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Der Zivilprozess lebt - die neueste Rechtsprechung ... - Anwaltsblatt

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MN Prozessrecht 103 BGH, Beschluss vom 20.5.2010 – V ZR 201/09.<br />

a) Sachvortrag/Beweisangebot<br />

Eine Gehörsverletzung liegt vor bei Nichtberücksichtigung<br />

des Sachvortrags oder eines erheblichen Beweisangebots 103 ,<br />

wenn das Gericht <strong>die</strong> Präklusionsvorschriften (§ 282 Abs. 1,<br />

§ 296 Abs. 1, §§ 525, 530 ZPO) offenkundig unrichtig anwendet,<br />

104 Substanziierungsanforderungen überspannt, 105 einen<br />

fristgerecht eingereichten Schriftsatz versehentlich nicht<br />

berücksichtigt, 106 einen Terminsverlegungsantrag verfahrensfehlerhaft<br />

ablehnt, 107<br />

ein Sachverständigengutachten gemäß<br />

§ 411 a ZPO verwertet ohne <strong>die</strong> Parteien vorher darauf hinzuweisen<br />

oder entgegen § 285 Abs. 1, § 279 Abs. 3 ZPO mit<br />

den Parteien weder über das Ergebnis der Beweisaufnahme<br />

verhandelt noch den Sach- und Streitstand erneut erörtert. 108<br />

Das Gericht darf <strong>die</strong> Beweisaufnahme zu einem bestrittenen<br />

erheblichen Vorbringen nicht deshalb ablehnen, weil es zu<br />

früherem Vortrag in Widerspruch steht. Eine Widersprüchlichkeit<br />

ist bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen.<br />

109<br />

Das Berufungsgericht verletzt den Anspruch auf<br />

rechtliches Gehör, wenn es Zeugen nicht erneut vernimmt,<br />

obwohl es deren Aussagen anders würdigt als das Erstgericht.<br />

110<br />

b) Richterliche Hinweispflicht (§ 139 ZPO) und faires Verfahren<br />

(Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip)<br />

Das Gericht hat nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO dahin zu wirken,<br />

dass <strong>die</strong> Parteien sich rechtzeitig und vollständig über<br />

alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende<br />

Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen<br />

ergänzen, <strong>die</strong> Beweismittel bezeichnen und <strong>die</strong> sach<strong>die</strong>nlichen<br />

Anträge stellen. 111 Die Hinweispflicht ist verletzt, wenn<br />

das Gericht Anforderungen an den Sachvortrag stellt, mit denen<br />

ein gewissenhafter und kundiger Verfahrensbeteiligter<br />

nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht zu rechnen<br />

brauchte. 112<br />

Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn<br />

das Gericht Argumente anführt, zu denen <strong>die</strong> Prozessbeteiligten<br />

keine Gelegenheit zur Stellungnahme hatten. 113<br />

Das<br />

Gericht muss <strong>die</strong> Parteien frühzeitig informieren, dass Bedenken<br />

gegen seine funktionelle Zuständigkeit bestehen. 114<br />

Insbesondere darf den Prozessparteien der Zugang zu den<br />

Gerichten nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht<br />

mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. 115 Das Gericht<br />

aber muss nicht auf <strong>die</strong> mangelnde Substanziierung<br />

hinweisen, wenn es um eine der zentralen Fragen im Streit<br />

der Parteien geht und <strong>die</strong> Gegenpartei bereits darauf hingewiesen<br />

hat, dass der Vortrag hierzu unsubstanziiert war. Auf<br />

<strong>die</strong> Notwendigkeit ergänzenden Vortrags ist aber hinzuweisen,<br />

wenn der Vortrag in einem wesentlichen Punkt unklar<br />

oder ersichtlich unvollständig ist. 116<br />

Auf <strong>die</strong> Folgen einer<br />

rügelosen Einlassung (§ 295 ZPO) ist nur dann hinzuweisen,<br />

wenn <strong>die</strong> Partei anderenfalls in unzumutbarer Weise durch<br />

<strong>die</strong> Entscheidung des Gerichts überrascht würde. 117<br />

Das Berufungsgericht muss <strong>die</strong> Parteien auf <strong>die</strong> beabsichtigte<br />

vom Erstgericht abweichende Antragsauslegung hinweisen<br />

118 oder bei Bedenken gegen <strong>die</strong> Antragsfassung <strong>die</strong> Verhandlung<br />

wieder eröffnen zur Ermöglichung einer<br />

angepassten Antragsformulierung. 119<br />

Vor Verwerfung einer Berufung wegen Fristversäumung<br />

ist dem Rechtsmittelführer <strong>die</strong> Möglichkeit zu geben, sich<br />

zur Säumnis zu äußern und einen Antrag auf Wiedereinsetzung<br />

in den vorigen Stand zu stellen. 120 Ebenso wenig darf<br />

das Gericht über einen Antrag auf Wiedereinsetzung vor Ablauf<br />

der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden. 121 Nach § 139<br />

Abs. 4 Satz 2 ZPO kann <strong>die</strong> Erteilung rechtlicher Hinweise<br />

nur durch den Inhalt der Akten bewiesen werden. Sofern<br />

<strong>die</strong>se <strong>die</strong> Erteilung eines Hinweises nicht hinreichend dokumentieren,<br />

gilt <strong>die</strong>ser als nicht erteilt. Es darf daher kein Beweis<br />

erhoben werden zur Frage, ob <strong>die</strong> Vorinstanz einen<br />

Hinweis erteilt hat. 122<br />

2. Effektiver Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung<br />

mit dem Rechtsstaatsprinzip)<br />

Den Gerichten ist es verboten, den Parteien den Zugang zu<br />

einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in<br />

unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender<br />

Weise zu erschweren. So ist ein Berufungsurteil aufzuheben,<br />

wenn das Berufungsgericht <strong>die</strong> Berufung im Hinblick auf<br />

<strong>die</strong> Wertgrenze des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO fehlerhaft als unzulässig<br />

verworfen hat. 123<br />

Durch <strong>die</strong> gleichzeitige Verwerfung der Berufung als unzulässig<br />

und <strong>die</strong> Versagung von Prozesskostenhilfe für das<br />

Berufungsverfahren wird der Partei <strong>die</strong> Möglichkeit genommen,<br />

Wiedereinsetzung zu beantragen und das Berufungsverfahren<br />

auf eigene Kosten fortzuführen. 124<br />

3. Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG)<br />

Für <strong>die</strong> Annahme von Willkür reicht eine nur fragwürdige<br />

oder sogar fehlerhafte Rechtsanwendung nicht aus, selbst<br />

ein offensichtlicher Rechtsfehler genügt nicht, wenn sich das<br />

Gericht mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und<br />

seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt. 125<br />

Erforderlich ist vielmehr, dass <strong>die</strong> fehlerhafte Rechtsanwendung<br />

unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar<br />

ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf<br />

sachfremden Erwägungen beruht; <strong>die</strong> Rechtslage muss mithin<br />

in krasser Weise verkannt sein. 126 Es ist objektiv willkürlich<br />

unter Verletzung des Verfassungsgebots des gesetzlichen<br />

Richters, wenn der Einzelrichter statt der Kammer eine<br />

Rechtsbeschwerde zulässt. 127<br />

104 BGH, Beschluss vom 11.5.2010 – VIII ZR 301/08.<br />

105 BGH, Beschluss vom 28.2.2012 – VIII ZR 124/11.<br />

106 BGH, Beschluss vom 19.8.2010 – VII ZB 2/09.<br />

107 BGH, Beschluss vom 16.12.2011 – AnwZ (Brfg) 52/11.<br />

108 BGH, Beschluss vom 23.11.2011 – IV ZR 49/11.<br />

109 BGH, Urteil vom 13.3.2012 – II ZR 50/09.<br />

110 BGH, Beschluss vom 16.9.2010 – V ZR 61/10; BVerfG,<br />

Beschluss vom 14.09.2010 – 2 BvR 2638/09.<br />

111 BGH, Beschluss vom 23.4.2009 – IX ZR 95/06.<br />

112 BGH, Beschluss vom 17.8.2010 – I ZR 153/08.<br />

113 BGH, Beschluss vom 13.1.2011 – VII ZR 22/10.<br />

114 BGH, Beschluss vom 14.12.2010 – VIII ZB 20/09.<br />

115 BGH, Beschluss vom 10.1.2011 – IV ZB 29/10.<br />

116 BGH, Beschluss vom 30.9.2010 – V ZB 173/10.<br />

117 BGH, Beschluss vom 21.1.2010 – I ZB 74/08.<br />

118 BGH, Beschluss vom 6.7.2010 – VI ZR 177/09.<br />

119 BGH, Urteil vom 4.11.2010 – I ZR 118/09.<br />

120 BGH, Beschluss vom 24.2.2010 – XII ZB 168/08.<br />

121 BGH, Beschluss vom 17.2.2011 – V ZB 310/10.<br />

122 BGH, Beschluss vom 30.6.2011 – IX ZR 35/10.<br />

123 BGH, Beschluss vom 12.4.2011 – VI ZB 58/10.<br />

124 BGH, Beschluss vom 23.3.2011 – XII ZB 51/11.<br />

125 BGH, Beschluss vom 15.12.2011 – IX ZR 187/09.<br />

126 BGH, Beschluss vom 3.2.2011 – IX ZR 132/10.<br />

127 BGH, Beschluss vom 24.11.2011 – VII ZB 33/11.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Zivilprozess</strong> <strong>lebt</strong> – <strong>die</strong> <strong>neueste</strong> <strong>Rechtsprechung</strong> des BGH, Geisler AnwBl 11 / 2012 859

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