GEMEINDEzeitung der Martin-Luther-Gemeinde, April/Mai 2013 Teil 1
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GEDANKEN ZUM MITNEHMEN<br />
Gedanken zum Mitnehmen<br />
Heimat<br />
Vor einigen Wochen wurde ich von den<br />
Pflegerinnen eines Pflegewohnheimes<br />
nach meinem Gottesdienst dort zu einer<br />
alten Bewohnerin gerufen, <strong>der</strong> es nicht<br />
gut ging.<br />
Ununterbrochen stöhnte sie auf und wippte<br />
unruhig mit ihrem Oberkörper im Bett hinund<br />
her. Ihr Körper war verkrampft und<br />
beruhigende Worte drangen nicht zu ihr<br />
durch. „Vielleicht können Sie ja etwas tun,<br />
wir möchten ihr nichts spritzen“, sagten die<br />
Schwestern und ich atmete tief durch. Was<br />
konnte ich schon tun? Worte und Berührung<br />
halfen nichts. Da fiel mein Blick auf den Gottesdienstzettel<br />
von zuvor. „Befiehl du deine<br />
Wege und was dein Herze kränkt …“, das<br />
alte Lied von Paul Gerhardt, und ich begann<br />
einfach zu singen. „… <strong>der</strong> Wolken, Luft und<br />
Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, <strong>der</strong> wird<br />
auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann<br />
…“ Schon nach wenigen Takten konnte man<br />
sehen, wie sich die alte Dame entspannte.<br />
Das Stöhnen stoppte und das Wippen auch.<br />
Bei <strong>der</strong> zweiten Strophe stimmte sie, leise<br />
und heiser, plötzlich mit ein: „Dem Herren<br />
musst du trauen, wenn dir’s soll wohlergehn“.<br />
Und sie sang diese eine Zeile, immer<br />
und immer wie<strong>der</strong>, und nach einer halben<br />
Stunde schlief sie friedlich ein.<br />
„Was hat man eigentlich davon, Christ zu<br />
sein“, fragt die Theologin Dorothee Sölle in<br />
einem ihrer Texte, und fährt fort: „Außer Gottesdiensten,<br />
die uns oft kalt lassen; außer<br />
<strong>der</strong> Bibel, die wir oft nicht verstehen; außer<br />
Scherereien mit <strong>der</strong> Kirche, die uns oft allein<br />
lässt? Was haben wir denn davon?“ Und sie<br />
antwortet: „Wir haben eine Tradition. Uns ist<br />
etwas überkommen.“<br />
Und ich möchte sie ergänzen: je mehr ich<br />
mit Trauernden, Kranken o<strong>der</strong> Sterbenden zu<br />
tun habe, um so mehr merke ich, wie sehr<br />
diese Tradition, diese alten Worte unseres<br />
Glaubens, die biblischen Geschichten, die wir<br />
schon als Kin<strong>der</strong> hörten, die alten und neuen<br />
Glaubenslie<strong>der</strong> eine Heimat sind. Eine Heimat,<br />
die weitergereicht wird durch die Zeit,<br />
angefüllt mit Geschichten und Sprüchen,<br />
Lie<strong>der</strong>n und Gebeten. Eine Heimat, die wir in<br />
uns tragen, in die wir uns retten können und<br />
die uns schützend und bergend umgibt.<br />
Dorothee Sölle schreibt: „Vor uns waren<br />
schon an<strong>der</strong>e da, die Angst hatten und<br />
© Rainer Klinke / Pixelio.de<br />
kleine Leute waren, denen aber Hoffnung<br />
geschenkt wurde. Unsere Mütter und Väter<br />
schon haben sich Geschichten von <strong>der</strong> Rettung<br />
erzählt, und unsere Großeltern waren<br />
nicht allein beim Sterben. Vor uns schon haben<br />
an<strong>der</strong>e Angst gehabt und sind gerettet<br />
worden, vor uns waren schon an<strong>der</strong>e lahm<br />
und bekamen gesagt: Nimm dein Bett und<br />
wandle! Vor uns weinten schon Mütter und<br />
gingen zu den Gräbern und wurden getrost.<br />
Vor uns schon suchten Menschen Gott und<br />
wollten einen an<strong>der</strong>en Frieden als den auf<br />
Gewalt gebauten und fanden Gott und wurden<br />
stark in Gott.“<br />
Diese Heimat des Glaubens zu kennen ist<br />
ein wun<strong>der</strong>bares Geschenk. Ein Schatz, von<br />
unendlichem Wert. Ich wünsche mir, dass<br />
wir diese Heimat gemeinsam entdecken,<br />
dass wir sie zusammen durchstöbern, sie<br />
austesten, uns von ihr tragen lassen. Und<br />
dass wir als Einzelne und als <strong>Gemeinde</strong>,<br />
Wege finden, dass wir diese Heimat selbst<br />
weiterreichen, an die Menschen um uns<br />
herum und an die Menschen nach uns durch<br />
die Zeit.<br />
Ihre Anja Siebert-Bright<br />
<strong>Gemeinde</strong>zeitung <strong>April</strong>|<strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
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