Der Zivilprozess lebt - die neueste Rechtsprechung ... - Anwaltsblatt
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MN Prozessrecht 282 BGH, Urteil vom 4.7.2012 – VIII ZR 109/11.<br />
schnitten wird oder der Beklagte sein Recht schon erstinstanzlich<br />
hätte geltend machen können oder neue Parteierklärungen<br />
und gegebenenfalls Beweiserhebungen notwendig<br />
werden und <strong>die</strong> Erledigung des Prozesses verzögert wird. 282<br />
So ist <strong>die</strong> Klageänderung von der Vollstreckungsabwehrklage<br />
in eine Klauselgegenklage sach<strong>die</strong>nlich, 283 aber nicht <strong>die</strong> Feststellungswiderklage<br />
auf Rückzahlung geleisteten Unterhalts.<br />
284<br />
Sach<strong>die</strong>nlichkeit liegt nicht vor, wenn ein völlig<br />
neuer Streitstoff in den Rechtsstreit eingeführt werden soll,<br />
bei dessen Beurteilung das Ergebnis der bisherigen Prozessführung<br />
nicht verwertet werden kann. 285<br />
Die Klageänderung kann nach § 533 Nr. 2 ZPO auf Tatsachen<br />
gestützt werden, <strong>die</strong> aufgrund der vom erstinstanzlichen<br />
Gericht vertretenen Rechtsansicht unerheblich waren 286<br />
oder in erster Instanz zwar vorgetragen wurden, für <strong>die</strong> Entscheidung<br />
über <strong>die</strong> Klage aber unerheblich waren. 287<br />
h) Entscheidung<br />
Eine Zurückverweisung an das Erstgericht wegen eines wesentlichen<br />
Verfahrensmangels gem. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO<br />
kommt nur in Betracht, wenn das erstinstanzliche Verfahren<br />
an einem so wesentlichen Mangel leidet, dass es keine<br />
Grundlage für eine instanzbeendende Entscheidung sein<br />
kann. Das ist nicht der Fall, wenn das Berufungsgericht den<br />
materiell-rechtlichen Standpunkt des Erstgerichts für verfehlt<br />
erachtet 288 oder aufgrund einer anderen materiell-rechtlichen<br />
Würdigung des Parteivorbringens eine Beweisaufnahme für<br />
erforderlich hält. 289<br />
Nach § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO muss ein Berufungsurteil<br />
zwar keinen Tatbestand enthalten. Erforderlich ist aber<br />
eine Bezugnahme auf <strong>die</strong> tatsächlichen Feststellungen in<br />
dem erstinstanzlichen Urteil mit einer Darstellung etwaiger<br />
Änderungen oder Ergänzungen und <strong>die</strong> sinngemäße Wiedergabe<br />
der Berufungsanträge. 290 Lässt das Berufungsgericht<br />
<strong>die</strong> Revision zu, muss aus den Urteilsgründen zu ersehen<br />
sein, von welchem Sach- und Streitstand es ausgegangen ist,<br />
welches Rechtsmittelbegehren <strong>die</strong> Parteien verfolgt haben<br />
und welche tatsächlichen Feststellungen der Entscheidung<br />
zugrunde liegen. 291 Bei einem sog. Protokollurteil müssen alle<br />
mitwirkenden Richter entweder das Protokoll, das <strong>die</strong> Urteilsbestandteile<br />
des § 313 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 ZPO enthalten<br />
muss, oder das als Anlage mit dem Protokoll verbundene<br />
Urteil unterschreiben. 292<br />
4. Revision/Nichtzulassungsbeschwerde<br />
Das Berufungsgericht kann <strong>die</strong> Revision beschränken auf einen<br />
rechtlich selbstständigen und damit abtrennbaren Teil<br />
des Streitstoffs, wie Zulässigkeit der Klage 293 oder Höhe des<br />
Anspruchs. 294<br />
Lässt das Berufungsgericht auf eine Anhörungsrüge<br />
hin <strong>die</strong> Revision nachträglich zu, ohne einen darauf<br />
bezogenen Gehörsverstoß festzustellen, ist <strong>die</strong> Zulassungsentscheidung<br />
verfahrensfehlerhaft ergangen und<br />
bindet den BGH. 295<br />
Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist zurückzuweisen,<br />
wenn das Berufungsurteil trotz zulassungsrelevanter<br />
Rechtsfehler im Ergebnis aus Gründen richtig ist,<br />
<strong>die</strong> ihrerseits <strong>die</strong> Zulassung der Revision nicht erfordern. 296<br />
Von Amts wegen ist zu prüfen, ob <strong>die</strong> Beschwer von mehr als<br />
20.000 Euro (§ 26 Nr. 8 EGZPO, vorläufig bis 31.12.2014)<br />
übersteigt. Dabei ist der BGH weder an <strong>die</strong> Angaben der Parteien<br />
noch an <strong>die</strong> Streitwertfestsetzung des Berufungsgerichts<br />
gebunden. 297 Eine Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />
durch den BGH kommt nicht in Betracht, wenn der Schuldner<br />
es versäumt hat, im Berufungsrechtszug einen Vollstreckungsschutzantrag<br />
gemäß § 712 ZPO zu stellen, obwohl<br />
ihm ein solcher Antrag möglich und zumutbar war, 298 außer<br />
es haben sich nachträglich neue Gründe ergeben. 299<br />
IX. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand<br />
(§ 234 ZPO)<br />
Fristversäumnisse gehören nach wie vor zu den häufigsten<br />
Pflichtverletzungen bei Anwälten. Mit der Wiedereinsetzung<br />
kann aber gerade im Berufungsverfahren vieles gerettet werden.<br />
Die <strong>Rechtsprechung</strong> des BGH zur Wiedereinsetzung ist<br />
daher sehr praxisrelevant. Grundtendenz des BGH ist es,<br />
den Parteien den Zugang zum Gericht durch eine Überspannung<br />
der Sorgfaltspflichten nicht in unzumutbarer, aus<br />
Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren.<br />
Es kommt immer wieder vor, dass der BGH sehr<br />
strenge Entscheidungen der Oberlandesgerichte kassiert.<br />
1. Verschulden des Rechtsanwalts<br />
Den Anwalt trifft ein eigenes Verschulden an der Fristversäumung,<br />
wenn er sich nicht rechtzeitig von der erforderlichen<br />
Bearbeitungszeit überzeugt. 300<br />
<strong>Der</strong> Anwalt darf das Empfangsbekenntnis<br />
nur unterzeichnen und zurückgeben, wenn<br />
sichergestellt ist, dass in den Handakten <strong>die</strong> Rechtsmittelfrist<br />
festgehalten und <strong>die</strong> Fristnotierung im Fristenkalender vermerkt<br />
ist. 301 Eine fristwahrende Maßnahme darf im Kalender<br />
als erledigt gekennzeichnet werden, wenn der fristwahrende<br />
Schriftsatz in ein Postausgangsfach des Anwalts als „letzte<br />
Station“ eingelegt wird, insbesondere nicht mehr in einen<br />
Umschlag einsortiert werden muss 302 . Die Übermittlung per<br />
Telefax ist durch Überprüfung des Sendeberichts anhand eines<br />
aktuellen Verzeichnisses oder einer anderen geeigneten<br />
Quelle sicherzustellen. 303 Besteht in einer Anwaltskanzlei <strong>die</strong><br />
Möglichkeit, dass ein Anwalt selbst Fristen streicht, dann<br />
muss der Anwalt ein eigenes Verschulden ausräumen und<br />
gegebenenfalls zu den organisatorischen Maßnahmen Stellung<br />
nehmen, <strong>die</strong> er zur Vermeidung von Fehlerquellen<br />
durch Kompetenzüberschneidung (auch Urlaub, Krankheit)<br />
getroffen hat. 304<br />
Fristversäumung wegen Verzögerung der<br />
Postlaufzeit ist dem Rechtsmittelführer nicht zuzurechnen. 305<br />
283 BGH, Urteil vom 27.1.2012 – V ZR 92/11.<br />
284 BGH, Urteil vom 11.8.2010 – XII ZR 102/09.<br />
285 BGH, Urteil vom 30.3.2011 – IV ZR 137/08.<br />
286 BGH, Urteil vom 27.1.2010 – XII ZR 148/07.<br />
287 BGH, Urteil vom 13.1.2012 – V ZR 183/10.<br />
288 BGH, Urteil vom 13.7.2010 – VI ZR 254/09.<br />
289 BGH, Urteil vom 14.6.2012 – IX ZR 150/11.<br />
290 BGH, Urteil vom 11.8.2010 – XII ZR 102/09.<br />
291 BGH, Urteil vom 24.2.2011 – VII ZR 169/10.<br />
292 BGH, Urteil vom 1.3.2010 – II ZR 213/08.<br />
293 BGH, Urteil vom 12.4.2011 – XI ZR 341/08.<br />
294 BGH, Urteil vom 27.9.2011 – II ZR 221/09.<br />
295 BGH, Urteil vom 1.12.2011 – IX ZR 70/10.<br />
296 BGH, Beschluss vom 10.6.2010 – Xa ZR 110/09.<br />
297 BGH, Beschluss vom 6.4.2011 – IX ZR 113/08.<br />
298 BGH, Beschluss vom 20.3.2012 – V ZR 275/11.<br />
299 BGH, Beschluss vom 27.10.2010 – VIII ZR 155/10.<br />
300 BGH, Beschluss vom 29.3.2011 – VI ZB 25/10.<br />
301 BGH, Beschluss vom 12.1.2010 – VI ZB 64/09.<br />
302 BGH, Beschluss vom 12.4.2011 – VI ZB 6/10.<br />
303 BGH, Beschluss vom 12.6.1212 – VI ZB 54/11.<br />
304 BGH, Beschluss vom 3.11.2010 – XII ZB 177/10.<br />
305 BGH, Beschluss vom 17.1.1212 – VIII ZB 42/11.<br />
<strong>Der</strong> <strong>Zivilprozess</strong> <strong>lebt</strong> – <strong>die</strong> <strong>neueste</strong> <strong>Rechtsprechung</strong> des BGH, Geisler AnwBl 11 / 2012 867