Der Zivilprozess lebt - die neueste Rechtsprechung ... - Anwaltsblatt
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MN Prozessrecht 306 BGH, Beschluss vom 13.1.2011 – VII ZB 95/08.<br />
2. Delegieren von Pflichten<br />
Ein Anwalt darf einfache Tätigkeiten, wie Fristenkontrolle<br />
oder Botengang, einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten<br />
und sorgfältig überwachten Bürokraft nach Ablauf<br />
einer beanstandungsfreien sechsmonatigen Probezeit 306<br />
anvertrauen,<br />
sofern durch geeignete organisatorische Maßnahmen<br />
sichergestellt ist, dass <strong>die</strong> Fristen zuverlässig festgehalten<br />
und kontrolliert werden. 307<br />
Deshalb sind dem Anwalt<br />
Fehler einer zuverlässigen Büroangestellten nicht zuzurechnen,<br />
wie das versehentliche Einwerfen eines Schriftsatzes<br />
beim falschen Gericht 308 oder der Verwendung einer unrichtigen<br />
Telefaxnummer. 309<br />
Unverzichtbar sind eindeutige Anweisungen<br />
an das Büropersonal, <strong>die</strong> Festlegung klarer Zuständigkeiten<br />
und <strong>die</strong> zumindest stichprobenartige Kontrolle<br />
der Angestellten. 310 <strong>Der</strong> Anwalt kann sich nur von der routinemäßigen<br />
Fristenkontrolle entlasten, muss den Fristablauf<br />
aber eigenverantwortlich nachprüfen, wenn ihm <strong>die</strong> Sache<br />
zur Vorbereitung der fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt<br />
wird. 311<br />
a) Organisation<br />
Zu den Aufgaben des Anwalts gehört es, das Fristenwesens<br />
in seiner Kanzlei durch Vermeidung von Fehlerquellen so zu<br />
organisieren, dass ein Fristversäumnis ausgeschlossen ist. 312<br />
Da weder ein bestimmtes Verfahren vorgeschrieben noch allgemein<br />
üblich ist, 313 steht es dem Anwalt frei, wie er seine<br />
Fristenkontrolle gestaltet. Es muss nur gewährleistet sein,<br />
dass sämtliche organisatorischen Maßnahmen so beschaffen<br />
sind, dass auch bei unerwarteten Störungen des Geschäftsablaufs<br />
(z. B. Überlastung, Erkrankung etc.) <strong>die</strong> Einhaltung<br />
der Frist vom Eingang 314 bis zur Ausgangskontrolle gesichert<br />
ist. Nur ein plötzliches und unvorhersehbares Ereignis entlastet.<br />
315<br />
Beantragt der Prozessbevollmächtigte eine Fristverlängerung,<br />
so muss das beantragte Fristende bei oder alsbald nach<br />
Einreichung des Verlängerungsantrags in den Fristenkalender<br />
eingetragen werden, 316 als vorläufig gekennzeichnet und<br />
rechtzeitig, spätestens nach Eingang der gerichtlichen Mitteilung,<br />
überprüft werden, damit das wirkliche Ende der Frist<br />
festgestellt wird. 317 <strong>Der</strong> Anwalt ist nicht verpflichtet, sich innerhalb<br />
des Laufs der Frist bei Gericht zu erkundigen, ob<br />
sein Verlängerungsantrag rechtzeitig eingegangen ist und<br />
ihm stattgegeben wurde. 318<br />
Wenn in mehreren Verfahren gleicher Parteien mehrere<br />
Fristen zu notieren sind, muss verhindert werden, dass eine<br />
Verwechslung in der Behandlung der verschiedenen Verfahren<br />
entstehen kann durch getrennte Notierung jeder Frist<br />
mit zusätzlichem eindeutigen Erkennungszeichen für jede<br />
Frist. 319 Werden zwei Fristenkalender geführt, darf ein Erledigungsvermerk<br />
in <strong>die</strong> Handakte erst dann aufgenommen werden,<br />
wenn <strong>die</strong> Fristen in beiden Kalendern eingetragen<br />
sind. 320<br />
b) Einzelanweisung<br />
Auf allgemeine organisatorische Vorkehrungen bzw. Anweisungen<br />
kommt es nicht mehr an, wenn der Anwalt einer zuverlässigen<br />
Kanzleikraft eine konkrete Einzelanweisung erteilt,<br />
welche für sich selbst bei Befolgung <strong>die</strong> Fristwahrung<br />
gewährleistet hätte. 321<br />
Ein Anwalt darf grundsätzlich darauf<br />
vertrauen, dass seine bisher zuverlässige Büroangestellte<br />
eine Einzelanweisung befolgt. 322<br />
Deshalb ist er nicht verpflichtet,<br />
sich anschließend über <strong>die</strong> Ausführung seiner Weisung<br />
zu vergewissern. 323<br />
Eine konkrete Einzelanweisung<br />
kann den Anwalt dann nicht von einer unzureichenden<br />
Büroorganisation entlasten, wenn sie vorhandene Organisationsmängel<br />
nicht beseitigt 324 oder unvollständig ist und deshalb<br />
der Fristversäumung nicht wirksam entgegenwirken<br />
kann. 325<br />
3. Kausalität<br />
Bei der Beurteilung, ob ein Fehler für <strong>die</strong> Versäumung einer<br />
Frist ursächlich geworden ist, darf kein weiteres, nicht aufgetretenes<br />
Fehlverhalten hinzu gedacht werden, sondern es<br />
ist von einem ansonsten pflichtgemäßen Verhalten auszugehen,<br />
326<br />
zum Beispiel das unzuständige Gericht leitet das<br />
Rechtsmittel nicht an das zuständige Gericht im ordentlichen<br />
Geschäftsgang weiter. 327<br />
a) <strong>Der</strong> durch eine unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung<br />
hervorgerufene Rechtsirrtum ist verschuldet, wenn <strong>die</strong><br />
Rechtsmittelbelehrung so falsch ist, dass sie nicht einmal<br />
den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermag, 328<br />
aber<br />
nicht, wenn sie nicht offenkundig fehlerhaft und der durch<br />
sie verursachte Irrtum nachvollziehbar ist. 329 Erkennt das zunächst<br />
angerufene Berufungsgericht frühzeitig, dass Bedenken<br />
gegen seine örtliche 330 oder funktionelle 331 Zuständigkeit<br />
bestehen und teilt es <strong>die</strong>se Bedenken dem Rechtsmittelführer<br />
nicht mit, wirkt sich ein Verschulden an der Fristversäumung<br />
dann nicht mehr aus. Die Rechtzeitigkeit des Eingangs<br />
eines per Telefax übersandten Schriftsatzes beurteilt<br />
sich ausschließlich danach, ob <strong>die</strong> gesendeten Signale noch<br />
vor Ablauf des letzten Tages der Frist vom Telefaxgerät des<br />
Gerichts vollständig empfangen (gespeichert) worden sind<br />
und dass sich <strong>die</strong>ser Zeitpunkt mit der Einzelverbindungsübersicht<br />
des Telefaxgerätes zuverlässig bestimmen lässt. 332<br />
Bei Störungen des gerichtlichen Empfangsgeräts liegt <strong>die</strong> Ursache<br />
für <strong>die</strong> Fristversäumung in der dem Anwalt nicht zuzurechnenden<br />
Sphäre des Gerichts. 333 Ist das Empfangsgerät<br />
mit anderen Telefaxsendungen belegt, muss der Betreffende<br />
307 BGH, Beschluss vom 8.2.2010 – II ZB 10/09.<br />
308 BGH, Beschluss vom 21.9.2010 – VIII ZB 14/09.<br />
309 BGH, Beschluss vom 14.10.2010 – IX ZB 34/10.<br />
310 BGH, Beschluss vom 28.9.2010 – X ZR 57/10.<br />
311 BGH, Beschluss vom 5.6.1212 – VI ZB 76/11.<br />
312 BGH, Beschluss vom 13.7.2010 – VI ZB 1/10.<br />
313 BGH, Beschluss vom 9.12.2009 – XII ZB 154/09.<br />
314 BGH, Beschluss vom 13.7.2010 – VI ZB 1/10.<br />
315 BGH, Beschluss vom 1.2.2012 – XII ZB 298/11.<br />
316 BGH, Beschluss vom 22.3.2011 – II ZB 19/09.<br />
317 BGH, Beschluss vom 13.7.2010 – VI ZB 1/10.<br />
318 BGH, Beschluss vom 5.6.2012 – VI ZB 16/12.<br />
319 BGH, Beschluss vom 6.10.2010 – XII ZB 66/10, XII ZB 67/10.<br />
320 BGH, Beschluss vom 10.3.2011- VII ZB 37/10.<br />
321 BGH, Beschluss vom 20.9.2011 – VI ZB 23/11.<br />
322 BGH, Beschluss vom 20.3.2012 – VIII ZB 41/11.<br />
323 BGH, Beschluss vom 8.2.2012 – XII ZB 165/11.<br />
324 BGH, Beschluss vom 25.6.2009 – V ZB 191/08.<br />
325 BGH, Beschluss vom 26.6.1212 – VI ZB 12/12.<br />
326 BGH, Beschluss vom 24.1.2012 – II ZB 3/11.<br />
327 BGH, Beschluss vom 21.6.2012 – IX ZB 265/11.<br />
328 BGH, Beschluss vom 13.6.2012 – XII ZB 592/11.<br />
329 BGH, Beschluss vom 12.1.2012 – V ZB 198/11, V ZB 199/11.<br />
330 BGH, Beschluss vom 20.4.2011 – VII ZB 78/09.<br />
331 BGH, Beschluss vom 14.12.2010 – VIII ZB 20/09.<br />
332 BGH, Beschluss vom 18.11.2010 – I ZB 62/10.<br />
333 BGH, Beschluss vom 11.1.2011 – VIII ZB 44/10.<br />
868 AnwBl 11 / 2012 <strong>Der</strong> <strong>Zivilprozess</strong> <strong>lebt</strong> – <strong>die</strong> <strong>neueste</strong> <strong>Rechtsprechung</strong> des BGH, Geisler