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Berliner Zustände - Mbr

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mitismus ist die Abwehr von Erinnerung mit dem<br />

Ziel, eine ungebrochene individuelle, familiäre und<br />

nationale Identität (wieder-)herzustellen.<br />

Die Forscherinnen und Forscher der Uni Bielefeld beobachten<br />

in ihrer Langzeitstudie »Gruppenbezogene<br />

Menschenfeindlichkeit« seit einigen Jahren ein<br />

Erstarken antisemitischer Stereotype, die den Staat<br />

Israel zum Gegenstand haben (vgl. Heyder/Iser/<br />

Schmidt 2005). Die Täter-Opfer-Umkehr ist dabei ein<br />

beliebtes Prinzip: 40,5 Prozent der Befragten bejahten<br />

die Aussage »Was der Staat Israel heute mit den<br />

Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts<br />

anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit<br />

den Juden gemacht haben.« Mit 49 Prozent war fast<br />

die Hälfte der Befragten der Ansicht, dass Israel einen<br />

»Vernichtungskrieg« gegen die Palästinenser<br />

führe (Zick/Küpper 2009).<br />

Zentrale Themenfelder<br />

identifizieren und bearbeiten<br />

Kenntnisse über Ursachen, Verlauf und Auswirkungen<br />

der Shoa sollten integraler Bestandteil der<br />

demokratischen Allgemeinbildung sein, unabhängig<br />

von den familiären Herkunftsbezügen der Jugendlichen.<br />

Gleichzeitig machen die Erfahrungen<br />

der letzten Jahre deutlich, dass Holocaust-Erziehung<br />

allein nicht ausreicht,<br />

um antisemitischen Einstellungsmustern<br />

vorzubeugen<br />

bzw. sie zu bekämpfen. Pädagogische<br />

Strategien müssen<br />

dementsprechend über eine<br />

historisch-politische Bildung<br />

hinausgehen und aktuelle<br />

Ausprägungen des Antisemitismus thematisieren.<br />

Dabei spielt der Nahostkonflikt eine wichtige Rolle,<br />

ebenso ein oftmals verkürztes Verständnis globalisierter<br />

ökonomischer Prozesse und die Auseinandersetzung<br />

mit Religionen. In der Bearbeitung dieser<br />

Felder sollte spezifischen Bezügen und Verschränkungen<br />

unterschiedlicher Erfahrungen Rechnung<br />

getragen werden.<br />

»Antisemitismus<br />

ist kein<br />

›Migrantenproblem‹.«<br />

Schulische Sprachlosigkeit<br />

Ein lokaler Schwerpunkt unserer pädagogischen<br />

Arbeit liegt in Berlin-Kreuzberg, einem Bezirk mit<br />

einem relativ hohen Anteil muslimisch geprägter<br />

Bevölkerung. Die meisten der muslimischen Jugendlichen<br />

kommen aus Familien mit türkischem oder<br />

arabischem Hintergrund. Der Staat Israel und die<br />

Problematik des Nahostkonflikts sind für sie oft ein<br />

wichtiger Bezugspunkt. Eine der Fragen, mit denen<br />

wir unseren Projektschultag zum Nahostkonflikt<br />

beginnen, ist die nach ihren Erfahrungen, wenn der<br />

Nahostkonflikt in der Familie oder im Freundeskreis<br />

thematisiert wird. Ein Teil der Jugendlichen mit arabischem<br />

Hintergrund erlebt sich selbst als direkt (Familie)<br />

oder indirekt (Bekannte) davon betroffen. Sie<br />

antworten häufig mit den Begriffen Wut, Angst oder<br />

Hass. Viele Schülern/-innen mit türkischem Hintergrund<br />

führen in diesem Zusammenhang die gewalttätigen<br />

Ereignisse auf der Marvi Marmara an, die bis<br />

heute eine große Rolle in familiären Diskussionen<br />

spielen. Die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen<br />

nimmt die deutschen Medien als durchgängig<br />

israelfreundlich, parteiisch und antimuslimisch<br />

wahr. Oft wird hierbei der Vorwurf der »Fremdsteuerung«<br />

laut. Oder aber es wird die Erklärung nachgeliefert,<br />

dass die Deutschen sich bis heute für den Nationalsozialismus<br />

schämten<br />

und sich deshalb nicht trauen<br />

würden, sich israelkritisch zu<br />

äußern. Interessant in diesem<br />

Zusammenhang ist die Tatsache,<br />

dass die Schüler/-innen<br />

übereinstimmend angeben,<br />

der Nahostkonflikt sei im<br />

Schulunterricht überhaupt kein Thema. Hier wird<br />

ein erstes Missverhältnis deutlich.<br />

Ethnisierungsprozesse<br />

Eine der Herausforderungen für die pädagogische<br />

Arbeit mit herkunftsheterogenen Lerngruppen sind<br />

die divergierenden historischen, kulturellen und politischen<br />

Bezüge der Jugendlichen, sowohl hinsichtlich<br />

der Konstruktion der eigenen Identität als auch<br />

hinsichtlich individueller Positionierungen.<br />

Waren bestimmte ethnisch-nationale, kulturelle<br />

oder religiöse Zugehörigkeiten für die Jugendlichen<br />

über einen längeren Zeitraum nicht oder nur<br />

marginal von Bedeutung, kann sich dies vor dem<br />

Hintergrund bestimmter politischer Diskussionen<br />

und Auseinandersetzungen plötzlich und mit Vehemenz<br />

ändern. Ausschlaggebend dafür sind die<br />

spezifischen persönlichen Bezüge der Jugendlichen<br />

zu den jeweiligen Ereignissen oder Debatten. Eigene<br />

Flüchtlingserfahrungen<br />

können dabei ebenso eine<br />

Rolle spielen wie verwandtschaftliche<br />

Beziehungen in<br />

bestimmte Krisenregionen<br />

oder durch nationalgeschichtliche<br />

oder familiäre Narrative<br />

geprägte Loyalitäten. Werden<br />

diese inneren Konflikte<br />

noch durch persönlich erlebte<br />

Diskriminierungen aufgrund ethnischer oder kulturalistischer<br />

Zuschreibungen potenziert, scheint<br />

der Rückzug auf vermeintlich kollektive Identitäten<br />

eine – aus Perspektive der Jugendlichen – angemessene<br />

und hilfreiche Reaktion: »Wir Araber«, »wir<br />

Türken«, »wir Moslems«.<br />

Dabei ist die Frage nach der Staatsbürgerschaft<br />

nicht relevant. Vielmehr wird die deutsche Mehrheitsgesellschaft<br />

als ausschließend und stigmatisierend<br />

empfunden: »Die Deutschen respektieren uns<br />

nicht.« »Wir Muslime werden doch sowieso sofort<br />

als Terroristen abgestempelt.« Nicht selten kommt<br />

in diesem Zusammenhang auch ein Argument zum<br />

Tragen, das den Nationalsozialismus, den Nahostkonflikt<br />

und aktuelle Alltags- und Diskriminierungserfahrungen<br />

auf spezifische Weise verknüpft:<br />

»Warum müssen wir heute ausbaden, was die Deutschen<br />

damals mit den Juden gemacht haben?«<br />

Wenig Wissen, viel Emotion<br />

Israelisch-jüdische Perspektiven auf den Nahostkonflikt<br />

sind bei den Jugendlichen so gut wie unbekannt.<br />

Zwar können sie häufig sehr gut zwischen<br />

»Juden« und »Israelis« unterscheiden. Diese Abgrenzungsfähigkeit<br />

alleine sagt aber nicht viel aus. Oft,<br />

»Muslimische<br />

Jugendliche<br />

empfinden deutsche<br />

Medien als<br />

antimuslimisch und<br />

israelfreundlich.«<br />

so scheint es zumindest auf Grundlage der von den<br />

Jugendlichen geäußerten Erfahrungen, wird von<br />

Seiten der Lehrer_innen in der Schule viel Wert auf<br />

diese verbale Unterscheidung gelegt. Die Forderung<br />

wird jedoch selten erklärt oder kontextualisiert. Für<br />

die Einstellungsmuster spielt eine Unterscheidung<br />

in dieser Form keine bedeutende Rolle. Die Grenze<br />

zwischen »gut« und »böse« verläuft anders und zwar<br />

auf der Grundlage des Bezuges der betreffenden Personen<br />

zum Staat Israel. Anders<br />

gesagt: Juden, die in Deutschland<br />

leben und keinerlei positive<br />

Bezüge auf den Staat Israel<br />

äußern, stellen »kein Problem«<br />

dar, was jedoch nicht bedeutet,<br />

dass sie nicht stereotypisierend<br />

wahrgenommen werden:<br />

Die Gerüchte von »Reichtum«,<br />

»Medienmacht« und »Schläue«<br />

›der Juden‹ gehören zum Alltagswissen, wohingegen<br />

über die Geschichte des europäischen Antisemitismus<br />

kaum etwas bekannt ist.<br />

Bemerkenswert ist die oftmals anzutreffende Gleichzeitigkeit<br />

von Empathie, Nicht-Wissen und Abwehr<br />

bei den Jugendlichen – das gilt für herkunftsdeutsche<br />

Jugendliche ebenso wie für muslimisch geprägte.<br />

Empathie für die Verfolgungsgeschichte der<br />

Juden im Nationalsozialismus, Nicht-Wissen über<br />

jüdische, israelische, deutsche und europäische Geschichte<br />

und Gegenwart sowie Abwehr im Zusammenhang<br />

mit dem Nahostkonflikt.<br />

Opferkonkurrenzen<br />

Häufig wird die kollektive nationale Erinnerung an<br />

die Opfer des Holocaust und damit in erster Linie<br />

an ›die Juden‹ von den Jugendlichen als einseitig<br />

und ausschließend wahrgenommen. Sie fordern die<br />

Anerkennung persönlicher Opfererfahrungen. Dies<br />

umfasst sowohl die Anerkennung rassistischer und<br />

sozialer Ausgrenzung in Deutschland als auch die<br />

Anerkennung familiärer Leidens-, Flüchtlings- und<br />

Opfergeschichten in den jeweiligen (familiären)<br />

Herkunftsländern. Fehlende diesbezügliche Auseinandersetzungen<br />

im schulischen wie auch im außer-<br />

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