manchmal auch langem Zögern – verkündete, hatten seltenheitswert.<br />

»da gab es keinen ernsthaften widerspruch«, fasst<br />

thomas ganske die erfahrungen aus vielen Besprechungen<br />

und konferenzen zusammen, die er miterlebt hat. »im gegenteil,<br />

viele haben überlegt, wie sie laut sagen könnten, was er<br />

vielleicht nur denkt oder bald selbst sagen würde. die lasen<br />

ihm von den lippen ab.« sein Bruder Michael drückt es so aus:<br />

»es gab in den letzten Jahren zu viele Ja-sager und zu wenig<br />

eigenständige köpfe.« das lag auch an der Überhöhung <strong>eines</strong><br />

chefs, der sich mit zunehmendem alter immer mehr in sein<br />

arbeitszimmer oder sein refugium hohenhaus zurückgezogen<br />

hatte und der selbst für die meisten leitenden Mitarbeiter<br />

unerreichbar fern war.<br />

Zu den wenigen, die sich von der Macht des alleinherrschers<br />

nicht beeindrucken ließen, gehörte georg salinger, der in der<br />

»Villa« über viele Jahre als finanzchef und steuerexperte fungierte.<br />

»der war innerlich unabhängig von meinem Vater, und<br />

wenn er nicht einverstanden war, dann leitete er seine stellungnahme<br />

meist mit den worten ein: herr ganske, da sollten wir<br />

289


vielleicht etwas vorsichtig sein …« auch von seinem sohn ließ<br />

kg sich bei diskussionen unter vier augen kritik gefallen und<br />

nahm ihn als gesprächspartner ernst – allerdings erst, nachdem<br />

es einmal zwischen ihnen ziemlich laut geworden und<br />

schließlich ein porzellanteller an der wand zerschellt war. an<br />

den grund des streits kann sich thomas ganske nicht mehr<br />

genau erinnern, wohl aber daran, dass »wir anschließend weiter<br />

zusammen geredet haben. keiner hat türen geknallt. ich<br />

bin nicht herausgerannt; er hat den raum nicht verlassen.<br />

stattdessen haben wir diskutiert. Von da an war es völlig anders<br />

zwischen uns. Bei mir war die distanz, die Überhöhung<br />

weg, die ich im geschäftlichen Bereich anfänglich auch gespürt<br />

hatte, und mein Vater hat verstanden, dass sein gesprächspartner<br />

kein kind mehr war. Von da an war es richtig schön.«<br />

auch wenn im testament alles klar geregelt war, bedeutete<br />

dies nicht, dass die Mühlen der Bürokratie schneller mahlten.<br />

als thomas ganske nach den quälend langen erbschaftsprozeduren<br />

endlich die Zeit fand, sich das unternehmensgebäude,<br />

für dessen stabilität er nun allein verantwortlich zeichnete, in<br />

ruhe anzusehen, erkannte er bald, dass es höchste Zeit für<br />

eine gründliche renovierung war. auch einige umbauarbeiten<br />

waren überfällig. er diagnostizierte eine totale Verkrustung<br />

der organisation, stellte fest, dass kostenmanagement in<br />

den letzten Jahren vor allem in form von abschneiden, einsparen<br />

und reduzieren stattgefunden hatte und dass in vielen<br />

Bereichen des unternehmens die gefahr bestand, dass »alles<br />

zu tode verwaltet wurde«. doch damals wie heute zeigte er, seinem<br />

Vater damit nicht unähnlich, keine neigung zu hektischer<br />

Betriebsamkeit und zu vorschnellen entscheidungen. es dauerte<br />

noch zwei Jahre, ehe er die Bagger anrollen ließ.<br />

doch als er seine umbaupläne bekannt gab, fielen selbst<br />

spitzenmanager der unternehmensgruppe aus allen wolken –<br />

und manche von ihnen auch aus den oberen stockwerken der<br />

unternehmenshierarchie: am freitag, dem 9. Juli 1982, wur-<br />

290


den die geschäftsführer ulrich fortmann und wilhelm schlame,<br />

die kurt ganske 25 beziehungsweise 11 Jahre zuvor eingestellt<br />

hatte, von der gesellschafterversammlung abberufen. für<br />

sie war in der neuen Verlagsstruktur kein platz mehr. sie vertraten<br />

nach Meinung des jungen chefs zudem zu stark »eigene<br />

interessen«, verteidigten angestammte reviere.<br />

am samstag wurden die nach hohenhaus einberufenen Betriebsräte<br />

und die von der umorganisation betroffenen führungskräfte<br />

über die vorgesehenen Änderungen informiert.<br />

am Montag wurde die neue führungsstruktur etabliert. »es<br />

war generalstabsarbeit. es war zeitlich alles sehr knapp kalkuliert.<br />

aber es hat funktioniert.«<br />

der enge Zeitplan und die neue Verlagsstruktur war ebenso<br />

wie die personalentscheidung ein Vorschlag der unternehmensberatung<br />

scs, die thomas ganske ins haus geholt hatte. auch<br />

deren honorar war sehr knapp kalkuliert. der Verleger hatte<br />

dem Bewerber mit dem niedrigsten angebot den Zuschlag gegeben.<br />

Mehr aufwand hielt er nicht für erforderlich. er hatte<br />

den organisatorischen umbau im grundsatz bereits durchdacht,<br />

ehe er rat von außen einholte. »die wussten genau, worauf<br />

es hinauslaufen sollte. wer mit einem fragezeichen zum<br />

Berater geht, ist verloren«, ist er überzeugt. die Berater sollten<br />

das »ohnehin gewollte nur im einzelnen formulieren«.<br />

gewollt war, die veraltete organisationsstruktur zu verändern,<br />

das unscharfe führungskonzept zu reformieren und die<br />

Verantwortlichkeiten klarer zu regeln. der Jahreszeiten Verlag,<br />

der anfang der achtziger Jahre ein noch stärkeres gewicht innerhalb<br />

der gruppe hatte als heute, war nach sparten organisiert,<br />

die von geschäftsführern geleitet wurden. die sahen die<br />

kleineren objekte als eher lästig an und kümmerten sich vor<br />

allem um die Belange ihrer »flaggschiffe«. Blätter wie A&W<br />

oder Vital besaßen keinen fürsprecher. wenn ein anzeigenaußendienstler<br />

bei einem kunden saß, sprach er erst einmal<br />

über Für Sie oder petra. wenn danach noch Zeit blieb, erwähnte<br />

291


er auch die kleineren Blätter. »das haben wir von einem auf<br />

den anderen tag geändert«, stellt thomas ganske ein Vierteljahrhundert<br />

später fest. »Vorher sparten-, danach objektverantwortung<br />

bis in die geschäftsführung hinein. und die Bereiche<br />

Vertrieb und anzeigen wurden in form einer Matrix<br />

eingebunden.« sie war so geknüpft, dass der Zuständige, der<br />

für das ergebnis der Zeitschrift verantwortlich war, verbindliche<br />

Vorgaben hatte. dadurch wurde das unternehmen insgesamt<br />

unabhängiger von den hauptblättern. »alle hatten jetzt<br />

eine faire chance, und es machte sinn, das portfolio in der<br />

Breite zu fahren.«<br />

im prinzip wird der Jahreszeiten Verlag auch im neuen Jahrtausend<br />

so geführt. später wurden die objekte aber zu gruppen<br />

zusammengefasst, weil dies am anzeigenmarkt zu einer<br />

größere schlagkraft verhilft und die Möglichkeit bietet, gesamtrabatte<br />

zu geben. heute gibt es einen durchgehenden additionsrabatt,<br />

durch den mehr aufträge generiert und die<br />

wahrnehmbarkeit am Markt gesteigert wird. thomas ganske<br />

ist überzeugt, dass sein Vater die notwendigkeit <strong>eines</strong> umbaus,<br />

der für die nächsten 20 Jahre die wichtigste innere reform der<br />

gruppe bleiben sollte, ebenfalls erkannt und die ergriffenen<br />

Maßnahmen gutgeheißen hätte. »aber in seinem alter wollte<br />

er sich das nicht mehr antun.«<br />

eine weitere strategische entscheidung, durch die sich die<br />

struktur der unternehmensgruppe wandelte, ließ sich nicht<br />

übers wochenende umsetzen, gehörte aber zum gesamtkonzept.<br />

es war die bewusste und gezielte »schwächung« der beherrschenden<br />

position, die der Jahreszeiten Verlag bis dahin<br />

innehatte. dies geschah allerdings nicht dadurch, dass der<br />

Zeitschriftenbereich verkleinert wurde. stattdessen wurden<br />

die übrigen Betätigungsfelder gezielt ausgebaut. die devise<br />

»abhängigkeiten verringern« galt aber auch für den Jahreszeiten<br />

Verlag selbst. das Ziel war hier, die starke abhängigkeit<br />

vom wohl und wehe der Für Sie durch stärkung der kleineren<br />

292


titel und die entwicklung neuer objekte zu verringern – auch<br />

wenn nicht jeder schritt in diese richtung immer zum erwünschten<br />

ergebnis führte. das sollte der risikominderung<br />

dienen und insbesondere einer geringeren abhängigkeit von<br />

den Media-umsätzen.<br />

diese langfristige strategie zahlte sich vor und nach der<br />

Jahrtausendwende aus, als im gesamten Markt die anzeigenerlöse<br />

Jahr für Jahr um bis zu 20 prozent einbrachen und selbst<br />

Magazine wie Spiegel, stern oder Capital, die dank ihres glänzenden<br />

anzeigengeschäfts in den neunziger Jahren »aus allen<br />

nähten platzten«, von Magersucht befallen wurden. Manche<br />

verloren in dieser Zeit mehr als die hälfte ihrer anzeigenseiten.<br />

auch der Jahreszeiten Verlag kam dabei nicht ungeschoren<br />

davon. aber da die abhängigkeit der gruppe von den Media-umsätzen<br />

deutlich verringert worden war, litt das<br />

unternehmen, das sich mit reisezeitschriften wie Merian, genießer-publikationen<br />

wie dem Feinschmecker, dem event-Magazin<br />

Prinz, seinen frauenzeitschriften oder den Buchverlagen<br />

und reiseinformationsdiensten vor allem den schönen seiten<br />

des lebens widmet, nicht so stark unter der anzeigenflaute<br />

wie andere häuser. es ruhte inzwischen auf vielen säulen, zu<br />

denen außer daheim nun auch der Buchversand und hoffmann<br />

und campe corporate publishing gehörten.<br />

Zeit des ausbaus<br />

wenn kurt ganske – wie sein ältester sohn vermutet – gelegentlich<br />

von oben herunterschaut, hat er sicherlich mit Zufriedenheit<br />

beobachtet, dass sich sein nachfolger nach dem umbau<br />

des hauses in den achtziger und neunziger Jahren verstärkt<br />

seinem ausbau widmete. das geschah zum teil durch wachstum<br />

von innen, indem versucht wurde, auf dem immer dichter<br />

besetzten Markt noch lücken zu entdecken, in denen neue<br />

Zeitschriftentitel erfolgreich platziert werden konnten. es ge-<br />

293


schah aber auch durch firmengründungen und Übernahmen<br />

von unternehmen, die zum gesamtdesign der gruppe<br />

passten.<br />

nicht jeder dieser Versuche war von erfolg gekrönt. anderen<br />

war nur für eine begrenzte Zeit publizistischer oder wirtschaftlicher<br />

glanz beschieden. Zu den flops gehörte der 1981<br />

gestartete Menü-service daheim ebenso wie die Magazine unser<br />

kind und Charme. sie trafen nicht den geschmack der potenziellen<br />

kundschaft.<br />

Tempo dagegen, nach twen (1959 –1971) das erste deutsche<br />

Zeitgeistmagazin, war publizistisch zunächst ein großer erfolg<br />

und verdiente zeitweise sogar geld. als die 400 000 exemplare<br />

der startnummer 1986 am kiosk lagen, sorgten sie mit neuer<br />

optik und kesser sprache in der Medienwelt für aufsehen.<br />

Tempo erreichte bald kultstatus.<br />

entwickelt hatte thomas ganske das respektlose Blatt zusammen<br />

mit dem Österreicher Markus peichl, den er aus wien<br />

und vom Wiener nach hamburg geholt hatte. peichl und sein<br />

ebenfalls aus der alpenrepublik stammender art director lo<br />

Breier, die bereits den Wiener zusammen gemacht hatten, mixten<br />

aus eigenen ideen und aus Zutaten, die sie bei twen ebenso<br />

wie beim New York Magazine oder in stilbildenden szeneblättern<br />

wie den britischen und französischen Magazinen Face und<br />

Actuel fanden, einen scharfen cocktail. die Zeitschrift sollte<br />

den urbanen lebensstil der jungen generation abbilden und<br />

gleichzeitig auch mitprägen. der Tempo-themenbogen spannte<br />

sich von konsum über rebellion, aids und armani bis hin zu<br />

pop und klassischer kultur. autoren wie christian kracht, Jörg<br />

Böckem, helge timmerberg, Marc fischer, Michael althen und<br />

claudius seidl lieferten texte. das kgB, wie das kolumnistentrio<br />

kopf, glaser und Biller genannt wurde, sorgte für aufregung<br />

– auch bei den Vertretern des etablierten Journalismus.<br />

Zu dem schrägen Blatt passten aufsehenerregende events<br />

wie eine gefälschte ausgabe des sed-Zentralorgans Neues<br />

294


Deutschland, die 1988 kostenlos (und natürlich illegal) in ost-<br />

Berlin verteilt wurde. die parodie des sozialistischen parolenblattes<br />

berichtete unter anderem vom neuen »glasklar-kurs«<br />

erich honeckers, der sich damit gorbatschows glasnost-politik<br />

anpassen wolle. Zwischen den seiten des Neuen Deutschland lag<br />

eine Tempo-ausgabe. das war eine werbeaktion, die sich weniger<br />

an die verdutzten ostdeutschen als vielmehr an die westdeutschen<br />

Tempo-leser richtete, denn ein solcher coup sorgte<br />

jenseits der Mauer für garantierte aufregung und damit diesseits<br />

der innerdeutschen grenze für das gewünschte aufsehen.<br />

die unbekümmerte Mischung von ernsthaften inhalten mit<br />

anarchistischen texten, praller optik und intellektuellem pop<br />

war ein gebräu, an das man sich erst gewöhnen musste. der<br />

Vorwurf, Vorreiter der spaßgesellschaft gewesen zu sein, haftet<br />

Tempo bis heute an. doch aufmerksame Beobachter konnten<br />

auch feststellen, dass sich die »alten Medien« nach einer schrecksekunde<br />

den neuen schreib- und sehgewohnheiten vorsichtig<br />

annäherten. Beispiele dafür waren das Zeit Magazin und das<br />

Jugendmagazin jetzt der Süddeutschen Zeitung. nachdem der<br />

Spiegel das Blatt 1996 schadenfroh beerdigt hatte, stellte spiegel<br />

online zehn Jahre später fest: »die Tempo-attitüde war früher im<br />

besten sinne postmodern: u und e, pop und politik, werbung<br />

und kritik verbanden sich zum ersten Mal auch in deutschland<br />

zum journalistisch schlüssigen erscheinungsbild.«<br />

trotz seiner publizistischen erfolge musste Tempo 1996 abrupt<br />

gestoppt werden. einbrüche im anzeigengeschäft, ausgelöst<br />

durch das erstarkte privatfernsehen und konkurrenzprodukte<br />

wie Max, Coupé und den deutschen Wiener, hatten<br />

Tempo finanziell schwer angeschlagen. Bei der suche nach auswegen<br />

aus der krise nahm zuletzt vor allem das tempo, mit<br />

dem die chefredakteure ausgewechselt wurden, gefährlich zu.<br />

auf peichl folgte nach drei Jahren lucas koch, der schon nach<br />

knapp zwei Jahren den stift weitergab. nach ihm versuchten<br />

Jürgen fischer und Michael Jürgs für jeweils ein Jahr ihr glück.<br />

295


schließlich hatte walter Mayer dann noch einmal zwei Jahre<br />

Zeit, um das Blatt auf dem weg zum friedhof zu begleiten.<br />

als 2006 zum 20. gründungsjubiläum eine einmalige sondernummer<br />

produziert wurde, war es dennoch wieder Markus<br />

peichl, der erfinder und erste chefredakteur von Tempo, der<br />

das gedenkblatt für den Jahreszeiten Verlag zur welt bringen<br />

sollte. und weil das nicht nur selbst ein ereignis war, sondern<br />

solche Marktauftritte heute sorgfältig als event inszeniert werden<br />

müssen, sollte die wiedergeburt in Berlin mit einer spektakulären<br />

Tempo-nacht eingeleitet werden. damit sich alte und<br />

neue fans passend dazu einkleiden konnten, war rechtzeitig<br />

vorher in der hauptstadt zudem ein laden zum Blatt eröffnet<br />

worden. Zwei Monate lang konnten dort junge designer und<br />

etablierte Marken ihre produkte vorstellen. der Tempo-shop<br />

war als »laden auf Zeit« konzipiert, in dem die philosophie<br />

des Blattes zu produkten geronnen war: in form von turnschuhen,<br />

schlüsselbändern, handtaschen, Badelatschen und<br />

unterhosen. aber weil coole typen bei der wahl ihres outfits<br />

inzwischen denglisch talken, handelte es sich bei den trendigen<br />

Tempo-products selbstverständlich um sneakers, keychains,<br />

flipflop originals und foot- oder underwear. allgemeinverständlich<br />

waren aber immerhin die aufdrucke auf den t-shirts,<br />

historische Überschriften aus zehn Jahren Tempo: »Mut zur<br />

wut« oder »dicke titten sind asozial«.<br />

gestaltet hatte den laden die Berliner architektin susanne<br />

raupach. als regale dienten, die Vergänglichkeit allen journalistischen<br />

tuns symbolisierend, riesige heftstapel, für die mangels<br />

einer ausreichenden Zahl alter Tempo-hefte allerdings<br />

Architektur & Wohnen herhalten musste. die wände zierten eine<br />

auswahl typischer Tempo-headlines. »ist köln ein gerücht?« war<br />

da wieder zu lesen oder »scheiße, seh ich gut aus«. die Überschrift<br />

»arschfisch« erinnerte an Maxim Biller, der zu den frühen<br />

autoren des Blattes gehörte und die erste seiner »100 Zeilen<br />

hass«-kolumnen so betitelt hatte.<br />

296


Viel Zeitgeist, wenig Zeitgefühl<br />

Bei der gestaltung seiner nostalgie-ausgabe ließ peichl nicht<br />

nur den Zeitgeist der achtziger Jahre noch einmal aus der flasche.<br />

er bewies auch das gleiche Zeitgefühl wie vor 20 Jahren:<br />

im Juli 2006 kündigte er an, das gedenkheft werde zur Buchmesse<br />

im oktober erscheinen. da tempo bei der produktion<br />

von Tempo noch nie sein ding gewesen war, lag das heft zur<br />

Buchmesse natürlich noch nicht vor. der Verlag kündigte stattdessen<br />

als erstverkaufstag den 24. november an. doch auch an<br />

diesem tag war von Tempo weit und breit nichts zu entdecken.<br />

neuer interner termin: 4. dezember. Vier tage später lag das<br />

Magazin tatsächlich am kiosk – mit 380 seiten noch dicker als<br />

angekündigt und über 1,2 kilo schwer. gestandene Tempo-leser<br />

nahmen es gelassen. souveräne Missachtung von erscheinungs-<br />

und druckterminen gehörten zum Markenzeichen.<br />

einmal musste das alte und das neue heft sogar als doppelnummer<br />

erscheinen. peichl hatte auch das zum event gemacht:<br />

die beiden hefte erschienen rücken an rücken, das titelbild<br />

des einen als rückseite des anderen. kopfstehend.<br />

der Verleger zeigte – zumindest nachträglich – Verständnis.<br />

wenn peichl die Maschinen anhielt, weil ihm nach redaktionsschluss<br />

eine noch provokantere Überschrift ein- oder ein elektrisierenderes<br />

Bild aufgefallen war, »war das immer ein gewinn<br />

für das heft«. in der kasse schlug sich das allerdings eher<br />

als Verlust nieder. so auch 2006, als die produktion schließlich<br />

auf mehrere druckereien verteilt werden musste, damit das<br />

heft knapp vor ende des Jubiläumsjahres überhaupt noch auf<br />

den Markt kommen konnte – dafür allerdings als eine auch in<br />

dieser hinsicht authentische erinnerungsnummer. und wer<br />

geglaubt hatte, optische schocks seien 20 Jahre nach der ersten<br />

ausgabe nicht mehr möglich, wurde mehr oder weniger angenehm<br />

überrascht: die Jubiläumsausgabe bot 19 abgeschnittene<br />

penisse auf einem haufen. das hatte man bis dato noch nicht<br />

297


gesehen. sie waren zwar aus gummi, und ein teil der von betrogenen<br />

ehefrauen in den vergangenen zehn Jahren gewaltsam<br />

entfernten exemplare war den rechtmäßigen Besitzern<br />

inzwischen wieder angenäht worden. aber die makabre gliedersammlung<br />

zeigte ebenso wie die in zwei schwimmbecken von<br />

olympischen ausmaßen gefassten 5,2 Millionen liter Blut, die<br />

zwischen 1996 und 2006 in kriegen vergossen worden waren,<br />

was in einer welt ohne Tempo geschieht.<br />

Von fehlern leben<br />

im gleichen Jahr, in dem thomas ganske erstmals mit Tempo<br />

auf den Markt gegangen war, hatte er auch beim Buchversand<br />

gas gegeben. die gruppe war in diesem Bereich bereits mit<br />

rhenania vertreten, an der sich schon sein Vater 1956 maßgeblich<br />

beteiligt hatte. 1986 baute thomas ganske den handelsbereich<br />

seiner gruppe durch eine Beteiligung an frölich &<br />

kaufmann aus, einem spezialversender für kunstbücher und<br />

ausstellungskataloge. weitere arrondierungen fanden später<br />

durch die Übernahme von akzente, Mail:order:kaiser und<br />

die gründung des spezialversenders Vital statt.<br />

den kunstbuchversand hatten zwei studenten gegründet,<br />

die in den siebziger Jahren bei Verlagen, galerien und Buchhandlungen<br />

gejobbt und dabei eine Marktlücke entdeckt hatten:<br />

Museen boten an ihren kassenhäuschen zwar kataloge<br />

für Besucher an, sie konnten aber nur dort direkt erworben<br />

werden. im Buchhandel oder auf Bestellung waren die oft aufwendig<br />

gestalteten Bände nicht erhältlich. wer keine Zeit hatte<br />

oder nicht über das erforderliche geld verfügte, um nach Berlin<br />

oder München zu reisen oder gar mal eben nach paris oder<br />

new York zu jetten, dem entging der augenschmaus auch in<br />

seiner gedruckten form. das ärgerte viele kunstfreunde, weil<br />

bei großen ausstellungen oft Bilder aus privatbesitz gezeigt<br />

werden, die vorher und nachher den augen normalsterblicher<br />

298


verborgen bleiben und nicht einmal in kunstbänden zu finden<br />

sind. in ausstellungskatalogen dürfen sie dagegen ohne Verletzung<br />

des copyrights abgebildet werden.<br />

das brachte die beiden ehemaligen kunststudenten gerd<br />

frölich und andreas kaufmann auf die idee, sich größere<br />

stückzahlen dieser oft aufwendig hergestellten und mit texten<br />

erstklassiger fachleute versehenen kataloge zu beschaffen und<br />

an interessenten zu versenden. »dazu waren die Museen selbst<br />

nicht in der lage.«<br />

die kunsthallen hatten meist auch gar kein großes interesse<br />

daran. sie produzierten die kataloge nicht, um sie zu verkaufen,<br />

sondern weil es dafür einen posten im etat gab. und wenn<br />

sie das geld nicht ausgaben, wurden ihnen im nächsten Jahr<br />

die Mittel gekürzt – wie überall im öffentlichen dienst. ob die<br />

teuren Bildbände verkauft wurden oder nicht, spielte dagegen<br />

keine große rolle. »wenn die ausstellung vorbei war, wanderten<br />

die nicht verkauften, aber mit hohen Zuschüssen hergestellten<br />

exemplare in den keller und verstaubten dort«, schildert<br />

frölich die ausgangslage.<br />

ihre unternehmerische idee realisierten kaufmann und<br />

frölich 1978 in Berlin durch die gründung <strong>eines</strong> spezialversands<br />

für kunstbücher und kataloge. anfänglich waren die<br />

leiter der Museen und staatlichen galerien erstaunt, wenn<br />

die beiden ihnen 500, 1000 oder noch mehr kataloge abnehmen<br />

wollten. aber sie hatten auch nichts dagegen – im gegenteil.<br />

es gab Museen, die von manchen katalogen 10 000<br />

stück bestellt, aber nur 500 verkauft hatten. der rest lag im<br />

keller und verstopfte die regale. »da sind wir dann manchmal<br />

hingegangen und haben nach 15 Jahren das ganze lager<br />

ausgeräumt.« was bei den kunden auf interesse stieß, kam in<br />

den monatlich aufgelegten »katalog der kataloge« und wurde<br />

verkauft.<br />

die Marktlücke, die die beiden entdeckt hatten, war sogar<br />

noch größer, als sie selbst zunächst gedacht hatten. dabei wa-<br />

299


en – und sind – viele der kataloge nicht gerade »bedarfsgerecht«,<br />

sondern von fachleuten für fachleute verfasst. sie richten<br />

sich nicht nach den wünschen und Bedürfnissen der<br />

Besucher, die vor allem die ausgestellten werke groß und in<br />

guter Qualität sehen wollen. es sind Bücher für spezialisten,<br />

denen eine beschränkte Zahl von abbildungen reicht. sie kennen<br />

die künstler und ihre werke ohnehin genauestens. es ist<br />

ihnen wichtiger, ihre wissenschaftlichen aufsätze zu publizieren<br />

und sich damit in fachkreisen zu profilieren, als das breite<br />

publikum zu anzusprechen. es gibt nur wenige kataloge, die<br />

eine ausstellung aus Besuchersicht angemessen begleiten.<br />

die beiden jungen unternehmer nahmen sich vor, es besser<br />

zu machen. Zu einer ausstellung über das heilige römische<br />

reich deutscher nation produzierten sie erstmals selbst einen<br />

katalog – und denken noch heute ohne allzu großes Vergnügen<br />

an ihren ausflug ins Verlagswesen. denn auf der einen<br />

seite hatten sie es mit druckereien zu tun, die unter ständigem<br />

Zeitdruck standen und die abwicklung ihrer aufträge minuziös<br />

planten; auf der anderen seite arbeiteten sie mit autoren<br />

zusammen, die endlos an ihren texten feilten, selten pünktlich<br />

lieferten und wenn sie den gesetzten text zur korrektur<br />

bekamen, alles noch einmal gründlich umschreiben wollten.<br />

das blieb kein einzelfall. durch solche und andere probleme<br />

wurde nicht nur die freude der beiden Jungunternehmer am<br />

Verlegerdasein arg gedämpft, sie kamen auch finanziell in Bedrängnis.<br />

»wir beide hatten damals von betriebswirtschaftlichen<br />

fragen wenig ahnung und sind voll in die falle gelaufen«,<br />

gesteht kaufmann. es gab kaum eigenkapital, zunächst<br />

aber reichlich kredite zur finanzierung des schnellen wachstums.<br />

»die Banken haben es uns vorne und hinten reingesteckt.«<br />

doch als sich zeigte, dass die beiden sich übernommen<br />

hatten, war auch bei den kreditgebern plötzlich schluss mit<br />

lustig. acht Jahre nach der gründung stand das start-up 1986<br />

am abgrund.<br />

300


frölich und kaufmann waren aber nicht bereit, ihre an sich<br />

richtige und erfolgreiche geschäftsidee so schnell verloren zu<br />

geben. »wir haben den hörer in die hand genommen und in<br />

der ganzen deutschen Verlagslandschaft herumtelefoniert und<br />

gefragt, ob jemand bereit sei, sich zu beteiligen oder uns zu<br />

übernehmen«, erinnert sich frölich. Bei hoffmann und campe,<br />

wo sie es eigentlich gar nicht erwartet hatten, wurden sie fündig.<br />

glück im unglück: thomas ganske, der nicht nur Bücher<br />

verlegt, sondern selbst ein leidenschaftlicher Büchersammler<br />

ist, war bereits kunde bei ihnen. er hatte überdies schon darüber<br />

nachgedacht, ob ein solcher spezialversand nicht gut zu<br />

seiner gruppe passen könnte. da lag es nahe, dass man sich<br />

geschäftlich bald einig wurde. hoffmann und campe gründete<br />

zusammen mit den beiden immer noch jungen unternehmern<br />

die frölich & kaufmann Verlag und Versand gmbh<br />

neu. die arbeit konnte fortgesetzt werden.<br />

inzwischen hat sich frölich & kaufmann zu europas größtem<br />

spezialversender für kunstbücher und kataloge entwickelt.<br />

ob interessenten sich für werke aus den Bereichen Malerei,<br />

fotografie, archäologie oder design interessieren, bei f&k haben<br />

sie gute chancen, fündig zu werden. es gibt kaum einen<br />

wunsch, den die Berliner spezialisten nicht erfüllen können.<br />

neben Büchern bieten sie auch grafiken, reprints und hochwertige<br />

drucke oder Vorzugsausgaben an. kunstbücher sind<br />

aber nach wie vor das kerngeschäft. Über 25 000 titel sind im<br />

angebot. dazu kommen einige hundertschaften literarischer<br />

hörbücher und klassischer Musik zu stark reduzierten preisen.<br />

kenner entdecken darunter zum Beispiel schnäppchen wie<br />

den faksimile-Band »horst Janssen: un séour parisien« der<br />

galerie Berggruen in paris vom oktober 1989. statt für ursprünglich<br />

298 euro sind die Blätter bei dem spezialversender<br />

für 148 euro zu haben. das komplette Buch- und katalog-angebot<br />

steht unter www.froelichundkaufmann.de im internet.<br />

Bitte diese Kolumne um eine Zeile erweitern.<br />

301


Über ausgewählte angebote informiert regelmäßig der per post<br />

verschickte katalog der kataloge.<br />

Manchmal ist bei f&k selbst dann ein schnäppchen zu machen,<br />

wenn ein aktueller ausstellungskatalog zum originalpreis<br />

verkauft wird – zum Beispiel wenn er zusammen mit einer<br />

eintrittskarte verschickt wird, die es dem käufer erlaubt, an einer<br />

schier endlosen schlange von wartenden vorbei in den<br />

kunsttempel zu gelangen. so geschehen 2005 bei der Berliner<br />

MoMa-ausstellung. fast 20 000 kunden der kunstsinnigen<br />

kaufleute nutzten dieses angebot, um die prunkstücke des<br />

new Yorker Museum of Modern art während ihres Besuchs in<br />

Berlin bewundern zu können, ohne sich schon vorher die<br />

»Beine in den Bauch zu stehen«.<br />

auch ein Vierteljahrhundert nach dem start sind gerd<br />

frölich und andreas kaufmann noch nicht abgehoben. die<br />

Zentrale des unternehmens liegt versteckt in einem Berliner<br />

altbau, der einmal ein kl<strong>eines</strong> lazarett beherbergt hat. die<br />

loft-Büros erinnern noch immer an die einstige studentenfirma,<br />

aus der mittlerweile ein europäischer Marktführer geworden<br />

ist. in den hinter hohen Bücherstapeln versteckten<br />

computern sind inzwischen aber eine Viertelmillion kunden<br />

registriert, die regelmäßig informiert werden, selektiert nach<br />

interessengebieten und kaufverhalten. wer häufig bestellt,<br />

dem flattert alle zwei wochen das aktuelle angebot ins<br />

haus, wer sich lange nicht mehr gemeldet hat, bekommt den<br />

katalog nach einer gewissen Zeit nur alle vier wochen oder<br />

seltener.<br />

während die unternehmerische kreativität immer noch in<br />

Berlin beheimatet ist, sind der Versand, die lagerhaltung, der<br />

telefonservice und andere logistische funktionen längst ausgelagert<br />

worden. wer in Berlin bestellt, wird aus falkensee in<br />

Brandenburg beliefert. das damit beauftragte service-unternehmen<br />

arbeitet auch für die in lahnstein residierenden Buchversender<br />

rhenania, akzente und Vital sowie für Mail:order:<br />

302


kaiser, dessen postadresse immer noch München lautet. sie<br />

alle gehören zum Bereich handel der ganske-gruppe.<br />

Mutter der kompanie ist die 1946 in koblenz gegründete<br />

rhenania, deren Buchhandlung mit dem katalog »das billige<br />

Buch« bereits 1962 in den Versandhandel einstieg, aber erst<br />

seit 1997 als rhenania BuchVersand gmbh ein rechtlich selbständiges<br />

unternehmen unter dem dach der ganske-gruppe<br />

ist. daneben gab es einen Verlag für fachzeitschriften, zu dessen<br />

leserservice es gehörte, die kunden mit fachliteratur zu<br />

versorgen, die der stationäre handel in der regel nicht in den<br />

regalen liegen hat. daraus entwickelte sich schließlich der zentrale<br />

unternehmenszweck, der Buchversand. denn während<br />

die fachblätter entweder verkauft oder eingestellt wurden,<br />

wuchs die rhenania zur zweitgrößten deutschen Versandbuchhandlung<br />

heran.<br />

dazu musste sie allerdings »vom kopf auf die füße gestellt«<br />

werden. anders als in ihren anfängen wendet sich der rhenania<br />

BuchVersand heute nämlich nicht mehr an einen kleinen<br />

kreis von »fachidioten«, sondern an leser mit einem breiten<br />

interessenspektrum, die wert auf Bildung und unterhaltung<br />

legen und dabei auf günstige preise achten. sie finden in den<br />

katalogen heute ebenso etwas für den kopf wie für den Magen,<br />

nämlich kulturhistorische werke und hochwertige kochbücher.<br />

dazu kommen reiseliteratur und Zeitgeschichte oder ehemals<br />

teure kunstbücher zu erschwinglichen preisen. die spanne<br />

reicht von den großen religionen der welt bis zur oft bizarren<br />

welt der erotik. ganz im sinne der aufklärung wird dabei<br />

kein thema ausgespart, jedenfalls nicht im religiösen Bereich.<br />

alle weltreligionen haben ihren platz im angebot. auch atheisten<br />

finden sich darin als autoren oder leser wieder.<br />

nicht nur das kerngeschäft, sondern auch die dahinterstehende<br />

logistik hat sich im laufe von über vier Jahrzehnten<br />

gründlich verändert. neben die traditionelle und von vielen<br />

kunden immer noch gern genutzte Bestellkarte sind ähnlich<br />

303


wie bei frölich & kaufmann auch bei rhenania heute telefon,<br />

fax, internet und e-Mail getreten. rund 15 prozent der Bestellungen<br />

gehen inzwischen online ein. solange downloads bei<br />

Büchern noch keine nennenswerte rolle spielen, findet die Zustellung<br />

dagegen immer noch so statt wie schon zu großmutters<br />

Zeiten: post und paketdienste bringen die Bücher wenige<br />

tage nach der Bestellung ins haus. Ähnliches gilt für die übrigen<br />

Versender, die heute unter dem dach der rhenania<br />

arbeiten.<br />

die Mail:order:kaiser gmbh erwarb die rhenania im Juni<br />

2001 – allerdings nicht direkt aus der hand des gründers hans<br />

Jürgen kaiser, der 1966 in München mit dem Verkauf von restbeständen<br />

von Verlagen begonnen hatte. Verkäufer war der<br />

axel springer Verlag, der sich seit ende 1998 als Buchversender<br />

versucht, aber schon nach gut zwei Jahren die lust an diesem<br />

geschäft wieder verloren hatte. »eine tochter mit 19 Millionen<br />

umsatz war für den konzern wohl keine perspektive«,<br />

klagte kaiser, der durch diesen deal nach dem unternehmen<br />

auch noch den Job als angestellter geschäftsführer einbüßte.<br />

weder er noch seine 40 Mitarbeiter wurden vom neuen eigentümer<br />

übernommen. der war nur am Markennamen, dem<br />

warenbestand und der kundenliste interessiert. Über eine ausreichende<br />

Zahl qualifizierter Mitarbeiter und expertise im<br />

Buchversandgeschäft verfügte rhenania bereits selbst. Vom<br />

standort München blieb nur die postanschrift erhalten.<br />

Mit preiswerten Büchern akzente setzen<br />

unverändert geblieben ist die form der kundenansprache. neben<br />

großflächigen anzeigen in Zeitungen und Magazinen sind<br />

es auch bei kaiser die kataloge, die registrierte kunden regelmäßig<br />

in ihren Briefkästen finden. sie enthalten neben den<br />

schnäppchen immer auch eine auswahl spezieller Bücher,<br />

cds und Videos aus dem regulären – also noch preisgebun-<br />

304


denen – Buch- und Videoangebot. den schwerpunkt bilden<br />

jedoch Bücher und Videos aus dem Bereich des »modernen<br />

antiquariats«, die zu stark reduzierten preisen abgegeben werden.<br />

sammler und liebhaber durchforsten die kataloge aber<br />

auch deswegen, weil sie darin oft text- und Bildbände finden,<br />

die im stationären handel nicht mehr erhältlich sind. dazu<br />

kommt der internationale Versand, durch den kunden im ausland<br />

über Mail:order:kaiser fast alle beschaffbaren Bücher<br />

und Videos beziehen können. schwerpunkte des sortiments<br />

sind literatur und film. aber auch die liebhaber von erotika,<br />

die ihre wünsche oft nur ungern einer jungen Verkäuferin<br />

im Buchladen um die ecke anvertrauen, kommen auf ihre<br />

kosten.<br />

akzente wurde 1995 gegründet und kam im dezember 2000<br />

zur familie. die monatlich verschickten akzente-kataloge wenden<br />

sich vor allem an kunden, die sich für geschichte, philosophie<br />

oder literatur interessieren, mehrheitlich den »bildungsnahen<br />

schichten« angehören und von denen 20 prozent einen<br />

akademischen titel besitzen. es sind Vielleser, die von den<br />

meist stark reduzierten preisen profitieren wollen. denn bei<br />

restauflagen, dem früher sogenannten modernen antiquariat,<br />

gilt die Buchpreisbindung nicht mehr. leseratten können<br />

schnäppchen machen und Bücher entdecken, die im stationären<br />

Buchhandel nicht so leicht oder gar nicht mehr zu finden<br />

sind. wer nicht so lange warten will, bis der nächste katalog<br />

kommt, kann im Zeitalter des internets natürlich zu jeder tages-<br />

und nachtzeit durch das gesamte angebot surfen. denn<br />

akzente schickt ebenso wie frölich & kaufmann, Mail:order:<br />

kaiser oder rhenania nicht nur ausgewählte angebote per<br />

post ins haus, sondern stellt auch das gesamtangebot komplett<br />

ins netz. in den katalogen können die Versender immer nur<br />

einen aktuellen ausschnitt aus dem gesamtangebot zeigen.<br />

Vital ist das jüngste Mitglied im kreis der spezialisierten<br />

Buchversender und spricht einen ähnlichen interessentenkreis<br />

305


an wie die gleichnamige Zeitschrift des Jahreszeiten Verlags.<br />

der junge Versender nutzt nicht nur das label des älteren Magazins.<br />

Man tauscht auch adressen und erfahrungen aus. ein<br />

typischer fall von synergie also. im katalog und auf der website<br />

des spezialversenders finden leser(innen) von der »Joghurtlüge«<br />

über den »homöopathie Quickfinder« und »Japanisches<br />

heilströmen« bis hin zur »heilkunde der hildegard von Bingen«<br />

alles, was der gesundheit, fitness und dem wohlbefinden<br />

dient. sie werden aber auch darüber informiert, »warum<br />

Männer mauern« und was man alles mit hilfe von tomaten auf<br />

den tisch zaubern kann.<br />

so unterschiedlich die angebote der einzelnen Versender<br />

und ihre Zielgruppen auch sind, so haben sie doch viele gemeinsamkeiten.<br />

dazu gehört nicht nur, dass sie zusammen den<br />

zweiten platz in ihrer Branche erobert haben. abgesehen von<br />

frölich & kaufmann in Berlin, wo auch heute noch die gründer<br />

die geschäfte führen, haben sie ein einheitliches Management<br />

und werden seit 1999, als das unternehmen von koblenz<br />

ins nahe gelegene lahnstein umzog, auch gemeinsam von dort<br />

geführt. einen »wasserkopf« sucht man trotzdem vergeblich.<br />

»wir haben hier nur die Verwaltung und den einkauf, machen<br />

das programm und die kataloggestaltung«, erklärt frederik<br />

palm, der seit 1998 als geschäftsführer an der spitze der rhenania<br />

steht, warum eine Villa aus den fünfziger Jahren ausreicht,<br />

um die führungsmannschaft und zentrale funktionen<br />

zu beherbergen. outsourcing lautet ansonsten die devise.<br />

die datenverarbeitung, die personalverwaltung und andere<br />

betriebswirtschaftliche funktionen erledigt die Zentrale der<br />

ganske-gruppe, die später vielleicht auch downloads von hörbüchern<br />

und andere internetangebote koordiniert. die lagerhaltung<br />

und der Buchversand obliegen dem in falkensee bei<br />

Berlin ansässigen dienstleistungsunternehmen, das auch für<br />

f&k tätig ist. die kataloge werden nur bis zur digitalen endform<br />

im eigenen haus gestaltet und dann online an die dru-<br />

306


ckerei übermittelt. Von dort gehen sie an einen spezialisierten<br />

lettershop, der aus lahnstein die aktuellen adressenlisten erhält,<br />

natürlich ebenfalls online. denn nicht jeder katalog geht<br />

an alle 1,4 Millionen adressen, die dort von rhenania zentral<br />

verwaltet werden. die empfänger werden vielmehr nach ausgeklügelten<br />

Verfahren entsprechend ihren interessen und ihrem<br />

Bestellverhalten sorgfältig selektiert, um streuverluste zu vermeiden.<br />

kundenselektion zählt ebenso zur hohen kunst des<br />

Versandhandels wie die auswahl der jeweils 280 bis 320 Bücher,<br />

cds und sonstigen artikel, die aus den insgesamt etwa 13 000<br />

am lager befindlichen titeln für die jeweilige katalogausgabe<br />

ausgewählt werden. »darunter sind natürlich keine Bücher,<br />

von denen wir nur noch ein oder zwei stück auf lager haben«,<br />

erläutert palm. »dafür ist der platz im katalog zu teuer, und<br />

wir würden auch zu viele kunden enttäuschen, denen wir das<br />

bestellte Buch nicht liefern können.« Über das internet kann<br />

jeder interessent aber auch die Bücher finden, von denen nur<br />

noch ein oder zwei exemplare vorhanden sind.<br />

es kommt vor, dass von einzelnen titeln 10 000 stück und<br />

mehr auf diesem Vertriebsweg ihre käufer finden. »wir machen<br />

uns die fehlkalkulationen der Verlage zunutze«, verrät<br />

palm. an ein Buch, das sich entgegen den ursprünglichen erwartungen<br />

als ein renner herausstellt, knüpfen sich häufig bei<br />

weiteren auflagen überspannte hoffnungen. die Verlage bleiben<br />

auf einem großen teil der nachgedruckten exemplare sitzen<br />

und sind dann froh, wenn ihnen die überzähligen exemplare<br />

abgenommen werden. oft gehen sie zu einem Zehntel des<br />

ursprünglichen preises an einen großhändler, der die Bücher<br />

seinerseits mit einem gewissen aufschlag an stationäre händler<br />

weitergibt, die sie deutlich unter dem ursprünglichen preis<br />

im »modernen antiquariat« oder heute auch gern als »das gute<br />

Buch zum günstigen preis« anbieten. Versandbuchhandlungen<br />

kaufen zwar ebenfalls bei großhändlern ein, übernehmen<br />

aber oft die gesamte restauflage <strong>eines</strong> Verlags.<br />

307


sobald die bis dahin geltende Buchpreisbindung durch<br />

eine anzeige im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels aufgehoben<br />

wurde, kann der titel zu einem frei kalkulierten – und damit<br />

deutlich günstigeren – preis verkauft werden. Bei manchen<br />

Büchern wird mit den Verlagen aber von vorneherein der<br />

druck einer sonderausgabe vereinbart. daneben werden Bücher<br />

zum originalpreis verkauft, manche davon fast ausschließlich<br />

im Versandhandel. das gilt vor allem für Bücher der kategorie<br />

special interest. dazu zählen beispielsweise Bildbände für<br />

eisenbahnfreunde, die sich für spezielle lokomotiven begeistern.<br />

auch das einzige Buch über seereisen mit frachtschiffen<br />

wird fast nur über den rhenania BuchVersand verkauft, seit<br />

Jahren und mit großem erfolg. frederik palm erklärt, warum:<br />

»diese Bücher hat meist kein sortimenter vorrätig. wenn sie<br />

bestellt werden, dauert das beim stationären handel genauso<br />

lange wie bei uns. während sie dort aber erst noch abgeholt<br />

werden müssen, liefern wir sie direkt ins haus.«<br />

auch dafür, dass sich manche Bücher, die zunächst nur<br />

wenige käufer fanden oder die im handel einen plötzlichen<br />

karriereknick erlebten, bei akzente, rhenania oder kaiser<br />

selbst dann einen zweiten frühling erleben können, wenn sie<br />

nicht deutlich verbilligt abgegeben werden, hat palm eine einfache<br />

erklärung: »es gibt Bücher, die werden gekauft, und andere,<br />

die werden verkauft. das Verkaufen ist unsere stärke.«<br />

während im stationären Buchhandel die Bücher liegen und<br />

auf ihre entdeckung warten, kommen die kataloge ins haus.<br />

sie werden von kunden durchgeblättert, die entweder spezielle<br />

interessen haben oder sich durch das angebot anregen lassen.<br />

Bei fachbüchern ist man im internet ohnehin besser aufgehoben<br />

als in der Buchhandlung. denn die gewünschten titel sind<br />

am lager, erscheinen aufs stichwort auf dem Bildschirm, und<br />

ein klick reicht, um sie sich ins haus zu holen.<br />

anders als beim Versandbuchhandel war der Versuch, beim<br />

stationären Buchhandel an die tradition des unternehmens<br />

308


anzuknüpfen, nicht von erfolg gekrönt. aber einen Versuch<br />

schien es thomas ganske wohl wert. immerhin hatte der großvater<br />

aus einer Buchhandlung heraus seinen lesezirkel aufgebaut,<br />

der Vater hatte in Berlin in den dreißiger Jahren ein renommiertes<br />

Bücherhaus betrieben, und die wiege der Verlage<br />

hoffmann und campe sowie gräfe und unzer war ebenfalls<br />

eine Buchhandlung. deshalb erschien es wie eine Besinnung<br />

auf die eigene Vergangenheit, als hoca 1989 die in bester<br />

lage auf der düsseldorfer königsallee angesiedelte schrobsdorff’sche<br />

übernahm. die Buchhandlung war das älteste geschäft<br />

an der kö. im innenhof des hauses wächst ein ginkgobaum,<br />

unter dem einst goethe gesessen haben soll. deshalb<br />

hatten die schrobsdorffs ihren laden respektvoll um den<br />

Baum herumgebaut. Zwei Jahre später wurde 1991 in der nürnberger<br />

altstadt das Buchhaus campe eröffnet. doch es zeigte<br />

sich bald, dass entweder enorme anstrengungen unternommen<br />

werden mussten, um es mit hugendubel, thalia und den<br />

anderen großen Buchhandelsketten aufnehmen zu können,<br />

oder dass der stationäre Buchhandel ein kl<strong>eines</strong> und teures<br />

anhängsel der großen <strong>Verlagsgruppe</strong> bleiben würde. thomas<br />

ganske hielt es für besser, die kräfte seiner gruppe auf die gebiete<br />

zu konzentrieren, wo sie bereits stark und kompetent war.<br />

im Jahr 2004 wurden deshalb nach 132 Jahren bei der schrobsdorff’schen<br />

die Bücher endgültig geschlossen und das Buchhaus<br />

campe in nürnberg verkauft.<br />

kein wirklich schönes wochenende<br />

teurer als der Versuch, die Möglichkeiten im stationären Buchhandel<br />

auszuloten, erwies sich das wagnis, mit neuen ideen in<br />

den Markt der wochenzeitungen vorzudringen. als sich bereits<br />

abzeichnete, dass Tempo auf die dauer nicht zu halten war,<br />

ließ sich thomas ganske zusammen mit seinem chefredakteur<br />

Manfred Bissinger auf ein neues verlegerisches und jour-<br />

309


nalistisches risiko ein. er brachte Die Woche auf den von der<br />

Zeit dominierten Markt – allerdings mit einem deutlich anderen<br />

konzept als das der schwerfällig gewordenen Marktführerin.<br />

die Woche war die erste durchgehend vierfarbig gedruckte<br />

Zeitung, die überdies nicht nur dadurch von der traditionellen<br />

optik abwich, sondern mit ihrem kleineren format auch deutlich<br />

handlicher daherkam als die konkurrenz.<br />

das allein hätte als publizistische idee nicht tragen können.<br />

wichtiger war die Zielsetzung, mit einem solchen Blatt die gewandelten<br />

lese- und informationsbedürfnisse besser erfüllen<br />

zu können, als es die etablierten publikationen taten. der Zeitpunkt<br />

erschien günstig: Mit dem Zusammenbruch des »sozialistischen<br />

lagers« verlor auch das Blockdenken seine Basis. die<br />

alten politischen schemata galten nicht mehr. das eingeübte<br />

feindbild ging verloren. die wirtschaftliche und politische globalisierung<br />

hatte das Bewusstsein der meisten Zeitgenossen<br />

anfang der neunziger Jahre noch nicht erreicht. erkennbar<br />

war nur, dass ein neues weltbild erst noch gefunden werden<br />

musste. daraus schienen sich neue Bedürfnisse nach politischer<br />

orientierung zu ergeben. Überdies hatte das wiedervereinigte<br />

deutschland noch keine publizistische stimme. es<br />

gab die westdeutschen Blätter, die sich schwertaten, eine sprache<br />

zu finden, die im osten ankam. und es gab die Zeitungen<br />

der ehemaligen ddr, deren glaubwürdigkeit sogar im eigenen<br />

Verbreitungsgebiet gegen null tendierte.<br />

es war daher kein Zufall, dass fast zur gleichen Zeit zwei<br />

Verlage auf die idee kamen, diese lücke mit einer neuen wochenzeitung<br />

zu füllen, nämlich außer der ganske-gruppe der<br />

ebenfalls in hamburg beheimatete Verlag gruner+Jahr. während<br />

hoffmann und campe von der hansestadt aus versuchen<br />

wollte, den gesamtdeutschen Markt zu erobern, startete g +J<br />

die attacke auf die etablierte und gerade neu entstehende<br />

konkurrenz aus dem osten heraus. Man wollte versuchen, aus<br />

der schon seit 1953 in der ehemaligen ddr erscheinenden<br />

310


Wochenpost, von der zu honeckers Zeiten wöchentlich 1,3 Millionen<br />

exemplare gedruckt worden waren, ein Blatt zu machen,<br />

das in ost und west auf akzeptanz stieß – was natürlich voraussetzte,<br />

dass erst einmal der ganze sozialistische kehricht aus<br />

den redaktionsstuben gefegt werden musste.<br />

doch der Versuch, aus der ehemaligen sed-postille eine gesamtdeutsche<br />

wochenzeitung zu machen, scheiterte so gründlich,<br />

dass sich g +J schon 20 Monate nach dem start im März<br />

1993 wieder von dem Blatt verabschiedete. die auflage von<br />

rund 100 000 verkauften exemplaren in den neuen Bundesländern,<br />

die noch dazu durch wenig einträgliche »sonderverkäufe«<br />

aufgepeppt worden war, reichte bei weitem nicht aus;<br />

im westen ist das aus der konkursmasse der ddr übernommene<br />

Blatt nie auffällig geworden, weder publizistisch, gestalterisch<br />

noch hinsichtlich seiner Verkaufszahlen. das Ziel, im<br />

westen deutschlands mindestens 50 000 leser zu gewinnen,<br />

entpuppte sich rasch als utopisch.<br />

die Woche hatte einen wesentlich besseren start. auch wenn<br />

der Spiegel es sich nicht verkneifen konnte, sie als »bunte Baby-<br />

Zeit« zu verspotten, fand ihre neue optische und inhaltliche<br />

konzeption anerkennung. der neuling im revier konnte<br />

schon nach kurzer Zeit den zweiten platz unter den politischen<br />

wochenzeitungen erobern. auch die angepeilte leserschaft –<br />

hohe Bildung, hohes einkommen sowie großes politisches interesse<br />

– wurde erreicht. unter den abonnenten und käufern<br />

am kiosk waren überdurchschnittlich viele leser mit abitur<br />

und studium. auffallend viele verdienten als Manager, anwälte,<br />

selbständige oder Ärzte mehr als nur ihr Brot. allerdings<br />

war die gesamtzahl dieser neuen, politisch interessierten<br />

leserschicht nie ausreichend, um ein Blatt wie die Woche zu<br />

tragen. nach dem von einer intensiven pr- und werbekampagne<br />

begleiteten start am 18. februar 1993 kletterte die verkaufte<br />

auflage zwar schnell auf 130 000. doch damit war auch<br />

schon das ende der fahnenstange erreicht. es ging trotz aller<br />

311


anstrengungen einfach nicht mehr weiter. »die leserschaft,<br />

die wir erreicht haben, war hervorragend, blieb aber zu klein«,<br />

bedauert thomas ganske. für ein dauerhaftes entkommen<br />

aus der Verlustzone und ein auskömmliches anzeigengeschäft<br />

wäre eine auflage zwischen 200 000 und 250 000 exemplaren<br />

erforderlich gewesen. das erwies sich zum damaligen Zeitpunkt<br />

als unerreichbar.<br />

Zwar wurde versucht, durch redaktionelle anstrengungen<br />

und neue Vertriebsideen, durch organisatorische Verbesserungen<br />

und jede nur mögliche kosteneinsparung, durch erwerb<br />

der abo-kartei der Wochenpost und schließlich durch partnersuche<br />

bei der WAZ und dem Burda Verlag das Blatt noch zu<br />

wenden. doch es gelang nicht. »das defizit der Woche bewegte<br />

sich immer innerhalb <strong>eines</strong> bestimmten rahmens, aus dem es<br />

kein entkommen gab«, resümiert ganske. er musste schließlich<br />

die notbremse ziehen. Jeder euro, den die Woche verschlang,<br />

fehlte für investitionen an anderer stelle: in der elften kalenderwoche<br />

2002 erschien die letzte ausgabe des Blattes.<br />

durststrecke inklusive<br />

thomas ganske hatte bei seiner wochenzeitung ebenso wie<br />

bei anderen, nach einem längeren anlauf schließlich erfolgreichen<br />

Zeitschriften eine längere durststrecke von vorneherein<br />

einkalkuliert. er war bereit, einen anfangsverlust von 50 bis 60<br />

Millionen d-Mark in kauf zu nehmen. doch nach zehn Jahren<br />

musste er einsehen, dass er und chefredakteur Bissinger – und<br />

mit ihnen die Marktforscher – die Bedürfnisse der potenziellen<br />

leserschaft nach orientierung und die Breite der nach aufklärung<br />

lechzenden Bevölkerungsschicht überschätzt hatten.<br />

»das große orientierungsbedürfnis hat es offenbar in diesem<br />

ausmaß nicht gegeben«, bedauert ganske. »Man muss im gegenteil<br />

feststellen, dass sich ein großer teil der Medien immer<br />

312<br />

Bitte diese Kolumne um eine Zeile erweitern.


stärker entpolitisiert hat. ein fragen und nachfragen gab es<br />

bei der Bevölkerung nicht in dem erwarteten umfang.«<br />

dafür, dass sich ein Blatt wie die Woche neben den bereits<br />

existierenden Medien nicht durchsetzen konnte, gibt es aber<br />

noch eine reihe weiterer gründe. hermann schmidt, der als<br />

Vertriebsleiter mit ebenso viel herzblut dabei war wie die redaktion,<br />

sieht angesichts der recht guten abonnentenzahlen<br />

eine der ursachen für das scheitern im einzelverkauf. »der<br />

Markt war durch Spiegel und Zeit besetzt. wenn wir in die universitätsstädte<br />

gingen, wo unsere Zielgruppen besonders stark<br />

vertreten waren, lief es zunächst immer recht gut. aber sobald<br />

wir beim einzelhandel und den großen Zeitungsverkaufsstellen<br />

keinen druck mehr machten, sackte alles wieder in sich<br />

zusammen.«<br />

auch die veränderte arbeitsteilung innerhalb der Medienbranche<br />

hat dazu beigetragen, den potenziellen Markt der Woche<br />

zu begrenzen. da die tageszeitungen dem rundfunk – insbesondere<br />

in seiner bebilderten form – sowie dem internet<br />

und anderen neuen Medien das aktuelle nachrichtengeschäft<br />

weitgehend überlassen mussten, veränderten sie ihr angebot.<br />

sie liefern ihren lesern mit reportagen, hintergrundinformationen,<br />

investigativen Berichten, kommentaren, lebenshilfe<br />

und unterhaltung immer mehr von dem lesestoff, den bis dahin<br />

vor allem die wochenzeitungen geboten hatten. wer nach<br />

»orientierung«, verständlicher Berichterstattung oder der erklärung<br />

von Zusammenhängen sucht, fand und findet dies<br />

nicht nur in der überregionalen tagespresse, sondern manchmal<br />

sogar in seinem heimatblatt.<br />

dennoch ist die Woche nicht spurlos untergegangen. Viele<br />

der elemente, die die Woche in die neue Medienwelt eingebracht<br />

hat, lassen sich heute in tages-, wochen- und sonntagszeitungen<br />

entdecken. deshalb ist Manfred Bissinger als ehemaliger<br />

chefredakteur und herausgeber überzeugt, dass die<br />

arbeit seiner redaktion nicht vergeblich war. »Blättern sie in<br />

313


provinzblättern, aber auch der Zeit, der Süddeutschen oder der<br />

FAZ – überall finden sich spuren der Woche. wir haben formal<br />

Zeichen gesetzt: bei der gestaltung von seiten, beim umgang<br />

mit Zusatzinfos, wie man Vorspänne schreibt, Zusammenfassungen<br />

präsentiert. insofern haben wir bis zum heutigen tag<br />

einfluss. wir haben gezeigt, dass man schon im ersten absatz<br />

zur sache kommen kann und nicht erst in der zweiten spalte<br />

wie bei der Zeit.« er sieht in der modernen presselandschaft<br />

auch viele andere anzeichen, die ihn in der Überzeugung bestärken,<br />

dass die Woche ihr eigenes ende überlebt hat: »wir waren<br />

in vielen kategorien stilbildend. es gibt ganz bestimmte<br />

formen, die mit der Woche eingeführt wurden und die man<br />

heute an anderen stellen wiederfindet.« dazu zählt Bissinger<br />

die »von uns entwickelte themenleiste unter dem Zeitungskopf«<br />

ebenso wie die idee, jedem artikel eine zweite ebene<br />

hinzuzufügen, die den inhalt schneller erfassbar macht. auch<br />

das farbige leitsystem, das durch die einzelnen »Bücher« der<br />

Zeitung führt und deutlich macht, in welcher rubrik man sich<br />

gerade befindet, zählt er zu den elementen, die in anderen<br />

Blättern überlebt haben.<br />

die Woche ist nach ansicht Bissingers mit wehender flagge<br />

untergegangen. »wir haben redlich gekämpft, und wir haben<br />

eine gute Zeitung gemacht, die durchaus ihr publikum gefunden<br />

hat. für einen dauerhaften erfolg war es aber zu klein. uns<br />

ist es gelungen, innerhalb kurzer Zeit eine Marke zu schaffen,<br />

das produkt Die Woche zu etablieren. wir hatten sehr gute Journalisten,<br />

die das Blatt machten, und unsere leser haben sich<br />

mit der Zeitung identifiziert. ich bekomme immer noch Briefe,<br />

in denen gefragt wird, ob nicht eine wiedergeburt möglich<br />

wäre.«<br />

auch Verleger thomas ganske unterscheidet daher zwischen<br />

dem publizistischen und dem wirtschaftlichen ergebnis<br />

der Woche. »eine publizistische ambition hat immer zwei aspekte<br />

– den journalistischen inhalt und den ökonomischen er-<br />

314


folg. publizistisch war die Woche, solange sie erschien, ein gewinn;<br />

wirtschaftlich war sie kein erfolg.« Überdies weiß er, dass<br />

fehlschläge zum geschäft gehören. »wenn ein unternehmen<br />

sich über hundert Jahre lang am Markt behauptet, kann es<br />

nicht nur eine kette von erfolgsstorys geben. dazu gehören<br />

immer auch niederlagen.«<br />

Man muss sie sich aber leisten können. und dazu, dass am<br />

Jahresende die Zahlen unter dem strich trotz journalistischer<br />

und verlegerischer wagnisse wie Tempo oder Woche stimmen,<br />

sollen neben daheim, den etablierten Magazinen des Jahreszeiten<br />

Verlags oder dem Versandbuchhandel auch jüngere töchter<br />

wie gräfe und unzer, ipublish, travel house Media, Prinz<br />

oder hoffmann und campe corporate publishing beitragen.


neuntes kapitel<br />

die turen ¨ offnen ¨<br />

sich


d ie kulturrevolution fand an einem wochenende statt. während<br />

einer klausurtagung, zu der thomas ganske das<br />

spitzenmanagement seiner unternehmen am 9. und 10. Juni<br />

2001 geladen hatte, verkündete er, mit der praxis des »getrennt<br />

marschieren« sei es nun endgültig vorbei. Vom kommenden<br />

Montag an werde sich sein haus auch nach außen in all seiner<br />

Vielfalt als einheit darstellen und als »ganske <strong>Verlagsgruppe</strong>«<br />

auftreten. ihre führung wurde einer kurz zuvor gegründeten<br />

holdinggesellschaft, der ganske <strong>Verlagsgruppe</strong> gmbh, übertragen,<br />

an deren spitze ein Vorstand mit zunächst vier Mitgliedern<br />

gestellt wurde.<br />

intern war das neue Zeitalter schon drei Jahre früher eingeläutet<br />

worden: »die Zeit, in der die türen zwischen den unternehmen<br />

verschlossen waren, ist vorbei«, hatte der Verleger im<br />

august 1998 im editorial der ersten ausgabe einer Mitarbeiterzeitschrift<br />

mitgeteilt, die ebenfalls ein novum war und seither<br />

zweimal jährlich erscheint. Von stund an sollten alle Möglichkeiten<br />

der Zusammenarbeit genutzt und bisher brachliegende<br />

synergien systematisch ausgeschöpft werden. glasnost statt abschottung.<br />

das war nichts anderes als ein totaler Bruch mit der von seinem<br />

Vater über viele Jahrzehnte gepflegten unternehmenskultur.<br />

kurt ganske hatte immer wieder unternehmen gegründet<br />

und übernommen, es aber nie für notwendig gehalten, sie untereinander<br />

zu vernetzen. alle fäden liefen in der Zentrale zusammen,<br />

und er allein hielt sie in der hand. nun sollte zusammenwachsen,<br />

was zum teil schon seit mehr als einem halben<br />

319


Jahrhundert zusammengehörte. das war in der praxis zwar<br />

schon an vielen stellen der fall gewesen, wie thomas ganske<br />

den Mitarbeitern am Beispiel der »für-sie-kochbücher« illustrierte,<br />

die bei dem auf die pflege von gaumengenüssen spezialisierten<br />

Verlag gräfe und unzer erschienen. doch dass es<br />

sich dabei um eine kooperation innerhalb des eigenen hauses<br />

handelte, war vielen Mitarbeitern bis zu diesem tag verborgen<br />

geblieben.<br />

Viele staunten daher nicht schlecht, als sie in ihrer neuen<br />

Mitarbeiterzeitschaft auf einer doppelseite erstmals ein organigramm<br />

der gruppe entdeckten und auf der folgenden doppelseite<br />

eine bunt bebilderte chronik der geschichte ihres unternehmens<br />

fanden. »Mit dem Blick auf das ganze zeigt sich«,<br />

schrieb ihnen der Verleger, »wie wir von beziehungslos nebeneinander<br />

agierenden firmen zu einer gruppe miteinander arbeitender<br />

unternehmen geworden sind, die ihre leistungsfähigkeit<br />

und kompetenz effizienzsteigernd nutzen.« schon nach<br />

dem ersten Business-Meeting, das Mitte 1998 alle leitenden<br />

Mitarbeiter zusammengeführt hatte, war die interne Vernetzung<br />

und eine systematische kommunikation der entscheidungsträger<br />

eingeführt und energisch vorangetrieben worden.<br />

Man hatte mit dem aufbau von Mehrjahresplanungen begonnen,<br />

eine qualitative Zielsetzung eingeführt, die liquiditätssteuerung<br />

verbessert sowie die personalentwicklung und Mitarbeiterförderung<br />

innerhalb der gruppe harmonisiert. gleichzeitig<br />

wurde ein einheitlicher Marktauftritt beschlossen: wo ganske<br />

drin ist, sollte von stund an auch deutlich ganske <strong>Verlagsgruppe</strong><br />

draufstehen. gekrönt wurden die internen reformen<br />

drei Jahre später mit der umsetzung einer neuen unternehmens-<br />

und führungsstruktur.<br />

so wie bereits bei den ersten großen umbaumaßnahmen<br />

im Jahr 1982 wurde auch 2001 die kulturrevolution nach einer<br />

langen Vorbereitungsphase buchstäblich über nacht umgesetzt.<br />

was am wochenende mit den chefredakteuren und ge-<br />

320


schäftsführern noch diskutiert worden war, wurde bereits am<br />

folgenden Montag praktiziert.<br />

am gleichen tag wurden – ganz im sinne der neuen offenheit<br />

und durchsichtigkeit – nicht nur die Mitarbeiter, sondern<br />

auch alle geschäftspartner per Mail oder Brief über die neue<br />

konstruktion an der spitze des hauses informiert: den Vorsitz<br />

des holding-Vorstands und zugleich die leitung der Zeitschriftensparte<br />

sowie die gruppenübergreifende Marketing-Verantwortung<br />

übernahm thomas ganske selbst. seinem langjährigen<br />

Bevollmächtigten karl udo wrede vertraute er das ressort<br />

treasury und die sparte handel an. peter notz, bis dahin kaufmännischer<br />

geschäftsführer des Buchbereichs, erhielt die Zuständigkeit<br />

für das controlling. frank-h. häger tauschte seine<br />

aufgabe als geschäftsführer von gräfe und unzer in München<br />

gegen einen sitz im hamburger holdingvorstand ein, um die<br />

sparten Buch und e-Medien zu betreuen, inhaltliche und programmliche<br />

synergien zu bündeln und die internationalisierung<br />

der gruppe voranzutreiben.<br />

während die geschäftsfreunde darüber informiert wurden,<br />

dass die unternehmensgruppe im Jahr zuvor einen konsolidierten<br />

umsatz von 600 Millionen dM erzielt hatte und<br />

1600 Mitarbeiter beschäftige, erfuhren diese in dem für sie<br />

bestimmten rundschreiben, dass beim Business-Meeting am<br />

9. und 10. Juni das von den führungskräften der gruppe erarbeitete<br />

Markenhandbuch verabschiedet und den geschäftsführern,<br />

Verlagsleitern und chefredakteuren als verbindliche<br />

richtschnur übergeben worden sei. »es beschreibt positionierung<br />

und Zielgruppen unserer Marken und wird dazu beitragen,<br />

die Qualität unserer produkte und ihres auftritts sicherzustellen«,<br />

informierte sie der Verleger über die Bedeutung<br />

dieses führungsinstruments.<br />

tatsächlich handelt es sich nicht um irgendein handbuch,<br />

das vor allem zur Zierde des Bücherregals dienen soll, sondern<br />

um die »heilige schrift« des hauses. während des Business-<br />

321


Meetings war jedem spitzenmanager sein als persönlich und<br />

vertraulich gekennzeichnetes, nummeriertes exemplar gegen<br />

unterschrift ausgehändigt worden. »Zweck dieses ausschließlich<br />

für den internen gebrauch bestimmten handbuches ist es,<br />

die vereinbarten inhaltlichen und formalen gestaltungskriterien<br />

und -begrenzungen für die führung der jeweiligen Marken<br />

zu dokumentieren«, wird gleich zu Beginn klargestellt.<br />

das gemeinsam mit den für die Markenführung verantwortlichen<br />

Managern entwickelte handbuch, das neben dem gesamtauftritt<br />

und den führungsprinzipien der gruppe auch<br />

für jede einzelne Marke präzise festlegt, wie sie sich gegenüber<br />

der Öffentlichkeit zu präsentieren hat, soll dazu dienen, das<br />

profil der gruppe zu schärfen, das angestrebte Qualitätsniveau<br />

zu erreichen und die kompetenz der gruppe insgesamt<br />

ebenso deutlich zu machen wie die der einzelnen Marken.<br />

neuen Mitarbeitern, die im Verlagsmarketing tätig sind, soll<br />

das handbuch die einarbeitung und den umgang mit der jeweiligen<br />

Marke erleichtern. es enthält deshalb zu jeder firma<br />

und zu jedem ihrer produkte zunächst eine Markenhistorie,<br />

gefolgt von einer darstellung des Markenkonzepts, einer positionsbeschreibung<br />

und einer Vision. anschließend werden die<br />

Zielgruppen, der key-Benefit und der Markencharakter beschrieben.<br />

dazu gehört bei hoffmann und campe beispielsweise,<br />

dass man sich »als liberaler Verlag versteht, der einer<br />

aufklärerischen tradition verpflichtet ist. Bücher und autoren,<br />

die diesem ideal widerstreiten, werden von ihm nicht vertreten.«<br />

Bei gräfe und unzer dagegen heißt es an gleicher stelle:<br />

»gu steht nicht nur für überragende ratgeberische autorität<br />

und Zuverlässigkeit, sondern ebenso für spaß und genuss an<br />

selbstmotivierten eigenaktivitäten in alltag und freizeit.«<br />

auch für den exoten im portefeuille einer Mediengruppe,<br />

das 1982 eröffnete hotel hohenhaus, wird die latte hoch gehängt.<br />

Markenkonzept und Markenkern werden so beschrieben:<br />

»das relais & chateaux hotel hohenhaus zählt zu den<br />

322


zehn besten hotels in deutschland. das restaurant im hotel<br />

hohenhaus ist mit einem Michelin- stern und zwei kochmützen<br />

(16 punkte) im gault Millau ausgezeichnet worden. es<br />

zählt zu den führenden feinschmeckeradressen deutschlands<br />

und wurde vom feinschmecker- führer mit f f f ausgezeichnet.«<br />

das soll der Maßstab sein, an dem es sich auch weiterhin<br />

messen lassen muss. auf die darstellung des Markenkonzepts<br />

folgt jeweils eine Beschreibung des wettbewerbsumfelds und<br />

schließlich eine präzise festlegung des Markenlogos und des<br />

sonstigen erscheinungsbildes bis hin zu Briefbogen, Visitenkarten<br />

oder paketaufklebern. das alles immer nur in wenigen<br />

sätzen, knapp und übersichtlich.<br />

diese richtlinien sind zwar verbindlich, sollen aber, da weder<br />

die <strong>Verlagsgruppe</strong> noch die welt um sie herum stillsteht,<br />

nicht auf ewig wie in stein gemeißelt sein, sondern spätestens<br />

alle fünf Jahre kritisch durchgesehen und wo nötig überarbeitet<br />

werden. und damit kein Zweifel aufkommt, welche Bedeutung<br />

das alles hat, ist die redaktion des Markenbuches direkt<br />

beim Verleger angesiedelt. in der praxis ist es allerdings vor<br />

allem Vorstandsmitglied karl udo wrede, der die kontinuierliche<br />

weiterentwicklung dieses wichtigen führungsinstruments<br />

betreut.<br />

gemeinsam sind wir stärker<br />

die Änderung der führungsstruktur, die verstärkte transparenz<br />

im inneren und der einheitliche auftritt nach außen waren<br />

wichtige Voraussetzungen zur steigerung der effizienz<br />

und zur förderung der kooperation zwischen den verschiedenen<br />

Bereichen der unternehmensgruppe. aber das waren<br />

nicht die einzigen gründe dafür, dass thomas ganske sich<br />

entschloss, seinem Medienhaus auch nach außen ein gesicht<br />

mit klarem profil zu geben. anders als sein Vater, der jeden<br />

öffentlichen auftritt scheute, nie ein interview gab, keinen<br />

323


grund sah, die Öffentlichkeit über seine unternehmerischen<br />

aktivitäten zu informieren und auch für die meisten seiner angestellten<br />

in seinen letzten lebensjahrzehnten immer mehr<br />

der große unbekannte wurde, sucht sein sohn das gespräch<br />

mit den Mitarbeitern. er nimmt an Betriebsfesten und öffentlichen<br />

Veranstaltungen teil. er drängt sich zwar nicht danach,<br />

scheut sich aber auch nicht, dabei selbst das wort zu ergreifen.<br />

Mitarbeiter wissen allerdings auch davon zu berichten, dass es<br />

nicht leicht ist, von ihm die freigabe einer porträtaufnahme<br />

für eine pr-Broschüre, für interne Mitteilungen oder eine<br />

Buchveröffentlichung zu erreichen. er möchte sich nicht in<br />

den Vordergrund schieben. er hat daher auch lange darüber<br />

nachgedacht, ob es sinnvoll oder gar notwendig sei, den familiennamen<br />

mit dem der unternehmensgruppe zu verbinden.<br />

doch ein akronym, <strong>eines</strong> der heute so beliebten, aber bewusst<br />

nichtssagenden kunstwörter, kam für ihn nicht in frage. er ist<br />

überzeugt, dass ein familiengeführtes unternehmen auch gegenüber<br />

den Mitarbeitern und der Öffentlichkeit anders auftreten<br />

muss als eine anonyme kapitalgesellschaft. es muss sich<br />

zu seinem familiennamen bekennen – und auch zu den persönlichkeiten<br />

stehen, die es gegründet, weiterentwickelt und<br />

über Jahrzehnte das unternehmerische risiko getragen haben.<br />

es gab allerdings auch einen sehr handfesten grund dafür,<br />

dass sich thomas ganske entschloss, die gruppe von unternehmen,<br />

die er bis dahin ebenso wie sein Vater in seinem privatvermögen<br />

gehalten hatte, in eine kapitalgesellschaft, die<br />

2001 gegründete ganske <strong>Verlagsgruppe</strong> gmbh, einzubringen<br />

und sie mit diesem schriftlogo auch nach außen deutlich in<br />

erscheinung treten zu lassen. seither tritt jeder Bereich und jedes<br />

einzelne unternehmen deutlich erkennbar als Mitglied der<br />

gruppe auf. »Mein Vater hat große freude an dem gehabt, was<br />

er erreicht und geschaffen hat, eine innere freude am gelingen.<br />

aber es drängte ihn überhaupt nicht, das nach außen zu<br />

zeigen und ins licht zu stellen. es war auch nicht erforderlich«,<br />

324


erklärt der sohn, warum sein Vater als der »unbekannteste<br />

Verleger deutschlands« in die Mediengeschichte einging. »ich<br />

habe es zunächst kaum anders gemacht – so lange nicht, bis ich<br />

erkannt habe, dass eine angemessene innen- und außendarstellung<br />

heute einfach notwendig ist. irgendwann wurde deutlich,<br />

dass wir bestimmte dinge nur erreichen können, wenn<br />

wir klar sagen, wer wir sind, wo wir herkommen und was wir<br />

können.«<br />

eine der ersten erfahrungen dieser art war anfang der<br />

neunziger Jahre eine kooperation mit Bosch bei der entwicklung<br />

von navigationssystemen für pkws. der hintergrund war,<br />

dass in Japan fahrzeuge im oberen preissegment bereits mit<br />

navigationssystemen ausgestattet waren. sie wurden von den<br />

kunden angesichts der schwierigen Verkehrssituation und der<br />

orientierungsprobleme in japanischen städten, die selbst altgedienten<br />

taxifahrern oft größte schwierigkeiten bereiten, begeistert<br />

angenommen. außer BMw konnte damals kein deutscher<br />

anbieter einen solchen führer durch den großstadtdschungel<br />

bieten – mit der folge, dass der absatz deutscher nobelkarossen<br />

in Japan dramatisch einbrach. Bosch Blaupunkt erhielt daher<br />

von daimler den auftrag, innerhalb von nur neun Monaten<br />

ein einsatzfähiges navigationssystem zu entwickeln. »um<br />

uns von konkurrierenden produkten zu unterscheiden, wollten<br />

wir aber nicht nur ein system entwickeln, dass den fahrer zuverlässig<br />

zum eingegebenen Ziel führt, sondern das gerät mit<br />

einem Zusatznutzen versehen, erinnert sich gottfried h. dutiné,<br />

der seit 2002 dem Vorstand des niederländischen philips-konzerns<br />

angehört, damals aber an führender stelle bei<br />

der Bosch gmbh an der entwicklung beteiligt war. der stuttgarter<br />

elektrokonzern verfügte zwar über die technischen<br />

kenntnisse, brauchte aber einen partner, der die erforderlichen<br />

inhalte beisteuern konnte und über kompetenz in den<br />

Bereichen reise, touristik und kultur verfügte. interessiert<br />

an diesem zukunftsträchtigen projekt waren mehrere unter-<br />

325


nehmen, darunter auch Bertelsmann, damals der weltweit<br />

größte Medienkonzern. Vorstandschef Mark wössner warf sogar<br />

seine guten persönlichen Beziehungen zur führungsspitze<br />

von Bosch in die waagschale, um seinem unternehmen den<br />

Zuschlag zu sichern. dass sich die stuttgarter dennoch für<br />

die viel kleinere hamburger <strong>Verlagsgruppe</strong> entschieden, führt<br />

thomas ganske darauf zurück, dass »wir unsere kompetenz<br />

im Bereich reisenavigation, events, kochen und genießen<br />

überzeugend darstellen konnten«. die nordlichter konnten<br />

zeigen, dass sie es bei einer Bündelung ihrer kräfte in diesen<br />

Bereichen durchaus mit Bertelsmann aufnehmen konnten.<br />

»es war das erste Mal, dass wir die <strong>Verlagsgruppe</strong> und<br />

ihre kompetenz als ganzes dargestellt haben«, schildert thomas<br />

ganske diesen wendepunkt in der unternehmensgeschichte.<br />

schließlich hatten die hamburger hinsichtlich der Breite<br />

ihrer kompetenzfelder und Vertriebsmöglichkeiten auch einiges<br />

zu bieten – insbesondere, wenn es um die schönen seiten<br />

des lebens geht: den raschen Zugriff auf reisedaten, umfassende<br />

informationen über hotels und restaurants, hinweise<br />

auf Museen, schlösser und andere kulturdenkmäler, tipps für<br />

weintouristen oder golfspieler. und was eine gut sortierte,<br />

ständig aktualisierte reise- und event-datenbank angeht, muss<br />

man sich hinter niemand verstecken. Merian verbreitet seit<br />

1948 touristisch und kulturell relevante reiseinformationen;<br />

der Feinschmecker lebt davon, alles über die angesagtesten restaurants,<br />

die einfallsreichsten köche, die komfortabelsten hotels<br />

und besten weingüter der welt zu wissen. Zudem verfügt<br />

fast jedes Magazin des Jahreszeiten Verlags über eine eigene<br />

reiseredaktion, und Prinz sammelt so emsig event-daten wie<br />

kaum ein anderer. durch kooperationen ist auch der Zugang<br />

zu großen europäischen datenbanken im Bereich »schöner<br />

leben« gesichert. diese geballte kompetenz konnte im wettbewerb<br />

mit anderen aber nur dann angemessen herausgestellt<br />

326


werden, wenn die schleier fallen gelassen wurden, mit denen<br />

die unternehmen der gruppe jahrzehntelang mehr oder weniger<br />

dicht verhüllt waren.<br />

aus der Zusammenarbeit mit Bosch ging das erste navigationssystem<br />

mit integriertem elektronischem reiseführer<br />

hervor. »thomas ganske hat zu einem sehr frühen Zeitpunkt<br />

erkannt, welche Möglichkeiten sich bieten, wenn informations-<br />

und navigationssysteme zu einer einheit zusammenwachsen«,<br />

lobt gottfried h. dutiné und unterstreicht, dass die ganskegruppe<br />

auf diesem gebiet pionierarbeit geleistet hat. er erinnert<br />

sich aber auch an die großen technischen probleme, die<br />

anfang der neunziger Jahre zu lösen waren. die vorhandenen<br />

landkarten erwiesen sich als zu ungenau. die erforderliche<br />

elektronik steckte in den kinderschuhen. die speicherkapazitäten<br />

der datenträger waren gering. lösungen für eine farbige<br />

darstellung der karten und Zusatzinformationen mussten erst<br />

noch gefunden werden. »aber als das ergebnis der gemeinsamen<br />

arbeit vorlag, waren wir der konkurrenz um zehn Jahre<br />

voraus. Zum ersten Mal wurde die reine navigation mit einem<br />

echten Zusatznutzen verknüpft. das war eine echte innovation«,<br />

betont dutiné.<br />

diese exklusive kooperation mit Bosch war zwar zeitlich begrenzt,<br />

das interesse der ganske-gruppe an der weiterentwicklung<br />

hochwertiger navigationssysteme aber nicht. carsten<br />

leininger, der für dieses geschäftsfeld zuständig ist, verweist<br />

darauf, dass die umfassenden und ständig aktualisierten datenbestände<br />

über touristenziele im in- und ausland, die innerhalb<br />

der <strong>Verlagsgruppe</strong> seit Jahren systematisch gesammelt<br />

werden, eine hervorragende Basis für den aufbau von qualitativen<br />

reiseinformationssystemen bieten, bei denen navigation<br />

nicht nur bedeutet, auf dem kürzesten oder schnellsten weg<br />

von a nach B zu kommen, sondern die – frei nach goethe –<br />

nach dem prinzip funktionieren: »Man reist nicht nur, um anzukommen.«<br />

schließlich gibt es viele touristen, die nicht nur<br />

327


aun werden wollen, sondern auch etwas über die geschichte<br />

und kultur der landschaften erfahren möchten, durch die<br />

sie fahren oder wandern, und die bereit sind, vom geraden<br />

pfad abzuweichen, wenn rechts oder links davon schlösser und<br />

Burgen oder wunder der natur zu bestaunen sind, ein gemütliches<br />

hotel oder ein exzellentes restaurant zum Verweilen<br />

einladen.<br />

herkömmliche navigationssysteme hatten da wenig zu bieten.<br />

wer die schönen seiten des lebens genießen will, braucht<br />

einen elektronischen reiseführer, der ihn über alles informiert,<br />

was am wege liegt, und den der nutzer gezielt auf seine<br />

hobbys oder interessengebiete einstellen kann: gib mir ein<br />

signal, wenn wir in die nähe <strong>eines</strong> sterne-restaurants oder<br />

schlosshotels kommen; alarmiere mich, wenn es im umkreis<br />

von x kilometern ein sehenswertes Jugendstilgebäude oder einen<br />

golfplatz gibt; zeig mir den weg zu gotischen kathedralen<br />

oder romanischen Basiliken. Viele möchten während der fahrt<br />

durch den spessart etwas über das berühmte wirtshaus hören.<br />

andere würden sich gern durch die stimme <strong>eines</strong> sprechers<br />

über die schlacht von Valmy, den deutsch-französischen krieg<br />

1870/71 oder den frontverlauf im ersten weltkrieg informieren<br />

lassen, wenn sie sich bei einer fahrt über die a 5 in frankreich<br />

Verdun nähern. noch besser, wenn man auch noch aktuell<br />

erfahren kann, was da, wo man übernachtet, gerade los<br />

ist – im theater, in der konzerthalle oder im Museum. wo finden<br />

in der nähe Volksfeste oder Märkte statt? erst durch solche<br />

Zusatzleistungen kann aus einem schlichten navigationssystem<br />

ein kultivierter reiseführer werden.<br />

um solche qualitativen systeme weiterzuentwickeln und zu<br />

vertreiben, wurden die unternehmerischen aktivitäten der<br />

ganske <strong>Verlagsgruppe</strong> rund um das electronic publishing in<br />

der im Juli 2000 gegründeten Münchner ipublish gmbh zusammengeführt.<br />

sie soll die seit ende der neunziger Jahre von<br />

der unternehmensgruppe betriebene redaktionelle erstellung<br />

328


und Vermarktung geocodierter reiseinformationen weiter voranbringen.<br />

ipublish ist heute Marktführer für elektronische<br />

reiseführer, die mit autonavigationssystemen kombiniert sind.<br />

die daten liefert ihnen die Merian contentbase, die informationen<br />

über mehrere hunderttausend touristisch interessante<br />

orte in 15 europäischen ländern enthält und ständig aktualisiert<br />

und erweitert wird. »Merian scout reiseführer« werden<br />

auf den navigationssystemen von Blaupunkt, harman-Becker<br />

und siemens -Vdo eingesetzt. auf die inhalte der Merian-datenbank<br />

greifen auch die telematik-dienste von t-Mobile traffic<br />

und BMw assist zurück. darüber hinaus vermarktet ipublish<br />

die inhalte und Marken der ganske-Zeitschriften Merian, Feinschmecker<br />

und Prinz auf digitalem weg. auch die umfassenden<br />

informationen des zur gruppe gehörenden Buchverlags gräfe<br />

und unzer rund um küche, wein, natur und gesundheit können<br />

für digitale plattformen zur Verfügung gestellt werden.<br />

der schwerpunkt von ipublish liegt dabei in den themenfeldern<br />

reisen, lifestyle und wellness.<br />

das war nicht immer so. carsten leininger, der wie so mancher<br />

andere geschäftsführer seine karriere innerhalb der<br />

ganske-gruppe als assistent in der hamburger holding begonnen<br />

hat, musste erst einmal einiges restrukturieren und<br />

abschneiden, ehe er sich auf den energischen ausbau der reiseinformationssysteme<br />

konzentrieren konnte. dazu gehörte<br />

nicht nur, dass alle kräfte in der bayerischen landeshauptstadt<br />

gebündelt wurden, statt sie auf die zwei standorte hamburg<br />

und München aufzuteilen. um sich auch inhaltlich nicht<br />

zu verzetteln, wurden alle geschäftlichen aktivitäten abseits<br />

der touristischen pfade nach und nach eingestellt. »dadurch<br />

hat ipublish heute ein klares profil als elektronisches Verlagshaus<br />

im Bereich virtueller reiseführung und reiseberatung«,<br />

beschreibt leininger das ergebnis der fokussierung. Zwar<br />

wird noch eine umfassende datenbank betrieben, die leiniger<br />

nicht ohne stolz als die größte kombinierte reise-event-<br />

329


datenbank europas bezeichnet. doch das dient nicht mehr<br />

dem Ziel, als internet-agentur aufzutreten, die allen interessenten<br />

Zugriff auf ihre inhalte gewährt. statt anderen rohstoff<br />

zu liefern, werden eigene produkte entwickelt.<br />

nachdem schon 1994 aus der kooperation mit Bosch-Blaupunkt<br />

die erste reiseführer-navigations-cd für das auto entstanden<br />

war und weitere projekte mit verschiedenen partnern<br />

verwirklicht wurden, erschien 2000 zur expo der erste themenbezogene<br />

reiseführer. eine zweite, auf das ereignis bezogene<br />

navigations-cd wurde 2006 anlässlich der fußballweltmeisterschaft<br />

in deutschland auf den Markt gebracht. seit<br />

november 2006 ist »Merian scout« als Mercedes-Benz-reiseführer<br />

auf cd verfügbar, der wahlweise zu fast food oder spitzengastronomie,<br />

zum shopping oder zur schlossbesichtigung,<br />

zu weingütern oder spielcasinos führt und insgesamt mehr als<br />

36 000 detailliert beschriebene reiseziele kennt. ein neuer<br />

Meilenstein auf dem weg zum selbstgesteckten Ziel wurde mit<br />

»Merian scout navigator« erreicht, eine weltneuheit, die 2007<br />

als produktinnovation in den mobilen Markt eingeführt wurde.<br />

dieser perfekte reisebegleiter vereint navigation, reiseführer<br />

und audio-guide erstmalig in einem integrierten gesamtsystem<br />

aus hard- und software. Belohnt wurde das schon bei der<br />

ersten Vorstellung auf der ceBit in hannover mit dem »innovationspreis<br />

itk 2007« der initiative Mittelstand. der »Merian<br />

scout navigator« setzte sich dabei gegen insgesamt 1200 eingereichte<br />

produkte in der kategorie consumer electronics durch.<br />

falls die pflege der datenbanken, die perfektionierung der<br />

software und die weiterentwicklung der erforderlichen hardware<br />

auf dauer nicht aus eigener kraft finanziert werden kann,<br />

wäre thomas ganske sogar bereit, sich das erforderliche kapital<br />

an der Börse zu beschaffen. denn starkes wachstum in<br />

einem unternehmensbereich darf nicht durch eine schwächung<br />

auf anderen geschäftsfeldern erkauft werden. »Man<br />

darf sich nie gegen etwas verschließen. wenn wir im elektro-<br />

330


nischen Bereich ein neues geschäftsfeld eröffnen und dann<br />

<strong>eines</strong> tages feststellen, dass wir das in der erforderlichen größenordnung<br />

trotz bester erfolgsaussichten nicht aus eigener<br />

kraft stemmen können, würde ich einen Börsengang nicht<br />

grundsätzlich ausschließen – aber nur für diesen Bereich, niemals<br />

für die gesamte <strong>Verlagsgruppe</strong>.«<br />

die geheimen Millionäre<br />

wie sinnvoll und notwendig die entschleierung der gruppe<br />

und der entschluss waren, nach außen als leistungsstarke einheit<br />

aufzutreten, zeigte sich auch, als in hamburg beschlossen<br />

wurde, ein neues geschäftsfeld zu erschließen. »die idee ist eigentlich<br />

von außen an uns herangetragen worden«, erinnert<br />

sich peter rensmann, der inzwischen die geschäftsführung<br />

»special interest Magazine« übernommen hat, damals aber<br />

Verlagsleiter von Merian, A&W und Feinschmecker war. siemens<br />

hatte über den designer peter schmidt bei thomas ganske anfragen<br />

lassen, ob man sich in hamburg vorstellen könne, für<br />

den elektrokonzern eine neuartige Zeitschrift zu konzipieren.<br />

siemens suchte damals profis für die entwicklung und Betreuung<br />

<strong>eines</strong> Magazins, das nicht in erster linie über den konzern<br />

und seine produkte berichten und sich auch nicht an dessen<br />

direkte kunden wenden sollte. »New World sollte sich vor<br />

allem mit themen auseinandersetzen, die für die entscheidungsträger<br />

in wirtschaft, Verwaltung und gesellschaft relevant<br />

waren«, beschreibt rensmann die intentionen der Münchner.<br />

der Verleger hatte ihm den auftrag gegeben den »pitch«<br />

zu koordinieren. tatsächlich gewannen die newcomer 1996<br />

diesen wettbewerb um den etat <strong>eines</strong> kunden, bei dem verschiedene<br />

anbieter ihre unterschiedlichen konzepte, ihr leistungsspektrum<br />

und ihr team vorstellen: welche inhaltliche<br />

kompetenz kann ein Bewerber vorweisen, welche erfahrungen<br />

hat er bereits gesammelt, wie leistungsfähig ist er im anzeigen-<br />

331


geschäft und Vertrieb? auf welche personellen reserven kann<br />

er zurückgreifen?<br />

Bei der inhaltlichen und optischen gestaltung <strong>eines</strong> solchen<br />

Magazins konnte man zwar auf einen großen erfahrungsschatz<br />

im Zeitschriftenbereich bauen. aber anders als Merian<br />

oder petra sollte New World gleichzeitig in fünf verschiedenen<br />

sprachen erscheinen. neben der deutschen gab es auch eine<br />

englische, französische, spanische und eine portugiesisch-brasilianische<br />

ausgabe. das stellte die Macher nicht nur vor ungewohnte<br />

logistische probleme. sie mussten auch bei der<br />

themenwahl darauf achten, dass die Beiträge für leser in Brasilien<br />

oder großbritannien ebenso relevant waren wie für adressaten<br />

in deutschland.<br />

und einen namen musste der neue unternehmensbereich<br />

auch haben. »wir haben den Begriff corporate publishing gewählt,<br />

der dann im Markt zum gattungsbegriff wurde«, erinnert<br />

sich peter rensmann – und auch daran, dass die entwicklungsgruppe<br />

über arbeitsmangel nicht klagen konnte. »wir<br />

wollten das team zunächst so klein wie möglich halten. um die<br />

ausschreibungen zu bearbeiten, die auf den tisch kamen, haben<br />

wir oft die nächte durchgearbeitet und um zwei uhr<br />

nachts noch den pizza-service geholt.«<br />

nachdem sich in der Branche herumgesprochen hatte, dass<br />

hoffmann und campe den siemens-pitch gewonnen hatte,<br />

meldeten sich bald weitere interessenten. dazu gehörte auch<br />

BMw. 1996 hatte der Münchner autokonzern den auftrag für<br />

sein kundenmagazin, das zuvor fünf Jahre lang vom deutschen<br />

ableger des schweizer großverlags ringier betreut worden war,<br />

neu ausgeschrieben. richard gaul, damals für die Öffentlichkeitsarbeit<br />

von BMw verantwortlich, erkundigte sich bei Manfred<br />

Bissinger, ob die hamburger <strong>Verlagsgruppe</strong> daran interessiert<br />

sei, sich an dem pitch zu beteiligen,<br />

Bissinger war sogar sehr interessiert. er sah die chance,<br />

durch die produktion <strong>eines</strong> anspruchsvollen kundenmagazins<br />

332


eine zusätzliche finanzierungsquelle für seine Woche zu erschließen.<br />

doch als er diese idee mit thomas ganske diskutierte,<br />

kamen beide schnell zu dem ergebnis, dass das nicht<br />

der richtige weg sein könne. »das Blatt wäre sehr schnell in<br />

der Öffentlichkeit als BMw-infiziert denunziert worden. Man<br />

hätte uns unterstellt, dass wir nicht mehr objektiv über die<br />

autoindustrie berichten könnten, wenn die Woche so eng mit<br />

BMw verbandelt worden wäre.« um dieser gefahr aus dem<br />

weg zu gehen, wurde beschlossen, den neuen Bereich corporate<br />

publishing (cp) ins rennen zu schicken. dafür gab es<br />

auch noch andere gründe. das know-how, das bei den premium-Magazinen<br />

im Zeitschriftenbereich gesammelt worden<br />

war, konnte beim wettbewerb um die publikationen großer<br />

Markenartikelhersteller in die waagschale geworfen werden,<br />

und zwar als ein unternehmen, das – anders als eine agentur<br />

– im redaktionsbereich vernetzt ist, direkten Zugang zu<br />

guten autoren hat und überdies mit dem hoffmann und<br />

campe Verlag, der halbjährlich sein programm neu erfinden<br />

muss, weitere synergien bieten kann. Überdies hatte man als<br />

adresse einen angesehenen namen zu bieten.<br />

doch dann sah es so aus, als ob das geschäft mit BMw<br />

schon wieder vorbei sei, ehe es überhaupt begonnen hatte:<br />

der pitch ging an einen wettbewerber, den alten und nun<br />

auch wieder neuen chefredakteur der BMw-kundenzeitschrift.<br />

doch bei BMw musste man schon nach wenigen Monaten feststellen,<br />

dass man auf das falsche pferd gesetzt hatte. der gewinner<br />

der ausschreibung hatte mehr versprochen, als er halten<br />

konnte. deshalb fragten die autobauer bald erneut in<br />

hamburg an, ob hoca noch an dem auftrag interessiert sei.<br />

und diesmal ging der pitch klar an die Mannschaft von der<br />

alster.<br />

nun musste alles ganz schnell gehen. die nächste ausgabe<br />

des bereits seit vielen Jahren mit wechselnden titeln und konzepten<br />

erscheinenden kundenmagazins musste pünktlich er-<br />

333


scheinen. deshalb überraschte thomas ganske seinen assistenten<br />

kai laakmann, den er erst sieben wochen vorher von<br />

der universität Münster nach hamburg geholt hatte, an einem<br />

freitag mit der frage, ob er es sich vorstellen könne, nach München<br />

zu gehen, um dort eine redaktion für das BMW Magazin<br />

aufzubauen. Bedenkzeit zwei stunden. der autokonzern hatte<br />

den auftrag mit der auflage verbunden, dass das redaktionsbüro<br />

in räumlicher nähe zu seiner Zentrale in München arbeiten<br />

müsse. »am Montag danach war ich mit meinem koffer in<br />

München.« es ging zunächst darum, Mitarbeiter und räume<br />

zu finden, eine telefonanlage und computer zu beschaffen.<br />

räume fand laakmann rasch beim gräfe und unzer Verlag,<br />

der damals schon seit sieben Jahren zur gruppe gehörte. die<br />

anderen punkte auf seiner dringlichkeitsliste ließen sich nicht<br />

so leicht abhaken. doch das tempo diktierte der nächste erscheinungstermin.<br />

das aktuelle BMW Magazin musste zur gewohnten<br />

Zeit bei den kunden sein.<br />

nachdem die ersten aufträge sicher waren, begann peter<br />

rensmann 1997 bei hoffmann und campe mit dem systematischen<br />

aufbau des Bereichs corporate publishing, der sich<br />

schon bald bei einer reihe weiterer ausschreibungen durchsetzen<br />

konnte. dazu gehörten unter anderem: das RWE magazin,<br />

von dem elf regionalausgaben erscheinen und zu dem bei<br />

Bedarf aktuelle »spin-offs« kommen. die westspiel-gruppe<br />

umwirbt mit Casino live Menschen, die geld ausgeben können,<br />

während sich die deutsche Bank mit results an Manager wendet,<br />

die geld verdienen wollen. Juwelier wempe vertraut die<br />

produktion s<strong>eines</strong> kundenmagazins den hamburgern ebenso<br />

an wie die rag, die nachfolgegesellschaft der ruhrkohle ag.<br />

sie lässt das RAG Magazin für ihre geschäftspartner und Folio<br />

für ihre Beschäftigten von corporate publishing betreuen.<br />

Best Practice wird für die kunden von t-systems maßgeschneidert,<br />

und Haspa Joker wendet sich an alle, die der hamburger<br />

sparkasse ihr geld anvertrauen. der Baukonzern hochtief<br />

3<strong>34</strong>


nutzt concepts, um geschäftspartnern in aller welt die Breite<br />

s<strong>eines</strong> leistungsspektrums in wort und Bild zu demonstrieren.<br />

und die Münchner autobauer schließlich waren mit ihrem kooperationspartner<br />

offenbar so zufrieden, dass sie ihm 2001<br />

auch die publikation von M INI International übertrugen, das<br />

heute in mehr als 60 ländern gelesen wird.<br />

Mit auflagen von teilweise über drei Millionen exemplaren,<br />

von denen k<strong>eines</strong> als remittende zurückkommt, zählen einige<br />

dieser Blätter zu den spitzenreitern der Zeitschriftenbranche –<br />

was allerdings kaum jemand weiß. laute werbekampagnen<br />

oder plakative hinweise auf auflage und reichweite erübrigen<br />

sich in diesem Marktsegment. nicht die Zahl der abonnenten<br />

und der Verkaufserfolg am kiosk bestimmen die höhe der<br />

druckauflage, sondern der herausgeber. er entscheidet in der<br />

regel, welchen kunden sie überreicht oder ins haus gebracht<br />

wird. Manche können aber auch von zahlenden interessenten<br />

abonniert werden.<br />

Jedes Magazin ist auf den besonderen charakter des unternehmens<br />

zugeschnitten, an dessen kunden oder Mitarbeiter<br />

es sich wendet. obwohl sie für den gleichen auftraggeber produziert<br />

werden, unterscheiden sich auch die konzepte für das<br />

BMW Magazin und M INI International deutlich. während sich<br />

die eine publikation vor allem an leser wendet, die an technik<br />

interessiert sind, »freude am fahren« haben, kultur schätzen<br />

und ein wenig luxus zu genießen verstehen, ist das andere<br />

mehr ein lifestyle-Magazin als eine autozeitschrift. M INI International<br />

spiegelt das lebensgefühl der fahrerinnen und fahrer<br />

des kultautos, die mit der entscheidung für dieses fortbewegungsmittel<br />

oft auch ihre weltanschauung zum ausdruck bringen<br />

möchten. Jedes heft ist einer anderen Metropole und ihren<br />

jungen talenten gewidmet. daher wundert sich niemand,<br />

wenn in einer ausgabe mit dem schwerpunktthema hongkong<br />

nicht der Mini, sondern Musik und Mode, designer und sportler<br />

sowie die in-spots der stadt im Mittelpunkt stehen. Jedem<br />

335


Magazin liegt zudem als add-on eine cd mit sounds & pictures<br />

bei, die beispielsweise im hongkong-heft einen eindruck<br />

von den werken fernöstlicher rapper und filmemacher vermittelt.<br />

ebenso wie M INI International findet man das BMW Magazin<br />

auch an ausgewählten Verkaufsstellen. es unterscheidet<br />

sich aber von den meisten der dort ausliegenden Magazine<br />

nicht nur dadurch, dass die große Mehrzahl der über drei Millionen<br />

gedruckten exemplare den BMw-kunden in aller welt<br />

vorbehalten sind. es dürfte auch kaum eine andere deutsche<br />

Zeitschrift geben, die so international ist. das BMW Magazin<br />

erscheint in 33 sprachen und erreicht leser in 117 ländern.<br />

dabei weisen die verschiedenen sprachausgaben inhaltlich in<br />

der regel nur wenige unterschiede auf. die chinesische ausgabe<br />

allerdings wird aus politischen gründen in drei Versionen<br />

produziert: für china Mainland, hongkong und taiwan.<br />

leser in den usa oder Japan finden ebenfalls Beiträge, die die<br />

jeweiligen Besonderheiten dieser Märkte berücksichtigen.<br />

auch bei kleineren teilausgaben werden gelegentlich Beiträge<br />

ausgetauscht – zum Beispiel, wenn ausführlich über moderne<br />

dieselmotoren für pkw berichtet wird. »ein grieche fährt einfach<br />

keinen diesel, das ist für ihn undenkbar. dieselmotoren<br />

sind in seinen augen nur etwas für lkw und Busse«, erklärt<br />

kai laakmann, der gemeinsam mit Manfred Bissinger und andreas<br />

siefke dem Bereich corporate publishing als geschäftsführer<br />

vorsteht, warum in solchen fällen eine »extrawurst gebraten«<br />

wird. in exemplaren, die für die arabische welt<br />

bestimmt sind, werden alle Bilder ausgetauscht, die dort anstoß<br />

erregen könnten. da reicht es schon, wenn neben den<br />

fahrzeugen weibliche wesen zu sehen sind, deren arme nicht<br />

bis zum handgelenk sittsam bedeckt sind.<br />

die von keinem anderen kundenmagazin übertroffene artenvielfalt<br />

des BMW Magazins wird noch dadurch erhöht, dass<br />

es neben den über 30 sprachausgaben auch spezial-editionen<br />

336


für die fahrer von dienstwagen und für entscheidungsträger<br />

in fuhrparks gibt – getrennt nach firmen- und Behördenfuhrparks.<br />

»es gibt weltweit wohl kaum eine andere<br />

kundenzeitschrift dieses niveaus, die so breit aufgestellt ist,«<br />

vermutet peter rensmann.<br />

produziert wird diese breite palette von einer relativ kleinen<br />

redaktion, die allerdings auf einen großen kreis freier Mitarbeiter<br />

zurückgreifen kann. ebenso wie bei den anderen unternehmenspublikationen<br />

arbeiten text- und Bildredakteure,<br />

creative directors oder layouter bei hoca in der regel nur<br />

für ein Magazin und nicht gemeinsam in einem großen pool,<br />

in dem man am Morgen für das eine Blatt und am nachmittag<br />

für ein anderes tätig ist. die chefredakteure und autoren haben<br />

immer einen engen fachlichen Bezug zu ihrem thema.<br />

diesen luxus leistet sich nicht jeder Verlag, der im Bereich unternehmenszeitschriften<br />

tätig ist. »das ist zwar etwas teurer,<br />

hat aber den enormen Vorteil, dass die Blattmacher die spezifischen<br />

Bedürfnisse des kunden kennen und diese ihre ansprechpartner.<br />

sie können auf leseranfragen besser reagieren,<br />

und vor allem haben sie eine stärkere emotionale Bindung an<br />

ein Magazin, in dessen impressum sie als verantwortliche gestalter<br />

ausgewiesen sind«, erläutert andreas siefke die Verlagspolitik.<br />

die für deutschland und die west- und osteuropäischen<br />

länder bestimmten ausgaben des BMW Magazins werden in<br />

der Bundesrepublik gedruckt, die für australien, asien und<br />

die usa produzierten ausgaben dagegen werden vor ort hergestellt.<br />

sie per luftfracht zu verschicken, wäre zu teuer, sie<br />

mit dem schiff zu transportieren, zu zeitraubend. in beiden<br />

fällen würde der kostenvorteil konterkariert, den ein druck<br />

der gesamtausgabe in deutschland hätte.<br />

Zu den gründen dafür, dass immer mehr unternehmen die<br />

produktion ihrer Mitarbeiter- und kundenzeitschriften nicht<br />

mehr ihrer pr-abteilung überlassen, sondern agenturen oder<br />

337


Verlage damit beauftragen, gehört nicht nur deren größere<br />

professionalität, ihre erfahrung mit der inhaltlichen und optischen<br />

gestaltung von Magazinen oder ihre kontakte zu geeigneten<br />

autoren. anders als Branchenfremde verfügen Verlage<br />

auch über kompetenz im papiereinkauf, in der Verwaltung<br />

großer abonnentendatenbanken und dem kostengünstigen<br />

Vertrieb von Magazinen. sie haben zudem erfahrung im umgang<br />

mit druckereien und deren terminnöten. Bei der ganske<br />

<strong>Verlagsgruppe</strong> kommt noch hinzu, dass sie keine eigenen grafischen<br />

Betriebe besitzt, die ausgelastet sein wollen. sie kann<br />

daher ebenso wie beim druck ihrer eigenen publikumszeitschriften<br />

und Bücher den jeweils günstigsten und besten anbieter<br />

wählen.<br />

<strong>eines</strong> kann ein großes Verlagshaus in jedem fall besser als<br />

seine kunden: anzeigen akquirieren. denn da, wo sich dies anbietet<br />

und der auftraggeber es wünscht, werden die seiten der<br />

unternehmensmagazine auch für die werbung von fremdfirmen<br />

geöffnet – zum Beispiel bei results, dem firmenkundenmagazin<br />

der deutschen Bank, oder Casino live. auch in den<br />

beiden Magazinen des Münchner autokonzerns oder dem<br />

Wempe Magazin können andere anbieter produkte präsentieren,<br />

mit denen man sich das leben schöner machen kann. da<br />

die anzeigen von einer Mannschaft vermarktet werden, die<br />

auch die premium-Magazine im Jahreszeiten Verlag verantwortet,<br />

können potenzielle inserenten auch auf die kundenzeitschriften<br />

aufmerksam machen. und das freut die herausgeber<br />

der Magazine: anzeigenerlöse entlasten ihren etat. das kann<br />

ihnen nur ein Verlag bieten, der über eine breite palette von<br />

publikumszeitschriften verfügt.<br />

338


spielwiese für kreative<br />

neben der produktion von kunden- und Mitarbeiterzeitschriften<br />

bietet hoffmann und campe cp auch die konzeption und<br />

gestaltung sogenannter corporate Books an. das angebot<br />

umfasst Biographien von unternehmern, die sich und ihr werk<br />

der Öffentlichkeit präsentieren möchten, festschriften, Jubiläumsbücher,<br />

imagebücher und sogenannte reader. das sind<br />

von sponsoren finanzierte Bücher zu aktuellen fragen wie beispielsweise<br />

»Made in germany ’21«, ein Manifest für technologische,<br />

soziale und kulturelle erneuerung, oder »innovationen«,<br />

ein Buch, in dem 16 autoren zu erklären versuchen, wie<br />

bedeutend innovationen für die entwicklung von wirtschaft<br />

und gesellschaft sind. eine andere sammlung von Beiträgen<br />

informiert interessierte leser unter dem titel »das neue Miteinander«<br />

über die Bedeutung und die Möglichkeiten von<br />

public private partnership. es kann aber auch eine sammlung<br />

von reden sein, wie sie im oktober 2002 von prominenten<br />

teilnehmern bei einer gedenkveranstaltung für die opfer des<br />

raf-terrors gehalten wurden. sie erschien zusammen mit einer<br />

chronik dieser Zeit unter dem titel »freiheit und demokratie«<br />

in Zusammenarbeit mit der dresdner Bank. einige dieser<br />

Bücher sind nur für einen limitierten empfängerkreis<br />

gedacht, andere sind auch über den Buchhandel erhältlich.<br />

eine besondere herausforderung stellen unternehmenschroniken<br />

dar, festschriften zum 100. oder 250. firmenjubiläum.<br />

denn es ist oft nicht nur äußerst schwierig, die zur<br />

rekonstruktion der firmengeschichte notwendigen daten zusammenzutragen.<br />

Man gerät auch leicht in »vermintes gebiet«,<br />

weil persönliche eitelkeiten berührt werden, bestimmte personen,<br />

die früher eine wichtige rolle spielten, inzwischen verfemt<br />

sind oder man heutzutage auf bestimmte geschäfte nicht<br />

mehr besonders stolz ist. die lösung solcher probleme wird<br />

auch nicht gerade erleichtert, wenn die Verantwortlichen im<br />

339


unternehmen oft erst kurz vor toresschluss auf den gedanken<br />

kommen, ihren Mitarbeitern, den geschäftsfreunden und Vertretern<br />

der Öffentlichkeit pünktlich zur Jubelfeier ein repräsentatives<br />

werk über die wechselhafte geschichte des unternehmens,<br />

seiner gründer und verdienten Mitarbeiter in die<br />

hand zu drücken. wenn es dann mehr als eine bloße pflichtübung<br />

sein soll, ist kreativität gefragt. sonst verschwindet das<br />

teure werk meist ungelesen in Bücherschränken oder – schlimmer<br />

noch – in Mülltonnen. damit eine chronik nicht als bloße<br />

pflichtübung erscheint, muss sie inhaltlich und optisch so gestaltet<br />

sein, dass sie lust am lesen weckt. das ist bei herkömmlichen<br />

Jubiläumsschriften eher selten der fall.<br />

um aus eingefahrenen gleisen herauszukommen, wurden<br />

anlässlich der 125-Jahr-feier der Bundesdruckerei im Jahr 2004<br />

neben allerlei prominenz auch zwei Meisterklassen der Berliner<br />

universität der künste aufgefordert, Bildbeiträge zum zentralen<br />

thema der Jubiläumsschrift zu liefern. dabei sollte ein<br />

kontrapunkt zu den produkten und dienstleistungen des unternehmens<br />

gesetzt werden, das auf die herstellung fälschungssicherer<br />

dokumente spezialisiert ist. in einer Zeit der allgemeinen<br />

digitalisierung, der massenhaften erfassung von daten<br />

bis hin zu biometrischen Merkmalen und der entschlüsselung<br />

des gencodes sollten sich die autoren aus politik, kultur und<br />

wirtschaft gedanken über die »identität im digitalen Zeitalter«<br />

machen. die Bilder der kunststudenten erschienen nicht<br />

nur in der festschrift. sie konnten auch in mehreren galerien<br />

bewundert werden. die erste ausstellung wurde 2004 in Berlin<br />

vom damaligen Bundeskanzler gerhard schröder eröffnet.<br />

einen besonders gelungenen Beweis dafür, dass publikationen,<br />

die anlässlich <strong>eines</strong> Jubiläums herausgegeben werden,<br />

nicht langweilig sein müssen, lieferten die hamburger sparkasse<br />

und hoffmann und campe corporate publishing zum<br />

175. geburtstag der haspa im Jahr 2002. sie entschlossen sich,<br />

statt einer selbstbespiegelung des Jubilars lieber der hanse-<br />

<strong>34</strong>0


stadt und ihren Bürgern ein geschenk zu machen. in Zusammenarbeit<br />

zwischen der redaktion, einem 14-köpfigen fachbeirat<br />

und vor allem mit den Bürgern der stadt entstand so<br />

»hamburg – das haspa-handbuch für alle stadtteile der hansestadt«.<br />

es ist nicht nur der geschichte der stadt und ihrer<br />

höchst unterschiedlich geprägten stadtteile gewidmet, sondern<br />

erzählt auch geschichten von frauen und Männern, die<br />

darin leben. es schildert die regionale kultur und wirtschaftsstruktur,<br />

berichtet über das freizeitangebot, die sozialstruktur<br />

und das wohnumfeld im jeweiligen kiez – vom einst dänischen<br />

altona über das elegante Blankenese und den sozialen Brennpunkt<br />

Mümmelmannsberg bis hin zum geschichtsträchtigen<br />

Zollenspieker. Begleitet wurde die arbeit an dem Buch durch<br />

»redaktionsstammtische« in Bürgervereinen, von der haspa<br />

gesponserte stadtteilfeste, ausstellungen in den filialen sowie<br />

eine regelmäßige Berichterstattung über den stand der arbeiten<br />

in den regionalen Medien. Zu den Mitarbeitern gehörten<br />

senatsmitglieder und schülergruppen, ortsvereine, professoren<br />

und renommierte fotografen. der kampf einer Bürgerinitiative<br />

um eine Bushaltestelle schien der redaktion ebenso<br />

einer schilderung wert wie der Bau der gewaltigen festungsanlagen,<br />

mit denen die stadt ihre einwohner einst vor den<br />

schrecken des dreißigjährigen krieges (1618 –1648) bewahren<br />

konnte.<br />

als das ergebnis all dieser Mühen vorlag – ein opulent ausgestattetes,<br />

1184 seiten starkes, vierfarbig gedrucktes werk,<br />

dessen relativ günstiger preis von 39,90 euro der großzügigen<br />

finanziellen unterstützung durch den sponsor zu verdanken<br />

war –, erntete es in den Medien ein fast überschwängliches<br />

lob. noch wichtiger war, dass das handbuch bei den hamburgern<br />

gut ankam: Von den 50 000 gedruckten exemplaren ging<br />

der weitaus größte teil über den ladentisch zu den lesern.<br />

das war angesichts des preises und <strong>eines</strong> Marktes, der im wesentlichen<br />

durch die grenzen der hansestadt bestimmt ist, ein<br />

<strong>34</strong>1


sensationelles ergebnis. Von einem vergleichbaren Buch über<br />

die Bundesrepublik müssten rund 2,4 Millionen exemplare<br />

verkauft werden, um einen ähnlich großen erfolg zu erzielen.<br />

Manchmal ist es allerdings gar nicht erwünscht, dass ein<br />

corporate Book viele leser findet. so wurde »Z8« 2001 exklusiv<br />

für käufer des gleichnamigen BMw roadsters konzipiert.<br />

das Begleitbuch war so einzigartig wie jedes der weitgehend<br />

von hand gefertigten fahrzeuge. die special edition für die<br />

erwerber des Z8 war ausgestattet mit aufwendig gestalteten fotos<br />

des sportwagens und seiner technischen details. da das<br />

Buch so exklusiv sein sollte wie das dazugehörende automobil,<br />

wurde dessen fahrgestellnummer auf der ersten seite eingestanzt,<br />

ein foto des erworbenen fahrzeugs von hand eingefügt<br />

und jedes »Z8«-exemplar in das gleiche farbige leder<br />

gebunden, das der kunde für die sitze s<strong>eines</strong> wagens gewählt<br />

hatte. »als wir uns darauf eingelassen haben, wussten wir noch<br />

nicht, was es bedeutet, rund 6000 Bücher so zu individualisieren«,<br />

stöhnte kai laakmann noch Jahre später. »wir waren<br />

sehr erleichtert, als das letzte Buch fehlerfrei ausgeliefert<br />

war.«<br />

Bei den 40 000 exemplaren, die vom »BMw 6er« gedruckt<br />

wurden, wäre so viel handarbeit gar nicht zu leisten gewesen.<br />

dafür erschien der Band in 14 Varianten: in sieben sprachen<br />

und zwei ausstattungsformen – die eine in einem wattierten<br />

ledereinband mit schuber für die käufer der luxuskarosse<br />

und die andere in einem etwas schlichteren gewand für die<br />

platonischen freunde des gran-tourismo-automobils, die den<br />

Bildband im Buchhandel für 69,90 euro erwerben konnten.<br />

die texte über die lange tradition dieser fahrzeuge, die detaillierte<br />

Beschreibung des aktuellen Modells sowie die opulente<br />

ausstattung mit fotos und die grafische gestaltung des<br />

Buches erfreuten nicht nur autofans. sie überzeugte auch<br />

sechs international besetzte Jurys, die es 2004 und 2005 mit<br />

preisen überhäuften.<br />

<strong>34</strong>2


für das ebenfalls mit einem design award ausgezeichnete,<br />

im auftrag von rwe produzierte Buch »mensch+strom« ließ<br />

man sich eine »artgerechte aufmachung« einfallen. um die<br />

faszination des themas elektrizität sinnlich erlebbar zu machen,<br />

wurde ein fluoreszierender umschlag entwickelt, der das<br />

Buch im dunkeln leuchten lässt. gleich sieben Jurys ließen<br />

sich von der ebenfalls für rwe produzierten »agenda edition<br />

no. 1« zum thema wasser begeistern. hier diente eine wassergefüllte<br />

tasche, eingebettet in einen kunststoffschwamm, als<br />

Verpackung. corporate Books – eine spielwiese für kreative.<br />

auch bei den für Bulthaupt, die georgsmarienhütte oder für<br />

unilever produzierten Büchern konnten die designer ihrer<br />

phantasie freien lauf lassen.<br />

gut, wenn man von Marketing<br />

keine ahnung hat<br />

Zu den unternehmensbereichen, die wesentlich zur schärfung<br />

des kompetenzprofils der <strong>Verlagsgruppe</strong> beitragen, gehören<br />

zwei, die erst während der »regierungszeit« von thomas ganske<br />

zu familienmitgliedern wurden: das event-Magazin Prinz<br />

und der traditionsreiche ratgeberverlag gräfe und unzer. »da<br />

sind wir immer zu zweit im auto hingefahren, mehr als tausend<br />

kilometer, bis königsberg«, antwortete sein Vater, als dieter<br />

Banzhaf ihn als Branchenkenner 1964 fragte, was er ihm<br />

über gräfe und unzer sagen könne. »das war die größte und<br />

beste Buchhandlung europas.« sie hatte vieles von dem vorweggenommen,<br />

was erst Jahrzehnte später wieder neu entdeckt<br />

wurde: die Bücher standen nicht unzugänglich für die kunden<br />

in regalen, sondern lagen auf großen tischen. es gab<br />

lesezimmer für erwachsene und für kinder, ausgestattet mit<br />

altersgerechten Möbeln und Büchern, in denen die kleinen<br />

Besucher nach Belieben blättern konnten, erinnerte sich der<br />

Vater. »aber was daraus geworden ist, weiß ich nicht.«<br />

<strong>34</strong>3


das interesse dieter Banzhafs an gräfe und unzer hatte<br />

eine winzige stellenanzeige im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels<br />

geweckt. gesucht wurden Vertriebsmitarbeiter. Banzhaf<br />

bewarb sich und wurde zu seiner Überraschung vom damaligen<br />

Verleger kurt prelinger zu einem gespräch in dessen<br />

Münchner Büro eingeladen. dabei musste er allerdings kleinlaut<br />

gestehen, dass er von Vertrieb und werbung eigentlich<br />

nicht die geringste ahnung hatte – und bekam dennoch die<br />

stelle. 1965 wurde er mit 27 Jahren Vertriebs- und werbeleiter.<br />

der Verlag hatte zu der Zeit allerdings so gut wie nichts mehr<br />

mit der Buchhandlung gemein, an die sich Banzhafs Vater so<br />

gern erinnerte.<br />

keimzelle des gräfe und unzer Verlags, der seit 1990 zur<br />

ganske <strong>Verlagsgruppe</strong> gehört, war eine Bücherstube, die im<br />

Jahr 1722 auf grund <strong>eines</strong> königlichen privilegs im damals<br />

preußischen königsberg von christoph gottfried eckard, einem<br />

aus sachsen zugewanderten Buchhändler, gegründet wurde.<br />

die tochter ist somit 185 Jahre älter als ihre heutige, 1907<br />

in kiel gegründete Mutter. nach Jahren übertrifft der heutige<br />

ratgeberverlag selbst die hamburger schwester hoffmann und<br />

campe deutlich, als deren geburtsjahr 1781 gilt. damals erschien<br />

das erste, 16 titel umfassende Verlagsprogramm des in<br />

hamburg ansässigen Buchhändlers gottlob hoffmann. sein<br />

späterer kompagnon und schwiegersohn machte erst seit 1800<br />

als Buchverleger auf sich aufmerksam.<br />

nachdem die Buchhandlung in königsberg bereits mehrfach<br />

den Besitzer und den namen gewechselt hatte, wurde sie<br />

1798 von ihrem späteren alleininhaber august wilhelm unzer<br />

übernommen, der sie drei Jahrzehnte später an seinen sohn<br />

Johann und seinen schwiegersohn, den aus hamburg stammenden<br />

Buchhändler heinrich eduard gräfe, weitergab.<br />

Beide zusammen gaben 1832 dem unternehmen ihre namen –<br />

und damit das einzige, was bis heute von der firma erhalten<br />

geblieben ist. schon vier Jahre später stieg der sohn aus dem<br />

<strong>34</strong>4


gemeinschaftsunternehmen aus. auch die familie gräfe<br />

trennte sich 1878 von der Buchhandlung.<br />

als gräfe und unzer 1932 in königsberg seinen 100. namenstag<br />

und sich selbst dabei als europas größte und modernste<br />

Buchhandlung feierte, trug das unternehmen zwar<br />

noch den alten namen, hatte aber schon wieder fünfmal den<br />

Besitzer gewechselt. Bernhard koch wiederum, der 1927 die<br />

leitung des renommierten »hauses der Bücher« übernommen<br />

hatte, konnte nach der fast völligen Zerstörung königsbergs<br />

bei seiner flucht in den westen 1945 nur noch den firmennamen<br />

mitnehmen. er übernahm in Marburg eine Buchhandlung<br />

und erhielt 1947 eine Verlagslizenz, die es ihm erlaubte,<br />

unter dem namen »gräfe und unzer« Bücher zu publizieren.<br />

»als ich dorthin kam, war neben dem 1955 als weiterem gesellschafter<br />

eingetretenen kurt prelinger auch der senior aus<br />

königsberg noch im unternehmen tätig, das damals vor allem<br />

von seinen treuen ostpreußischen kunden lebte, die es ebenfalls<br />

in den westen geschafft hatten«, erinnert sich Banzhaf.<br />

Man produzierte ostpreußenkalender, Bildbände mit fotos<br />

aus der alten heimat und die werke von dichtern, die die vergangenen<br />

Zeiten besangen. Man verkaufte nostalgische schallplatten,<br />

wimpel und aschenbecher mit den wappen von königsberg,<br />

Breslau und danzig oder was sonst noch an die<br />

verlorene heimat erinnerte – »das älteste vom alten«. der vorwiegend<br />

mit solchem erinnerungskitsch und den neu hinzugekommenen<br />

Bavarica erzielte umsatz lag bei bescheidenen<br />

800 000 Mark.<br />

allerdings hatte prelinger den kurswechsel bereits eingeleitet.<br />

als kunstliebhaber »mit einem enormen gespür für farben<br />

und formen« begann er, prachtvolle Bildbände über Venedig,<br />

rom oder florenz und deren kunstschätze zu produzieren.<br />

die mit diesem sortiment erzielten umsätze waren jedoch zum<br />

leben zu wenig und zum sterben zu viel. aber dann kam prelinger<br />

das glück des tüchtigen zu hilfe. heinz riedel, ein Ver-<br />

<strong>34</strong>5


treter, der für mehrere Verlage den norden deutschlands bereiste,<br />

nahm auch immer ein paar Bücher von gräfe und unzer<br />

mit, »nicht weil er viel davon verkaufte, sondern weil er prelinger<br />

irgendwie mochte«, erinnert sich Banzhaf. <strong>eines</strong> schönen<br />

tages berichtete riedel, er habe einen koch kennengelernt,<br />

der wirklich gut und auf dem weg sei, ins fernsehen zu kommen.<br />

Mit dem solle man doch mal ein gespräch führen, ehe<br />

andere auf die idee kämen. der koch war arne krüger. das<br />

gespräch kam zustande. als ergebnis des gemeinsamen Brainstormings<br />

entstand ein Buch, das 1964 unter dem titel »spezialitäten<br />

aus aller welt« erschien.<br />

Bücher für genießer<br />

der Zeitpunkt hätte besser nicht sein können. die Bundesbürger<br />

durften und wollten endlich in die große weite welt. sie<br />

entdeckten jenseits der grenzen ganz neue gaumenfreuden<br />

und wollten sie nach ihrer rückkehr auch zu hause genießen.<br />

da kam so ein Buch gerade recht. »es hatte eine tolle aufmachung<br />

und war von arne krüger wunderschön gemacht«, lobt<br />

Banzhaf. es war allerdings mit 49 Mark auch recht teuer. »das<br />

war damals ein wahnsinnspreis.« es verkaufte sich dennoch erstaunlich<br />

gut und wurde so zur ersten stufe einer erfolgsleiter,<br />

auf der gräfe und unzer bis heute nach oben klettert.<br />

kurt prelinger, der eine spürnase für produkte, trends und<br />

neue optiken hatte, machte noch ein kochbuch und noch<br />

eins. »aber wir waren nur einer der kleinen unter damals wahrscheinlich<br />

mehr als dreißig Verlagen, die kochbücher produzierten<br />

– und unter denen waren einige der ganz großen in<br />

der Verlagsbranche«, skizziert dieter Banzhaf die ausgangslage.<br />

doch die gewichte in der Verlagsarbeit verschoben sich<br />

schrittweise. die ostpreußen-nostalgica traten mehr und mehr<br />

hinter den immer zahlreicheren, farbigeren und phantasievolleren<br />

kochbüchern zurück und wurden schließlich ganz<br />

<strong>34</strong>6


ausgemustert. prelinger hatte zudem die idee, ein neues format<br />

zu entwickeln: quadratisch, praktisch, gut. die küchen-ratgeber,<br />

die 1975 erstmals auf den Markt kamen, wurden bald<br />

für preiswerte paperbacks zum standard. sie waren handlich,<br />

erlaubten eine optimale nutzung des druckpapiers, und kleinere<br />

Bilder standen auf diesem format gut, ohne mickrig zu<br />

wirken. die Bindetechnik erlaubte es zudem, sie aufgeklappt auf<br />

den küchentisch zu legen, ohne die seiten mit irgendwelchen<br />

gegenständen beschweren zu müssen. Man konnte beim kochen<br />

jederzeit einen Blick in das ausgewählte rezept werfen.<br />

perfektioniert wurde dies durch die 1967 erstmals auf den<br />

Markt gebrachten, abwaschbaren kochkarten von arne krüger,<br />

zu denen christian teubner die fotos beisteuerte. es war<br />

eine innovation: statt auf dem küchentisch zwischen kartoffelschalen<br />

und fettigen töpfen nach einem platz für ihr kochbuch<br />

suchen zu müssen, wo es vor spritzern aus der pfanne<br />

und wasserflecken geschützt war, konnte die hausfrau nun<br />

einfach eine karte ziehen und so ins regal stellen, dass sie<br />

mühelos einen Blick ins rezept werfen konnte. abgeschaut<br />

hatte prelinger dies bei den Japanern, die schon lange à la<br />

carte kochten. den begabten fotografen hatte er beim stern<br />

entdeckt. der gezielte einsatz der farbfotografie und professionell<br />

gestaltete aufnahmen, die die lust am essen und den<br />

spaß am kochen wecken sollten, waren prelingers ureigener<br />

Beitrag zur weiterentwicklung der kochliteratur. statt der bis<br />

dahin üblichen routinebilder zur illustration von rezepten läutete<br />

er damit die Zeit der professionellen food-fotografie ein.<br />

was die hausfrauen und die hobbyköche begeisterte, stieß<br />

bei den Buchhändlern zunächst auf ablehnung: pappkarten<br />

statt sauber gebundener Bücher? so etwas zu verkaufen war<br />

unter ihrer würde. deshalb stand der Verlag vor einem problem.<br />

angesichts der geringen finanziellen reserven konnte<br />

man es sich nicht leisten, lange auf großen stapeln der aufwendig<br />

produzierten karten sitzenzubleiben. doch da Banzhaf<br />

<strong>34</strong>7


»keine ahnung von Vertrieb und werbung« hatte, brauchte er<br />

auch erst gar nicht aus ausgefahrenen gleisen herauszukommen,<br />

um neue wege zu beschreiten. weil die karten im traditionellen<br />

Buchhandel nur mit spitzen fingern angefasst wurden,<br />

sah er sich nach anderen Vertriebskanälen um. <strong>eines</strong><br />

schönen tages ging er mit einem satz karten zum nächstgelegenen<br />

rosenthal-studio und erkundigte sich beim geschäftsführer,<br />

ob er sich vorstellen könnte, so etwas zu verkaufen. der<br />

konnte sich das nicht nur vorstellen; er war begeistert. endlich<br />

konnte er seinen kunden neben kostbarem porzellan auch<br />

dazu passende ideen verkaufen, ihnen zeigen, was sie auf die<br />

teller zaubern könnten. Bald lagen die kochkarten in allen<br />

rosenthal-studios. wenig später kamen die wMf-filialen und<br />

der hausrat-fachhandel hinzu. andere Verlage gingen ähnliche<br />

wege. heute ist es selbstverständlich geworden, ratgeberbücher<br />

überall da anzubieten, wo guter rat gefragt ist, und<br />

so auch kunden anzusprechen, die sich scheuen, ihren fuß<br />

über die schwelle des kulturtempels Buchhandlung zu setzen.<br />

damals galt es als sakrileg.<br />

ein solcher Verstoß gegen die guten sitten im Buchhandel<br />

trieb zwar die traditionalisten der Branche auf alle verfügbaren<br />

palmen. doch als sich herausstellte, dass die karten-sets<br />

reißenden absatz fanden, verdrängte schließlich der gesunde<br />

geschäftssinn den säuerlichen kulturpessimismus. die nach<br />

themenbereichen zusammengestellten sets mit jeweils 16 karten<br />

erschienen schon bald mit erstauflagen von 50 000 stück.<br />

insgesamt wurden im laufe der Jahre sieben Millionen päckchen<br />

verkauft. Zeitweise erzielte gu 70 prozent s<strong>eines</strong> umsatzes<br />

mit den handlichen rezeptträgern. nachdem sich der<br />

zweite Vertriebsweg etabliert hatte, entwickelte sich bald eine<br />

faustformel: Von den gu-kochbüchern gingen 60 prozent an<br />

den Buchhandel, 40 prozent wurden über andere Vertriebskanäle<br />

abgesetzt. um sich nicht auf dauer dem Zorn der sortimenter<br />

auszusetzen, wurde 1968 für den Vertrieb von kü-<br />

<strong>34</strong>8


chenratgebern, feinschmeckerbibeln und weinbüchern im<br />

»nichtbuchhändlerischen fachhandel« der Banzhaf Verlag gegründet,<br />

mit dem der namensgeber 1968 zugleich als Mitgesellschafter<br />

in den gräfe und unzer Verlag eintrat.<br />

hausverbot für den frevler<br />

dass sich auch die traditionskompanie des Buchhandels schließlich<br />

mit dem damals heftig umstrittenen tandem-system im<br />

Vertrieb abfand, lag nicht zuletzt daran, dass gräfe und unzer<br />

ihnen immer wieder Best- und vor allem dauerseller bescherte.<br />

Zu den Büchern, die selten oder nie auf hitlisten erscheinen,<br />

sich aber über viele Jahre gut verkaufen, gehörte ulrich klevers<br />

»kalorien-kompass«, mit dem der Verlag schon Mitte der<br />

siebziger Jahre auf das zunehmende körper- und gesundheitsbewusstsein<br />

reagierte. Über zwei Millionen exemplare wurden<br />

im laufe der Jahre verkauft. als »gu nährwert kalorien tabelle«<br />

ist das thema bis heute im programm. Zwischen 1996<br />

und 2006 gingen mehr als 800 000 davon über den ladentisch.<br />

1973 ließ sich der Verlag dann abermals auf ein geschäft<br />

ein, das für ihn äußerst lukrativ, in den augen der sortimenter<br />

hingegen ein unerhörter frevel war und dazu führte, dass<br />

allein die nennung des namens Banzhaf bei manchem Buchhändler<br />

cholerische anfälle auslöste.<br />

dabei hatte alles ganz harmlos damit begonnen, dass der<br />

Vertriebschef <strong>eines</strong> schönen tages einen Zettel mit der handschriftlichen<br />

notiz auf seinem schreibtisch fand, er möge doch<br />

einen herrn seekamp in hamburg anrufen. der wolle 800 Bücher<br />

kaufen. was ihn ein paar Jahre früher dazu veranlasst<br />

hätte, sofort erfreut zum hörer zu greifen, war Mitte der siebziger<br />

Jahre kein anlass mehr, alles andere stehen und liegen zu<br />

lassen. Banzhaf reagierte daher recht gelassen, als das telefon<br />

erneut klingelte und besagter herr seekamp sich etwas hek-<br />

<strong>34</strong>9


tisch bei ihm erkundigte, ob er bereits einen flug nach hamburg<br />

gebucht habe und wann er mit ihm rechnen könne. da<br />

eine flugreise damals noch nicht alltäglich war und die kosten<br />

<strong>eines</strong> flugscheins überdies in keinem Verhältnis zu dem zu erwartenden<br />

geschäft standen, fragte Banzhaf, ob so viel aufwand<br />

für den Verkauf von 800 Büchern nicht etwas übertrieben<br />

sei? »was heißt hier achthundert?«, kam die bis heute ins<br />

gedächtnis von Banzhaf eingebrannte gegenfrage. »es geht<br />

um achthunderttausend!« wie sich herausstellte, arbeitete herr<br />

seekamp beim kaffeeröster tchibo und erwartete umgehend<br />

ein angebot.<br />

objekt seiner Begierde war der erfolgreiche küchenratgeber<br />

»kochen heute« des autorenteams arne krüger und annette<br />

wolter, der 1972 auf den Markt gekommen war. tchibo<br />

plante, den Band, der neue Maßstäbe für moderne kochbücher<br />

setzte, in den wochen vor weihnachten im rahmen einer<br />

für die damalige Zeit unerhörten aktion im paket mit zwei<br />

päckchen »gold Mocca« für 15,95 Mark zu verkaufen. der ladenpreis<br />

des kaffees allein belief sich schon auf 7,90 Mark, so<br />

dass die tchibo-kunden für die sonderausgabe gerade einmal<br />

8,05 Mark berappen mussten. auch addiert war das weniger als<br />

ein drittel des preises von 55 Mark, der für das standardwerk<br />

im Buchhandel gezahlt werden musste – und kaffee brauchten<br />

die leute ja ohnehin. allerdings mussten die tchibo-kunden<br />

nach einiger Zeit feststellen, dass die Qualität der in den niederlanden<br />

gedruckten und gebundenen sonderausgabe zu<br />

wünschen übrig ließ: unter dem einfluss der küchendämpfe<br />

löste sich die klebebindung, und die Buchseiten verwandelten<br />

sich in fliegende Blätter. kochkarten der anderen art.<br />

die kaffeeröster hatten sich schon mit einer reihe ähnlicher<br />

aktionen in der gesamten einzelhandelsbranche unbeliebt<br />

gemacht. aber in der vorgesehenen größenordnung war<br />

das koppelgeschäft Buch plus Bohne selbst für tchibo ein dicker<br />

Brocken und ein neuer, schwerer schlag der hamburger<br />

350


störenfriede gegen etablierte handelsstrukturen. und erstmals<br />

wurde der Buchhandel mit voller wucht getroffen.<br />

auch auf prelinger und Banzhaf wirkte das angebot wie ein<br />

donnerschlag. der Jahresumsatz des Verlags lag damals bei<br />

knapp vier Millionen Mark. durch eine Zusammenarbeit mit<br />

den hamburgern würde er sich mit einem schlag verdoppeln.<br />

prelinger sah die chance, mit hilfe des zu erwartenden gewinns<br />

die hohen kredite rasch tilgen zu können, die er aufgenommen<br />

hatte, um die familie s<strong>eines</strong> 1970 bei einem autounfall<br />

ums leben gekommenen partners Bernhard koch<br />

auszuzahlen. aber er und Banzhaf wussten auch, dass die produktion<br />

einer so hohen auflage in kurzer Zeit alles andere als<br />

ein kinderspiel war. Vor allem aber ahnten sie, dass ihre ohnehin<br />

brüchige freundschaft zu den Buchhändlern vor einer<br />

neuen, schweren Belastungsprobe stand. kochkarten statt Bücher?<br />

das hatte man ihnen schließlich verziehen. Bücher in<br />

porzellangeschäften, tierhandlungen und apotheken oder neben<br />

anglerbedarf? damit konnten sich viele Buchhändler immer<br />

noch nicht abfinden. und nun einer ihrer Bestseller als<br />

billiger köder in einem kaffeeladen!<br />

dennoch gingen die beiden nach kurzem Zögern auf das<br />

angebot ein. das geschäft war zu gut, um es kurzsichtigem<br />

Zunftdenken zu opfern. obwohl sie ahnten, was auf sie zukommen<br />

könnte, wurden sie gleich mehrfach überrascht: das<br />

kombiangebot Buch und kaffee zum Jubelpreis löste einen solchen<br />

ansturm auf die tchibo-filialen aus, dass die sonderausgabe<br />

nach sechs wochen ausverkauft war. rasch für nachschub<br />

zu sorgen, wie tchibo es gewünscht hätte, war mit der<br />

damaligen druck- und Verpackungstechnik nicht möglich.<br />

aus zwei so unterschiedlichen produkten und einem speziell<br />

dafür gefertigten karton ein »Bundle« zu machen, darin hatte<br />

man seinerzeit keine routine. dennoch war das geschäft damit<br />

noch lange nicht beendet. trotz des sensationserfolgs<br />

brach der Verkauf der regulären ausgabe von »kochen heute«<br />

351


im Buchhandel nämlich k<strong>eines</strong>wegs zusammen. das gegenteil<br />

war der fall: interessenten, die k<strong>eines</strong> der billigen exemplare<br />

mehr ergattert hatten, fragten im Buchhandel nach dem titel.<br />

»weil das Buch bei tchibo so schnell ausverkauft war, haben<br />

wir es für den Buchhandel nachgedruckt. im anschluss an die<br />

aktion wurden noch hunderttausende verkauft.«<br />

es dauerte allerdings einige Zeit, bis auch die Buchhändler<br />

das erkannten, und selbst da beruhigten sie sich nicht so<br />

schnell wieder. Viele reagierten derart aggressiv, wie es selbst<br />

die inzwischen sturmerprobte Münchner Mannschaft noch<br />

nicht erlebt hatte. statt bloß zu murren, tobten sie diesmal.<br />

konkurrenzverlage gossen mit freude Öl ins feuer. auch ein<br />

teil der presse zog über die frevler her, die des schnöden Mammons<br />

wegen kultur zur aktionsware degradiert und an den<br />

pöbel verramscht hätten. die Zeit sah schon den »tchibuchhandel«<br />

kommen, in dem Büchern passend zum inhalt schinken<br />

oder Quark beigepackt werde. der sturm war so gewaltig, dass<br />

prelinger sogar im umgang mit der deutschen sprache unsicher<br />

wurde und »auf den knien s<strong>eines</strong> herzens« schwor, derartiges<br />

nie wieder zu tun.<br />

einige Buchhändler kündigten dennoch »fristlos jeden weiteren<br />

geschäftsverkehr« mit den Münchner tempelschändern,<br />

die »dem Buchhandel unabsehbaren schaden zugefügt« hätten.<br />

andere erteilten Banzhaf ein lebenslanges hausverbot.<br />

Manche haben es bis heute nicht aufgehoben – allerdings ohne<br />

sich noch daran zu erinnern, wie der geächtete vermutet.<br />

doch als Banzhaf auf dem höhepunkt der tchibo-affäre zu einer<br />

goodwill-tour durch die Bundesrepublik aufbrach, flog er<br />

tatsächlich aus mancher Bücherstube postwendend wieder hinaus,<br />

sobald er seinen namen genannt hatte. einige sortimenter<br />

nahmen den tchibuchhandel zwar mit humor und verkauften<br />

ihrerseits kaffee zu schleuderpreisen, doch für die<br />

große Mehrzahl blieb gu ein rotes tuch. Bodo harenberg,<br />

herausgeber des Buchreport und viele Jahre lang selbst ein en-<br />

352


fant terrible der Branche, der um ausgefallene pr-aktionen<br />

nie verlegen war, riet kurt prelinger angesichts des sturms im<br />

wasserglas: »schließen sie ihren Verlag. Verkaufen können sie<br />

ihn nicht mehr« – eine Vermutung, die Jahre später durch den<br />

Übergang an thomas ganske eindeutig widerlegt wurde.<br />

auch sonst wurde nichts so heiß gegessen, wie es in der aufregung<br />

gekocht worden war. die heute kaum noch verständliche<br />

erregung legte sich schließlich wieder. der Buchhandel<br />

verstand, dass ein erfolgreicher Verlag mit einem ideenreichen<br />

programm auch ihm das geschäft erleichterte. »das sortiment<br />

konnte in den ratgeberbereichen kochen, natur und gesundheit<br />

ohne uns fast nicht mehr auskommen«, stellte prelinger<br />

später selbstbewusst fest. der tchibo-deal hatte dem Verlag so<br />

viel kapital ins haus gebracht, dass er sein programm auf diesen<br />

feldern forciert ausbauen konnte. das klar gesteckte Ziel<br />

dabei: »gräfe und unzer will wissen in nutzen verwandeln.«<br />

im rückblick sprachen experten später vom »urknall des<br />

kochbuchmarktes«, wenn sie sich an die tchibo-affäre erinnerten.<br />

»in wirklichkeit wirkte das ›tchibo-kochbuch‹ wie eine<br />

initialzündung, die den größten kochbuch-Boom auslöste,<br />

den man sich vorstellen konnte«, schrieb hans-Jürgen schmidt,<br />

damals beim kaufhof für den Zentraleinkauf Bücher zuständig,<br />

1989 im BuchMarkt und fragte: »welcher sortimenter ist heute<br />

so ehrlich und dankt gräfe und unzer für seine mutige tat?«<br />

der Verlag trug aber nicht nur zu einem umdenken in der<br />

Branche bei. er strukturierte auch das eigene programm immer<br />

wieder neu und überdachte die innere Verfassung des<br />

hauses. die bereits seit 1933 bestehende erfolgsbeteiligung<br />

aller Mitarbeiter war 1966 wieder aufgenommen worden und<br />

gilt – mit zeitgemäßen Variationen – bis heute. kurt prelingers<br />

humanistischer einstellung entsprach es zudem, jedem Menschen<br />

die entfaltung seiner fähigkeiten zu ermöglichen. das<br />

wirkte sich nicht nur auf das programm aus, sondern prägte<br />

auch das Verhältnis zwischen der Verlagsleitung und den Mit-<br />

353


arbeitern, führte zu entsprechenden Möglichkeiten der aus-<br />

und weiterbildung und zu einer flexiblen arbeitszeitgestaltung,<br />

die den Beschäftigten große Möglichkeiten gibt, private<br />

und berufliche Verpflichtungen unter einen hut zu bringen.<br />

um der gemeinsamen arbeit klare Ziele zu geben, unterzog<br />

prelinger sich und den gesamten Verlag 1987 zudem einer radikalen<br />

selbstanalyse, bei der »kein stein auf dem anderen<br />

blieb«. es wurden leitsätze formuliert, auf deren grundlage<br />

bis heute die persönlichen Zielsetzungen mit den führungskräften<br />

des Verlags erarbeitet werden.<br />

Zu den inhaltlichen konsequenzen gehörte, dass sich gräfe<br />

und unzer klar als ratgeberverlag definierte, der seine publikationen<br />

ausschließlich auf der Basis eigener konzeptionen erarbeitet<br />

und gestaltet. das bedeutet unter anderem, dass der<br />

Verlag zwar lizenzen ins ausland oder an Buchgemeinschaften<br />

und andere Zweit- und drittverwerter verkauft, selbst aber nur<br />

in seltenen ausnahmefällen lizenzen erwirbt. dahinter steht<br />

die 1987 beschlossene und bei einer weiteren »selbsttherapeutischen<br />

aktion« 1993 bestätigte strategie, die gu-ratgeber als<br />

Markenartikel zu positionieren, authentisch und unverwechselbar.<br />

das ist nicht möglich, wenn man nachdruckt, was andere<br />

entwickelt haben. die starke identifizierung der Mitarbeiter<br />

mit »ihrem Verlag« und ihre hohe Motivation, die jeder<br />

spürt, der sich bei gräfe und unzer in München umsieht, hat<br />

in dieser über viele Jahre gewachsenen unternehmenskultur<br />

ihre wurzeln. »gräfe und unzer kann nur dann gut sein, wenn<br />

die Mitarbeiter aus eigener Motivation heraus ihre leistung erbringen«,<br />

fasst urban Meister, seit anfang 2003 einer der drei<br />

geschäftsführer des Verlags, zusammen.<br />

deshalb war es für die Mitarbeiter ein schock, als sie 1990<br />

erfuhren, dass ein Besitzerwechsel bevorstand. weil kurt prelinger<br />

dem grundsatz huldigte, man solle »aufhören, wenn es<br />

am schönsten ist« und es seiner lebensplanung entsprach, das<br />

hektische Managerdasein nicht bis zum pensionsalter zu füh-<br />

354


en, hatte er sich frühzeitig nach einem möglichen nachfolger<br />

umgesehen. deshalb entschloss sich prelinger, den Verlag, der<br />

damals bereits einen Jahresumsatz von 35 Millionen Mark erzielte,<br />

als ganzes zu verkaufen – nicht an eine große Buchfabrik,<br />

sondern an ein eigentümergeführtes unternehmen. nach<br />

gesprächen mit vielen in- und ausländischen interessenten<br />

kam prelinger zu der ansicht, dass thomas ganske und seine<br />

<strong>Verlagsgruppe</strong> seinen Vorstellungen am besten entsprachen.<br />

auch dieter Banzhaf verkaufte die ihm gehörenden anteile<br />

1990 an die hamburger gruppe.<br />

erfolg an der langen leine<br />

Viele in München fürchteten, dass ein radikaler wechsel der<br />

geschäftspolitik bevorstünde; andere vermuteten, dass der<br />

Verlag nach hamburg umgesiedelt und zu einer abteilung von<br />

hoffmann und campe degradiert werden würde. solche und<br />

ähnliche gerüchte machten damals die runde – und k<strong>eines</strong><br />

davon stimmte die Mitarbeiter besonders glücklich. »die waren<br />

geschockt«, weiß frank-h. häger, der seine karriere 1991<br />

bei der ganske <strong>Verlagsgruppe</strong> als geschäftsführer und programmchef<br />

von gräfe und unzer begann. »da gab es anfangs<br />

heftige ressentiments gegen hamburg. das waren Männer in<br />

dunklen anzügen und mit schwarzen aktenköfferchen, die<br />

möglichst viel profit machen wollten. in München war man<br />

stolz auf die eigene unternehmenskultur und hatte angst, dass<br />

sie einer anderen weichen müsste.« das hat auch peter notz in<br />

ganz ähnlicher form erlebt, der 1992 als geschäftsführer, zuständig<br />

für den kaufmännischen Bereich, zu dem Münchner<br />

ratgeberverlag kam. »thomas ganske ist es aber sehr gut gelungen,<br />

ihnen diese Ängste zu nehmen und die kultur, die sich<br />

dort entwickelt und auch zu wirtschaftlichem erfolg geführt<br />

hat, zu bewahren und nicht durch andere – vielleicht nur vermeintliche<br />

– erfolgsrezepte zu ersetzen.«<br />

355


die vielleicht wichtigste vertrauensbildende Maßnahme bestand<br />

darin, dass dieter Banzhaf nach der Übernahme weiter<br />

geschäftsführer blieb, zusammen mit frank-h. häger und<br />

peter notz, aber als sprecher der geschäftsleitung ein primus<br />

inter pares. obwohl Banzhaf, ähnlich wie zuvor prelinger, 1997<br />

auf eigenen wunsch ausschied, weil er nach mehr als 30 Managerjahren<br />

nicht mehr länger »ein leben führen wollte, dessen<br />

rhythmus vom terminkalender diktiert wird«, hielt thomas<br />

ganske auch danach am prinzip der langen leine fest. Zu dieser<br />

Zeit erwirtschafteten 112 Mitarbeiter einen umsatz von gut<br />

90 Millionen Mark.<br />

die lange leine galt allerdings nicht für den betriebswirtschaftlichen<br />

Bereich. hier wurden überall in der gruppe<br />

einheitliche standards gesetzt: Bei der datenverarbeitung, im<br />

controlling und im rechnungswesen. neu war auch, dass der<br />

Verlag nun anzeigen in publikumszeitschriften schalten konnte.<br />

»wir haben vom Jahreszeiten Verlag sehr günstige konditionen<br />

bekommen«, erinnert sich notz. »das war so eine art<br />

investition in den neu erworbenen ratgeberverlag und hat<br />

zum erfolg vieler Bücher beigetragen.«<br />

trotz dieses sanften einstiegs hat sich seit der eingliederung<br />

von gräfe und unzer in die <strong>Verlagsgruppe</strong> auch die programmphilosophie<br />

verändert, denn der tradition der »häutungen«,<br />

denen sich der Verlag immer wieder unterzogen hatte,<br />

blieb er auch nach dem eigentümerwechsel treu. der Vertrieb<br />

über apotheken, den Zoofachhandel, haushaltswarengeschäfte<br />

oder supermärkte spielt mit einem anteil von 25 prozent<br />

zwar immer noch eine bedeutende rolle. doch die strategische<br />

ausrichtung an Zielgruppen wurde immer wichtiger. »wir haben<br />

den vertriebsorientierten geschäftsfeldmix in den dienst<br />

des gedankens gestellt, leser und käufer mit ihren Zielgruppenbedürfnissen<br />

in den Mittelpunkt der Verlagsausrichtung<br />

zu stellen und nicht Vertriebskanalbedürfnisse«, erklärt georg<br />

kessler, der als sprecher der geschäftsleitung gleichzeitig für<br />

356


das programm zuständig ist. »aus den stammkompetenzen<br />

der Vergangenheit entwickeln wir in engem kontakt mit den<br />

Zielgruppen und ihren Bedürfnissen die programmstrategie.<br />

wir wollen das erbe in ehren halten, es aber in einen Jungbrunnen<br />

stecken.« das gilt sowohl für die firmenmarke gu<br />

als auch für die beiden produktmarken teubner und hallwag.<br />

aus den drei großen kompetenzbereichen essen und trinken,<br />

haus und garten, natur und heimtier wurden seither kochen<br />

& Verwöhnen, haus & garten, körper & seele sowie<br />

partnerschaft & familie. ergänzt wurden diese klassischen Betätigungsfelder<br />

durch leben & lernen. das angebot im erlebnisfeld<br />

leben & lernen reicht von a wie »anti-Blamierknigge«<br />

über d wie »dating« und r wie »rhetorik« bis Z wie<br />

»Zeitmanagement« und bietet im gesamtverzeichnis 2006/07<br />

50 titel für Menschen, die durch eigenständiges lernen im<br />

privaten oder beruflichen leben weiterkommen wollen. im<br />

familiären erlebnisfeld spannt sich der themenbogen von<br />

»ads – so fördern sie ihr kind« über Bach-Blüten, homöopathie,<br />

kinderkrankheiten, kinderwunsch und dem »papa-handbuch«<br />

bis hin zu Yoga für kinder und spart auch die erotische<br />

partnermassage und allerlei andere wege zur sexuellen erfüllung<br />

nicht aus.<br />

im sogenannten sinusmodell der Marketing-experten, das<br />

die verschiedenen gesellschaftlichen Milieus zu beschreiben<br />

versucht, konzentriert sich gräfe und unzer heute auf die »bürgerliche<br />

Mitte« als kernzielgruppe mit den »modernen performern«<br />

und den »postmateriellen« als leitzielgruppen. die Verlage<br />

teubner und hallwag dagegen bewegen sich mit ihrem<br />

angebot vor allem im establishment, in eher konservativen<br />

und mit überdurchschnittlicher kaufkraft ausgestatteten kreisen.<br />

dabei soll »teubner« für höchste kompetenz in den Bereichen<br />

warenkunde, küchenpraxis und rezepte stehen und mit<br />

den aufwendig gestalteten Bänden ambitionierte hobbyköche<br />

ebenso ansprechen wie den Maître de cuisine. titel wie »food.<br />

357


die ganze welt der lebensmittel« oder »die große teubner<br />

küchenpraxis« illustrieren, wie sich das im programm spiegelt.<br />

dass es sich dabei nicht nur im wort, sondern auch im Bild um<br />

»kulinarische Meisterwerke« handeln soll, versteht sich eigentlich<br />

von selbst. schließlich verdankt der Verlag seinen namen<br />

dem fotografen christian teubner, der in der Bildgestaltung<br />

rund um speis und trank Maßstäbe gesetzt und schließlich<br />

1979 seinen eigenen Verlag gegründet hatte. Von anfang an<br />

gab es aber eine große nähe, und seit 2001 sitzt teubner ganz<br />

unter dem breiten Münchner dach.<br />

Bei weinfreunden gilt die Marke »hallwag«, die ebenfalls<br />

seit 2001 komplett zu gräfe und unzer gehört, heute als die<br />

nummer eins. das sehen auch Marktforscher so, die sich selbst<br />

bei weinbüchern nicht an deren inhalt und Ästhetik berauschen,<br />

sondern allein von nüchternen daten beeindrucken lassen:<br />

Mit einem Marktanteil von über 50 prozent erreicht hallwag<br />

die absolute Mehrheit der lesenden weinfreunde. das<br />

deutet darauf hin, dass der Verlag im urteil der kunden seinem<br />

selbstgesteckten Ziel recht nahe ist: für jedes weinthema<br />

das weltweit beste Buch zu publizieren. dabei kommen weinkenner<br />

im programm ebenso auf ihre kosten wie novizen, die<br />

sich ihr know-how erst noch anlesen und antrinken wollen.<br />

während für die einen »der große Johnson« zur pflichtlektüre<br />

gehört, greifen die anderen vielleicht erst einmal zur »hallwag<br />

weinschule«. für große weinfreunde mit kleinem geldbeutel<br />

gibt es seit 1998 alle Jahre wieder »die besten weine unter 10<br />

euro«. wer geld in einen gutsortierten weinkeller investieren<br />

kann, findet anregungen in »Michael Broadbents große<br />

weine« oder in »parker Bordeaux«.<br />

358


ungleiche schwestern<br />

die beiden großen Buchverlage unter dem dach der ganskegruppe<br />

unterscheiden sich heute nicht nur dadurch, dass<br />

hoffmann und campe ein starkes belletristisches programm<br />

bietet und der Münchner schwesterverlag sich überwiegend<br />

auf ratgeber konzentriert. hoffmann und campe ist ein<br />

»frontlist-Verlag«, bei dem sich die frage, ob die angebotenen<br />

titel erfolgreich sind oder nicht, oft innerhalb weniger wochen<br />

oder Monate entscheidet, weil nach einem halben Jahr<br />

schon wieder die nächsten Bücher ganz vorn in den auslagen<br />

präsentiert werden. gräfe und unzer dagegen ist vor allem ein<br />

»Backlist-Verlag«, der mit über 800 lieferbaren titeln dienen<br />

kann. Bei gu müssen fast alle Bücher mindestens fünf Jahre<br />

im Verkauf sein, um als ein erfolg zu gelten. Manche bleiben<br />

auch 20 Jahre im programm, mit leichten Variationen vielleicht,<br />

aber schließlich mit Millionen-auflagen. so ging »die<br />

echte italienische küche« zwischen 1996 und 2006 mehr als<br />

750 000-mal über den ladentisch, und »die magische kohlsuppe«<br />

verzauberte im gleichen Zeitraum über 710 000 kunden<br />

– sonderausgaben nicht mitgerechnet. ein Buch über die<br />

»wildküche« musste zwar immer wieder an die sich ändernden<br />

Bedingungen im naturschutz und Jagdrecht angepasst werden,<br />

erscheint aber im kern unverändert seit Jahrzehnten.<br />

eine anleitung zur Zubereitung traditioneller pasteten, die<br />

erstmals 1978 erschien, wird bis heute unverändert angeboten.<br />

»das heißt natürlich nicht, dass wir etwas gegen Bestseller haben.<br />

aber sie stehen bei der produktmarke gu nicht so stark<br />

im Vordergrund, da das wirtschaftliche kraftzentrum die<br />

Backlist ist«, stellt programmgeschäftsführer georg kessler<br />

klar. und er macht noch auf einen weiteren unterschied aufmerksam:<br />

»anders als in der Belletristik wirken viele unserer<br />

ratgeber unmittelbar in die lebenswirklichkeit unserer kunden<br />

– zum Beispiel ein ernährungsratgeber.« eine spürbare<br />

359


Verbesserung ihrer lebenswirklichkeit erhoffen sich wohl auch<br />

alle, die sich »69 heiße sex-tipps« unters kopfkissen legen.<br />

eine wichtige weichenstellung bedeutete der 2006 gefasste<br />

Beschluss, neben den exakt positionierten Marken gu, teubner<br />

und hallwag auch wieder Bücher unter dem label gräfe &<br />

unzer erscheinen zu lassen, um interessante themen und autoren<br />

unabhängig von den Zwängen publizieren zu können,<br />

die man sich durch die Markenbildung in den anderen Bereichen<br />

selbst auferlegt hat. »dadurch können wir eine heimat<br />

für autoren und themen werden, die nicht zur ratgeberphilosophie<br />

der Marke gu passen«, erläutert kessler und sagt deutlich,<br />

dass man sich damit die Möglichkeit schaffen wolle, »Bestseller<br />

zu generieren«. was konkret damit gemeint ist, machten<br />

schon die ersten titel deutlich: »die kunst, mit dem tier im<br />

Menschen umzugehen«, beschreibt der stardompteur und Zirkusdirektor<br />

gerd simoneit-Barum. die schauspielerin ursula<br />

karven, eine ausgebildete Yoga-lehrerin, informiert neugierige<br />

über typische lebenssituationen, in denen Yoga auch Menschen<br />

helfen kann, die keine »spirituellen antennen« haben<br />

und dennoch von der fernöstlichen entspannungstechnik profitieren<br />

wollen. in »10 diät-Mythen und die ganze wahrheit«<br />

klärt die Molligen-selbsthilfegruppe weight watchers leser<br />

mit gewichtsproblemen über angebliche wundermittel und<br />

unhaltbare Versprechen von ernährungsaposteln auf. wer<br />

könnte das besser?<br />

die hamburger prinzen-garde<br />

in einer ganz anderen form trägt Prinz zur kompetenz und<br />

zum profil der ganske <strong>Verlagsgruppe</strong> bei, ein event-Magazin<br />

und damit alles andere als ein Backlister, denn die von ihm verbreiteten<br />

tipps und infos haben im allgemeinen eine sehr geringe<br />

»halbwertszeit«. niemand sonst weiß besser, wo der Bär<br />

tobt, die post abgeht oder die luft brennt. Mit 13 regionalaus-<br />

360


gaben informiert das lifestyle-Magazin seine leser, wie und<br />

wo sie ihre knappe freizeit am besten investieren können, was<br />

gerade in oder schon wieder out ist. Zu Prinz als scout durch<br />

den dschungel der großstadt greifen männliche und weibliche<br />

leser gleichermaßen. sie sind im durchschnitt zwischen<br />

20 und 40 Jahre alt, dazu aktiv, kaufkräftig, konsumfreudig<br />

und genussorientiert. das Blatt gibt ihnen die passenden tipps,<br />

news und informationen: wo geht man hin, welcher style und<br />

welche Marken liegen im trend, über welche stars spricht<br />

man?<br />

für seine junge, urbane Zielgruppe recherchiert und bewertet<br />

Prinz jeden Monat bundesweit mehr als 40 000 Veranstaltungstermine,<br />

berichtet über die angesagten discos, Bars<br />

und clubs, aktuelle Modetrends, die filme des Monats, die<br />

newcomer der Musikszene, neue dVds und die highlights auf<br />

dem kunstmarkt. das event-Magazin gibt tipps zu downloads<br />

und sagt auch, wo man mal so richtig abhängen kann. seine<br />

leser erfahren, wie sich ein traumflitzer wie der audi tt<br />

roadster unter dem hintern anfühlt oder was in den besten<br />

oder flippigsten restaurants auf den tisch kommt. Prinz nennt<br />

die adressen der trashigsten kneipen und elegantesten Bars.<br />

aber auch wer einfach nur mal wieder gut italienisch essen<br />

möchte, kann nachlesen, wie es den testern des Magazins bei<br />

Mario oder silvio geschmeckt hat, ob sie gut bedient wurden<br />

und die rechnung angemessen war. lesben und schwule können<br />

sich ebenso darüber informieren, was gerade auf der szene<br />

angesagt ist, wie die freunde klassischer Musik oder erotischer<br />

Mangas.<br />

wer das alles in geballter form haben will, besorgt sich den<br />

seit 2000 einmal im Jahr erscheinenden Top Guide, das »premium-Metropolen-Magazin<br />

für konsum- und genussorientierte<br />

großstädter« mit aktuellen informationen, tipps, adressen<br />

und journalistischen Bewertungen rund um die themen gastronomie,<br />

shopping, nightlife, sport und wellness – »unver-<br />

361


zichtbar für alle, die up to date bleiben wollen«, wie rainer<br />

thide, chefredakteur und geschäftsführer, ohne übertriebene<br />

Bescheidenheit meint. Vor allem für touristen, die nicht so<br />

recht wissen, wohin in der großen stadt, ist das eine fundgrube.<br />

und wer nicht von vorgestern ist, dem hilft Prinz natürlich<br />

auch im internet, den Überblick über die Versuchungen<br />

der großstadt zu behalten.<br />

angefangen hat das alles 1978 in Bochum mit einem kleinen<br />

Guckloch, durch das einige einfallsreiche junge leute spähten,<br />

um anderen berichten zu können, was in ihrer stadt los<br />

war. der alternative Veranstaltungskalender, auf 24 din-a5seiten<br />

gedruckt und kostenlos verteilt, wurde 1985 in Prinz<br />

umbenannt und mauserte sich zu einem professionell gemachten<br />

stadtmagazin. irgendwann lief der damals immer noch<br />

recht kleine Prinz einem Verleger aus hamburg über den weg –<br />

und der sah die chance, ihn groß und stark zu machen, und<br />

beteiligte sich über den Jahreszeiten Verlag ende 1988 mit<br />

75 prozent als Mehrheitsgesellschafter am guckloch-Verlag.<br />

schon im februar des nächsten Jahres hielt der Prinz in düsseldorf,<br />

kurz danach in hamburg, München und frankfurt seinen<br />

einzug. im dezember des gleichen Jahres machte er auch<br />

den kölnern seine aufwartung.<br />

1990 wurde der Marsch in die großen deutschen städte fortgesetzt<br />

mit regionalausgaben für Bremen, stuttgart und hannover.<br />

Prinz erschien erstmals mit einheitlicher titelgestaltung<br />

für alle stadtausgaben. aus dem lokalmagazin entwickelte<br />

sich ein nationaler Markenartikel. es gab aber auch rückschläge.<br />

nicht überall war die wirtschaftliche Basis breit genug,<br />

um eine eigene regionalausgabe zu tragen. das galt beispielsweise<br />

für den Versuch, die 14. ausgabe in Mannheim/ludwigshafen<br />

zu etablieren.<br />

in Mannheim scheiterte nach elf Jahren auch der 1990 gestartete<br />

Versuch, mit dem prinz-Medienhaus auf 5000 Quadratmetern<br />

Verkaufsfläche, ausgestattet mit café, leseecken<br />

362


und hörbars, ein ganz eigenes konzept durchzusetzen, das<br />

dem kunden »den Zugang zu allen geistigen Bereichen – sei es<br />

literatur, wissenschaft, kunst oder Musik – für seine individuellen<br />

ansprüche und Bedürfnisse vollständig und kompetent«<br />

bieten sollte. daran, dass dies letztlich nicht gelang, konnte<br />

auch die Verleihung des »echo«, des wichtigsten deutschen<br />

Musikpreises, nichts ändern, mit dem 1996 das vorbildliche erscheinungsbild,<br />

die sortimentspflege, die werbung und die<br />

fachliche Qualität des personals sowie die warenpräsentation<br />

ausgezeichnet wurden. im rückblick wurde daraus ein trostpreis,<br />

denn Mitte 2001 musste das innovative Medienhaus wieder<br />

geschlossen werden. der rückzug sorgte für Ärger mit den<br />

Beschäftigten, den stadtoberen und den gewerkschaften,<br />

hatte aber keine auswirkungen auf das Magazin, das ohnehin<br />

nur namenspatron war.<br />

lifestyle kombiniert mit nutzwert<br />

1995 hatte thomas ganske die prinz-kommunikation gmbh<br />

komplett übernommen und den sitz des unternehmens und<br />

die Zentralredaktion nach hamburg verlegt. seither hat sich<br />

Prinz in allen Metropolregionen fest etabliert. die »programmzeitschrift<br />

für die stadt«, wie sich das Monatsmagazin zeitweise<br />

im untertitel definierte, konnte sich fast jedes Jahr über neue<br />

auflagenrekorde freuen. die bisherige spitze erreichte 2004 die<br />

»Jubiläumsausgabe«, von der über 300 000 exemplare verkauft<br />

wurden. Prinz eroberte in städten wie München und hamburg<br />

gegen die alten platzhirsche die klare Marktführerschaft und<br />

steht bundesweit ohnehin an der spitze der großstadtillustrierten.<br />

die inhaltliche Qualität, ein Mix aus internationalem lifestyle<br />

und regionalem nutzwert, wurde ebenso kontinuierlich<br />

verbessert wie das optische erscheinungsbild oder die papier-<br />

und druckqualität. Prinz kommt seit 2006 ebenso wie die anderen<br />

Magazine des Jahreszeiten Verlags in hochglanz auf den<br />

363


Markt. aus dem in Bochum geborenen kellerkind ist im laufe<br />

der Zeit ein edelmann geworden, aus dem Blick durchs guckloch<br />

ein umfassender Überblick über die szene.<br />

Ähnlich wie zu kaisers Zeiten gibt es heute aber nicht nur<br />

einen, sondern viele prinzen in deutschland, von denen jeder<br />

sein eigenes hoheitsgebiet besitzt. »Bei aller konsequenz in<br />

der Markenführung ist ein Prinz in leipzig anders als in nürnberg<br />

oder dem ruhrgebiet«, weist Jörg hausendorf, der geschäftsführer<br />

der prinz kommunikation gmbh, auf einen<br />

charakterzug hin, der das Magazin deutlich von anderen Zeitschriften<br />

unterscheidet. anders als bei Spiegel, Gala, Focus und<br />

anderen deutschen Magazinen, bei denen es keine rolle spielt,<br />

ob ein reisender sie in München oder flensburg erwirbt, erhält<br />

der Prinz-käufer in hamburg ein etwas anderes produkt<br />

als in Berlin oder frankfurt. denn obwohl sich das Magazin<br />

als nationale Marke durchgesetzt hat, dient es seinen lesern<br />

weiterhin als lokaler scout. »es war ein langer weg bis zur Verwirklichung<br />

unserer Vision«, bekennt chefredakteur rainer<br />

thide. »aber jetzt haben wir es geschafft: wir bieten nach wie<br />

vor umfassende regionale informationen, haben aber dennoch<br />

überregional ein einheitliches erscheinungsbild. wir sind wiedererkennbar<br />

und können für alle teilausgaben ein qualitativ<br />

verlässliches angebot garantieren.« wer in München regelmäßig<br />

mit seinem Prinz ausgeht, freut sich, wenn er ihm bei einem<br />

wochenendbesuch in Berlin begegnet und ihn auch dort beim<br />

Bummel durch die stadt unter den arm nehmen kann.<br />

seinen platz als lifestyle-Magazin musste das Blatt allerdings<br />

nicht nur im Bewusstsein seiner leser finden, sondern<br />

auch im handel erkämpfen. »am anfang hat man Prinz als<br />

stadtmagazin wahrgenommen und in die gleiche ecke gestellt<br />

wie die regionalen Veranstaltungskalender«, beschreibt Vorstandsmitglied<br />

karl udo wrede die ausgangssituation. »das ist<br />

vorbei. Prinz wird inzwischen als überregionale Zeitschrift mit<br />

unterschiedlichen regionalen schwerpunkten gesehen.«<br />

364


Zwar wird nur ein Viertel der themen von der Zentralredaktion<br />

vorgegeben, sie bilden aber die identitätsstiftende<br />

klammer für die Mehrzahl der seiten, auf denen die leser regionale<br />

inhalte finden – und auch wiederfinden, wenn sie unterwegs<br />

eine der anderen Prinz-ausgaben zur hand nehmen,<br />

denn optik und struktur der regionalen seiten sind einheitlich<br />

gestaltet. auch die überregionalen themen, die in allen<br />

ausgaben platziert werden, nehmen auf regionale Besonderheiten<br />

rücksicht. »wenn wir zum Beispiel über probleme bei<br />

der wohnungssuche in großstädten berichten, erscheint dieses<br />

thema in allen ausgaben, und das heft wird damit bundesweit<br />

beworben. aber die lage auf dem wohnungsmarkt in München<br />

ist natürlich ganz anders als in Berlin oder stuttgart. das<br />

muss sich in den jeweiligen regionalen ausgaben angemessen<br />

widerspiegeln«, erläutert chefredakteur thide. dagegen erscheint<br />

ein artikel über junge deutsche, die auf dem Modemarkt,<br />

in kunst und Musik international trends setzen, unverändert<br />

in allen regionalausgaben. das gilt auch für einen<br />

Überblick über die »film- und Musik-highlights«, die in den<br />

nächsten Monaten in deutschland zu erwarten sind. umgekehrt<br />

ist ein report über die heißesten Bars der stadt, über die<br />

theaterszene oder die aktuell von Prinz getesteten restaurants<br />

nur für »eingeborene« oder touristen interessant, die wissen<br />

wollen, wo man sich in nürnberg, düsseldorf oder Bremen die<br />

nacht am besten um die ohren hauen kann.<br />

ortsbezogen und daher in jeder teilausgabe unterschiedlich,<br />

sind die Veranstaltungskalender, die für jeden tag des<br />

Monats die events nennen, bei denen man dabei sein muss,<br />

wenn man dazugehören will. diese spaß-fundgruben müssen<br />

für die jeweilige region maßgeschneidert sein. das gilt auch<br />

für einen teil der anzeigenseiten, denn werbung kann national<br />

oder regional geschaltet werden. auch dadurch verändert<br />

sich die struktur der einzelnen ausgaben. das redaktionssystem<br />

erlaubt es aber dem chefredakteur oder art director,<br />

365


am Bildschirm in hamburg zu kontrollieren, ob die seiten, die<br />

in Berlin oder leipzig gestaltet werden, trotz aller inhaltlichen<br />

unterschiede dem Markenprofil entsprechen.<br />

damit ein so komplexes Magazin Monat für Monat pünktlich<br />

und ohne »seitensalat« erscheinen kann, muss eine ausgeklügelte<br />

organisation dahinterstehen. das gilt nicht zuletzt für<br />

den druck der hefte, der für alle ausgaben in kassel stattfindet.<br />

dabei werden nicht nur die zentral gestalteten seiten mit<br />

den regionalen teilen von 13 verschiedenen ausgaben zusammengeführt.<br />

unterschiedlich sind auch die anzeigenbeilagen<br />

der einzelnen hefte, denn nicht alle sind für die gesamtausgabe<br />

bestimmt. »wir bieten selbstverständlich auch hier eine<br />

teilbelegung an«, erklärt hausendorf. »das ist eine anspruchsvolle<br />

logistische aufgabe, da inzwischen alle teilausgaben am<br />

gleichen tag erscheinen.« die logistik wird auch dadurch<br />

nicht gerade erleichtert, dass alle prinz-ausgaben mit einheitlichem<br />

titelbild erscheinen, aber mit unterschiedlichen schlagzeilen<br />

um die käufer werben. schließlich müssen die jeweiligen<br />

interessen in den Verbreitungsgebieten gezielt angesprochen<br />

werden.<br />

es war ein langer weg, der vom 1978 geschaffenen Guckloch<br />

zum feschen Prinz, von zweistelligen Millionenverlusten in die<br />

schwarzen Zahlen führte. »andere hätten da längst dichtgemacht«,<br />

ist rainer thide überzeugt. doch obwohl Prinz zeitweise<br />

zum zweitgrößten Verlustbringer der gruppe avancierte,<br />

nur noch übertroffen von der Woche, hielt thomas ganske<br />

durch, so wie er es auch beim Feinschmecker und anderen unternehmerischen<br />

projekten getan hatte, die nur dann zum erfolg<br />

geführt werden können, wenn man einen »langen atem« hat.<br />

wer tiefwurzler züchten will, braucht außer Visionen eben<br />

auch Zeit und geduld. die wende bei Prinz brachte 1999 ein<br />

relaunch. sein ergebnis konnten die leser der septemberausgabe<br />

erstmals betrachten – was ihnen dadurch erleichtert<br />

wurde, dass gleichzeitig der preis des heftes deutlich gesenkt<br />

366


wurde. statt allein auf lifestyle zu setzen, liegt der schwerpunkt<br />

nun klar auf service. Prinz wurde am kiosk als »programmzeitschrift<br />

für die stadt« neu positioniert und kommt<br />

seither mit einheitlicher optik und struktur daher. für den<br />

Verlag war die durststrecke damit aber noch nicht beendet: es<br />

dauerte noch fünf weitere Jahre, bis das bunte event-Magazin<br />

endlich schwarze Zahlen produzierte.<br />

ein wort zum schluss<br />

»wir machen tiefwurzler, keine flachwurzler«, lautet das<br />

Motto der <strong>Verlagsgruppe</strong>, das thomas ganske den Mitarbeitern<br />

immer wieder einprägt. solche Bäume wachsen meist nicht<br />

so schnell wie andere, weichere hölzer. aber 100 Jahre nachdem<br />

der setzling am 7. april 1907 in kiel gepflanzt wurde, ist<br />

daraus ein weitverzweigter Baum geworden, dessen bunte Blätter<br />

heute vor allem den sonnigen seiten des lebens zugewandt<br />

sind.<br />

Zunächst brachten die Boten des leserkreises daheim richard<br />

ganske den kunden lesestoff ins haus, den andere bereitgestellt<br />

hatten – unterhaltung, lebenshilfe, information<br />

für die ganze familie. im unterschied zu allen seinen konkurrenten<br />

beschränkte daheim seinen wirkungskreis aber nicht<br />

auf eine stadt oder region, sondern wuchs bald darüber hinaus.<br />

seit mehr als acht Jahrzehnten ist der leserkreis unangefochtener<br />

Branchenprimus.<br />

wer nur verteilt, was andere produzieren, kann leicht in<br />

abhängigkeit geraten. Mit der Beteiligung an hoffmann und<br />

campe wurde 1941 der erste schritt zum aufbau einer eigenen<br />

<strong>Verlagsgruppe</strong> getan. aus dem Buchverlag heraus entwickelte<br />

sich das erste eigene Zeitschriftenprojekt, Merian. die<br />

gründung des Jahreszeiten Verlags machte das unternehmen<br />

endgültig vom Zeitschriftenvermieter zum Zeitschriftenverleger;<br />

zur Vertriebskompetenz trat die inhaltliche kompetenz.<br />

367


durch verstärkte transparenz und kooperation im inneren<br />

wurde es möglich, die eigenen kräfte zu bündeln und synergien<br />

besser zu nutzen. der gemeinsame auftritt in der Öffentlichkeit<br />

erlaubt es, sich als kompetenter produzent und partner<br />

auszuweisen. die erweiterung und Vertiefung der themenpalette<br />

des Jahreszeiten Verlags, der einstieg ins corporate<br />

publishing, die Übernahme und weiterentwicklung von Prinz<br />

sowie des gräfe und unzer Verlags haben die bereits vorhandene<br />

kompetenz erhöht und die wissensbasis der gruppe<br />

verbreitert. darauf sollen neue, zukunftsträchtige Medien aufgebaut<br />

werden. dazu gehört beispielsweise die kombination<br />

geocodierter navigationssysteme mit digitalisierten informationen:<br />

interaktive führer für reisende, die mehr als nur den<br />

weg suchen.<br />

ein unternehmen kommt nie an. es muss sich immer wieder<br />

neu erfinden, um zu wachsen, neue herausforderungen zu<br />

bewältigen und im wettbewerb erfolgreich bestehen zu können.<br />

das galt in besonderer weise während und nach den beiden<br />

weltkriegen, der hyperinflation und weltwirtschaftskrise.<br />

im Zeitalter der globalisierung, in der soziale und wirtschaftliche<br />

Veränderungsprozesse in einem vorher nie gekannten<br />

tempo ablaufen und die welt, in der wir leben, sich auch ohne<br />

kriege und andere katastrophen rasant wandelt, ist die Bereitschaft<br />

zum permanenten neuanfang noch wichtiger geworden.<br />

doch um diesem druck gewachsen zu sein, brauchen<br />

Menschen Verlässlichkeit und im wandel Beständigkeit.<br />

eigentümergeführte unternehmen können diese werte heute<br />

eher garantieren als kapitalgesellschaften, die den launen<br />

der Börse ausgesetzt sind und zum spielball anonymer investorengruppen<br />

werden können. familienbetriebe können sich<br />

leichter an langfristigen perspektiven orientieren als gesellschaften,<br />

die täglich von analysten durchleuchtet werden, deren<br />

erfolg an Quartalsergebnissen gemessen wird und deren<br />

kapital sich im Besitz einer Vielzahl von aktionären befindet,<br />

368


die an jedem Börsentag »Bäumchen wechsle dich« spielen<br />

können.<br />

Beständigkeit im wandel: das wurde nicht nur dadurch erreicht,<br />

dass sich die unternehmen der ganske-gruppe immer<br />

wieder neu aufgestellt haben, sondern auch dadurch, dass eine<br />

eigentümerfamilie, die die <strong>Verlagsgruppe</strong> inzwischen in der<br />

dritten generation führt, entscheidungen reifen und entwicklungen<br />

Zeit lassen kann, ohne immer sofort auf schnelle ergebnisse<br />

zu schielen.<br />

aus dem lesezirkel daheim hat sich im laufe <strong>eines</strong> Jahrhunderts<br />

eine <strong>Verlagsgruppe</strong> mit fast 1500 Mitarbeitern und<br />

einem umsatz von rund 270 Millionen euro entwickelt, die<br />

heute ihren festen platz in der deutschen Medienlandschaft<br />

hat und in deren entwicklung sich zugleich ein Jahrhundert<br />

deutscher geschichte spiegelt.


nachbemerkung<br />

a m anfang waren es nur einige puzzleteile, am ende ist daraus<br />

ein Bild geworden. das war nur möglich, weil viele mitgeholfen<br />

haben, verloren geglaubte daten und fakten, Bilder<br />

und dokumente ausfindig zu machen. ehemalige Mitarbeiter<br />

und kunden stellten private aufzeichnungen, fotos und erinnerungsstücke<br />

zur Verfügung. Besonders wichtig und hilfreich<br />

waren die vielen ausführlichen gespräche mit Mitarbeitern<br />

und pensionären, kunden und geschäftspartnern der <strong>Verlagsgruppe</strong>,<br />

die aus ihren erinnerungen beisteuerten, was in archiven<br />

oft nur noch bruchstückhaft oder gar nicht mehr zu finden<br />

ist. ihnen allen sei an dieser stelle für ihre Bereitschaft<br />

gedankt, bei der spurensuche und rekonstruktion von 100 Jahren<br />

deutscher wirtschaftsgeschichte am Beispiel <strong>eines</strong> familienunternehmens<br />

mitzuhelfen und über gute und schwere<br />

Zeiten offen zu informieren. dass niemand von denen, die in<br />

diesem Buch zitiert werden, versucht hat, den inhalt in unsachlicher<br />

form zu beeinflussen, fakten zu unterdrücken oder<br />

zu beschönigen, soll dabei nicht unerwähnt bleiben, da es k<strong>eines</strong>wegs<br />

selbstverständlich ist. ein besonderer dank gebührt<br />

Barbara holst, der leiterin des firmenarchivs, die wesentlich<br />

zum erfolg der »ausgrabungsarbeiten« beigetragen und vieles<br />

wieder zusammengetragen hat, was lange Zeit als verloren galt.<br />

Bedanken möchte ich mich auch bei meiner frau Marieclaude,<br />

die es (wieder einmal) fast klaglos ertragen hat, dass<br />

ich für einige Monate in meinem arbeitszimmer verschwunden<br />

bin, und die zudem bereit war, die aufgabe der ersten<br />

kritikerin zu übernehmen.<br />

371


personenregister<br />

A<br />

adenauer, konrad 251<br />

albers, hans 185<br />

althen, Michael 294<br />

andres, stefan 156<br />

arnold, Jürgen 245 f.<br />

augstein, rudolf 137<br />

B<br />

Bähnisch, theanolte 147<br />

Banzhaf, dieter <strong>34</strong>3 ff., 355 f.<br />

Bardot, Brigitte 165<br />

Barsch, gerhard r. 137<br />

Baum, Vicki 203<br />

Biller, Maxim 294, 296<br />

Bissinger, Manfred 162 f., 294, 309 f.,<br />

312 ff., 332 f., 336<br />

Boch, Brigitte von 244<br />

Böckem, Jörg 294<br />

Brandt, willy 233<br />

Breier, lo 294<br />

Brinckmann, albert erich 61, 122<br />

Brümmer, helmut 1<strong>34</strong>, 257, 277<br />

Bruyn, günter de 163<br />

Burda, franz 175<br />

Burda, frieder 175<br />

Bürkle, albrecht 156, 230, 239<br />

Buschinski, albert 195, 256, 277<br />

C<br />

campbell, fiona 168<br />

campe, august 18<br />

campe, Julius 60<br />

carlsson, wilhelm 13<br />

caruso, enrico 204<br />

cervantes, Miguel de 200<br />

372<br />

christensen, Martinus 60, 64 ff.,<br />

71 ff., 80 f., 84, 87, 89 ff., 97 f.,<br />

100 ff., 149, 153, 155, 164<br />

claudius, Matthias 104<br />

clausewitz, carl von 257<br />

cocteau, Jean 156<br />

colette 156<br />

courths-Mahler, hedwig 15<br />

cramer, heinz von 232<br />

D<br />

danella, utta 232<br />

declair, wolfgang 214, 256, 277<br />

degenhardt, franz Josef 232<br />

dick-read, grantly 230<br />

dickens, charles 200<br />

dietzel, gustav 45, 48, 120, 127, 133,<br />

1<strong>34</strong><br />

dithfurt, hoimar von 233<br />

dutiné, gottfried h. 325 ff.<br />

E<br />

ebert, dieter 249<br />

eckard, christoph gottfried <strong>34</strong>4<br />

eckardt, emanuel <strong>34</strong>, 168, 246, 253<br />

eckardt, gustav 38 f.<br />

eckert-rotholz, alice 230<br />

elster, hanns Martin 72<br />

erben, walter 79<br />

erhard, ludwig 128<br />

F<br />

fischer, Jürgen 295<br />

fischer, Marc 294<br />

flechtheim, ossip k. 233<br />

fleckhaus, willy 158 f., 178


fortmann, ulrich 291<br />

friedell, egon 51<br />

friedrich, Barbara 240, 242<br />

frohns (filialleiter) 198<br />

frölich, gerd 299 ff.<br />

fuß, arnold 60<br />

G<br />

ganske, anna (»Ännchen«) 13, 25 ff.<br />

ganske, gerda 62, 77, 99, 111, 118 ff.,<br />

130, 150, 229, 257 f., 268<br />

ganske, hilde 17, 25, 27, 52<br />

ganske, käthe 17, 25, 52<br />

ganske, kurt 16 f., 25 ff., 31, 33 ff.,<br />

42 ff., 49 ff., 55, 59, 61 f., 64 ff., 69,<br />

71, 75 ff., 80 ff., 101 ff., 110 f., 117 ff.,<br />

122 ff., 128, 130 f., 133, 137, 141,<br />

147 ff., 164, 166, 168, 178, 180,<br />

183 ff., 192 f., 197 ff., 205, 207 ff.,<br />

219, 227 ff., 231 f., 235 ff., 239 f.,<br />

245 ff., 250 ff., 268, 278 ff., 285 ff.,<br />

293, 309, 319, 323 ff.<br />

ganske, Mareile 257 f., 261 f., 287<br />

ganske, Michael 26, 45, 50, 61, 118,<br />

120, 148, 150, 156, 166, 168 ff., 173,<br />

175, 178, 180, 193, 196, 207, 246,<br />

255, 257 ff., 279, 285, 287, 289, 293<br />

ganske, richard 12 ff., 17 ff., 23 ff.,<br />

27 ff., 33, 35, 42, 47, 50, 52, 55, 111,<br />

126, 141, 142, 258, 278, 309<br />

ganske, thomas 12, 16, 50, 61, 69,<br />

118, 123, 131, 148, 154, 157, 159,<br />

162, 205, 216 f., 227, 229, 2<strong>34</strong> ff.,<br />

242, 249, 254, 257 f., 261 ff., 268,<br />

278 ff., 285 ff., 293, 297, 301, 309 f.,<br />

312, 314 f., 319 ff., 323 ff., 330 f.,<br />

333 f., <strong>34</strong>3, 353, 355 f., 362 f., 366 f.<br />

ganske, Veronika 262 f.<br />

garbo, greta 165<br />

gaul, richard 332<br />

gimm, peter 179<br />

giroud, françoise 156<br />

globke, hans 252<br />

goebbels, Joseph 51, 74, 150<br />

goethe, Johann wolfgang von 100,<br />

200, 203, 248, 309, 327<br />

gorbatschow, Michail 295<br />

gräfe, heinrich eduard <strong>34</strong>4<br />

grass, günter 163<br />

gruner, richard 166, 258<br />

gundlach, franz christian 168 f.<br />

H<br />

haas, willy 225<br />

hagelstange, rudolf 230<br />

häger, frank-h. 321, 355 f.<br />

hamm-Brücher, hildegard 160<br />

hantelmann, christa von 173, 239 ff.,<br />

249<br />

harenberg, Bodo 352<br />

hartz, alfred 114, 120, 133, 156<br />

hasse, o. e. 203<br />

hausendorf, Jörg 238, 364<br />

hazard, paul 72<br />

hebel, Johann peter 100<br />

heine, heinrich 51, 60, 122, 233<br />

heinemann, caesar 2<strong>34</strong><br />

herbst, Joachim 126, 136, 195, 207,<br />

214, 272, 276, 278<br />

herrmann, paul 230<br />

hess, werner 17, 46, 61, 184 ff., 281<br />

heuss, theodor 156<br />

hildebrandt, rüdiger 231 f., 261 f.<br />

hitler, adolf 50, 55, 61 f., 98, 113<br />

hoffmann, gottlob <strong>34</strong>4<br />

homer 200<br />

honecker, erich 295, 311<br />

höynck, hans e. 184 ff.<br />

huffsky, hans 174<br />

humboldt, alexander von 71<br />

J<br />

Jahnn, hans henny 2<strong>34</strong><br />

Jahr, John 174, 179<br />

Jakits, Madeleine 247 ff.<br />

Janssen, horst 301<br />

Jensen, Joy 239<br />

Joop, Jette 244<br />

Jourdan, Jochem 2<strong>34</strong><br />

373


Jünger, ernst 156<br />

Jürgs, Michael 295<br />

K<br />

kaiser, hans Jürgen 304<br />

karsten, Jochen 245 ff.<br />

karven, ursula 360<br />

kästner, erich 51<br />

kaufmann, andreas 299 ff.<br />

kaufmann, hans 253<br />

keller, will 159<br />

kessler, georg 356 f., 359 f.<br />

ketelsen, John 84, 97<br />

klever, ulrich <strong>34</strong>9<br />

knaus, albrecht 227, 231 ff., 261 f.,<br />

287<br />

koch, Bernhard <strong>34</strong>5, 351<br />

koch, lucas 295<br />

koch, Marianne 168<br />

koczian, Johanna von 168<br />

kolle, oswalt 179<br />

konsalik, heinz g. 203<br />

kopf, uwe 294<br />

kracht, christian 294<br />

kramer, franz albert 251<br />

kröger, ute 183<br />

krüger, arne 245, <strong>34</strong>6 f., 350<br />

krumbeck, detlev 20<br />

kuhlei, regine 244<br />

L<br />

laakmann, kai 3<strong>34</strong>, 336, <strong>34</strong>2<br />

lafer, silvia 244<br />

leander, Zarah 204<br />

lechte, heinz-dieter 202, 219 f., 269,<br />

278, 280<br />

leininger, carsten 327, 329 f.<br />

leippe, heinrich 150 f., 156<br />

lenz, lilo 225, 228<br />

lenz, siegfried 11, 61, 158, 225 ff.<br />

leuwerik, ruth 168 f.<br />

liebig, Justus von 71<br />

löber, hans 127, 1<strong>34</strong>, 257<br />

loest, erich 163<br />

374<br />

M<br />

Mailer, norman 158<br />

Mann, thomas 158, 200<br />

Markert, willy 185 f.<br />

Marx, erich 252 f.<br />

Mayer, walter 296<br />

Meister, urban 354<br />

Merian, Matthaeus <strong>34</strong>, 150, 152<br />

Meyendorff, irene von 167<br />

Michael, Marion 168<br />

Miller, henry 158<br />

Montherlant, henry de 156<br />

N<br />

nagel, wolfgang 240<br />

nelken, dinah 230<br />

neuss, wolfgang 232<br />

nicodemus (filialleiter) 65, 88, 117 f.<br />

notz, peter 321, 355 f.<br />

O<br />

ossenbach, clara 184<br />

ossenbach, hans 184<br />

P<br />

palm, frederik 306 ff.<br />

peichl, Markus 294 ff.<br />

petersen, carl wilhelm 62<br />

pieroth, elmar 270<br />

pieroth, dieter 269 ff.<br />

ploog, peter 237<br />

popper, karl 233<br />

porten, henny 167<br />

prelinger, kurt <strong>34</strong>4 ff., 351, 353 ff.<br />

pulver, liselotte 168<br />

R<br />

ranft, ferdinand 159 ff.<br />

raupach, susanne 296<br />

rensmann, peter 331 ff., 337<br />

riedel, heinz <strong>34</strong>5 f.<br />

rilke, rainer Maria 71<br />

ringelnatz, Joachim 51<br />

roegele, otto B. 253 f.<br />

röhring, hans helmut 261 f.


ohrsen, Johannes 97<br />

rüttgers, Barbara 167<br />

S<br />

salinger, georg 289<br />

scheeler, Max 158<br />

scheibenpflug, heinz 177 ff., 240<br />

schiller, friedrich 200, 203<br />

schlame, wilhelm 291<br />

schmidt, hans-Jürgen 353<br />

schmidt, hermann 272 ff., 313<br />

schmidt, peter 331<br />

schmitz, erwin 140, 205 ff., 213 f.,<br />

216 ff., 253, 269, 279 f.<br />

schneider, romy 168<br />

schramm, percy ernst 230<br />

schröder, gerhard 233, <strong>34</strong>0<br />

seekamp <strong>34</strong>9 f.<br />

segal, erich 232<br />

seidl, claudius 294<br />

servan-schreiber, Jean-Jacques 233<br />

shakespeare, william 200<br />

siedler, wolf Jobst 163<br />

siefke, andreas 336 f.<br />

simoneit-Barum, gerd 360<br />

stahnke, fred-ruthard 202 f.<br />

stammler, eberhard 140<br />

stein, Josef 251<br />

stempka, roman 137<br />

stock, dennis 158<br />

stünzner, günther von 73<br />

T<br />

tau, Max 230<br />

tauber, richard 204<br />

teubner, christian <strong>34</strong>7, 358<br />

thide, rainer 362, 364 ff.<br />

thieme, wolf 249<br />

thyssen-Bornemisza, hans-heinrich<br />

Baron von 168<br />

timmerberg, helge 294<br />

tolstoi, leo 200, 203<br />

tönnies, ilse 63 f., 67 ff., 104 f., 249<br />

tucholsky, kurt 51<br />

U<br />

ulbricht, walter 164<br />

unzer, august wilhelm <strong>34</strong>4<br />

unzer, Johann <strong>34</strong>4<br />

V<br />

Vesper, guntram 163<br />

Virchow, rudolf 71<br />

Vogt, kristina 16<br />

W<br />

waldenburger, curt (»thomas«)<br />

165 f., 169 f., 172 f., 177, 240<br />

waldenburger, helga (»puttchen«)<br />

165 f., 169 f., 172 f., 177, 240<br />

wegener, harriet 61 ff., 75, 77 ff.,<br />

117 f., 122, 124, 150 ff., 155 f., 230,<br />

233, 239, 249<br />

wenger, paul wilhelm 251<br />

westerkamp, Michael 286<br />

wilhelm ii. <strong>34</strong><br />

wille (angestellte) 85, 86, 87<br />

willmenrod, clemens 230<br />

wolf, reinhard 158<br />

wolter, annette 350<br />

wössner, Mark 326<br />

wrede, karl udo 235, 321, 323, 364<br />

wredenhagen, alfred von 132<br />

wunderlich, fritz 204<br />

Y<br />

Yadin, Yigael 231<br />

Z<br />

Zahn, peter von 230<br />

Zuse, konrad 208


1. auflage 2007<br />

copyright © 2007<br />

by hoffmann und campe Verlag, hamburg<br />

www.hoca.de<br />

gesetzt aus der itc new Baskerville<br />

druck und Bindung: druckhaus nomos, sinzheim<br />

printed in germany<br />

isBn 978-3-455-50018-9

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