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Ausgabe 03/07 - Siemens Mobility

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Schwer erreichbar ist Dankhar noch immer.<br />

Für die Bauern, die ihre Ernte quälend<br />

langsam auf dem Rücken hinauf zu<br />

ihren Höfen balancieren. Für die Alten,<br />

die auf den steilen Pfaden weder Stufen<br />

noch Geländer finden. Für den Briefträger,<br />

der die Post jeden Tag aus dem Tal<br />

holen muss.<br />

Der Bote berät, liest vor<br />

und schreibt mit<br />

Das Postamt – vier Quadratmeter, kein<br />

Strom, kein Telefon – liegt verkehrsgünstig<br />

an der einzigen Straße, die Spiti mit<br />

der Außenwelt verbindet. Ein „Postmeister“<br />

hütet das Amt und kümmert sich um<br />

die Postsäcke, die der Linienbus vor der<br />

Tür abwirft. An diesem Morgen hat er Kumar<br />

zwei Briefe überreicht, und eine<br />

Geldsendung: ein Ledersäckchen mit ein<br />

paar Scheinen darin, sorgsam mit Siegel<br />

und Vorhängeschloss gesichert, das Gewicht<br />

von 750 Gramm auf einem Begleitschein<br />

vermerkt. Vorschriften, die aus einer<br />

anderen Zeit und aus einem anderen<br />

Teil Indiens stammen müssen: Im buddhistischen<br />

Spiti kann sich niemand an einen<br />

Diebstahl erinnern.<br />

Dilip Kumar läuft den Weg zurück nach<br />

Dankhar in einer guten Stunde, dreimal<br />

schneller als Ungeübte. Um Zeit zu gewinnen,<br />

hat er sich kürzlich ein Motorrad<br />

gekauft – doch die schmale Straße,<br />

die sich über zehn Kilometer den Berg<br />

empor windet, ist derzeit wieder einmal<br />

durch Steinlawinen verschüttet. Und sie<br />

endet weit vor dem Dorf mit seinen<br />

krummen Gassen und Ziegenpfaden,<br />

für die es keine Namen gibt. Doch der<br />

Briefträger weiß, wo er jeden der<br />

300 Einwohner findet.<br />

„Großonkel Sonam, dein Sohn hat dir<br />

Geld geschickt“, ruft er in einen dunklen<br />

Hausflur, streift die Schuhe ab und betritt<br />

die Wohnküche. Vor dem Ofen in der<br />

Zimmermitte sitzt der Dorfälteste im<br />

Schneidersitz und spricht leise ein Mantra<br />

vor sich hin. Kumar zählt Scheine in die<br />

Hand des 82-Jährigen: „Davon sollst du<br />

zu essen kaufen und für dich sorgen.“<br />

Dann nimmt er den Ofendeckel ab, schwärzt<br />

den rechten Daumen des Alten mit<br />

Ruß und drückt ihn auf eine Empfangsbestätigung.<br />

„Ich möchte mich noch bei<br />

meinem Sohn bedanken“, sagt der alte<br />

Mann und beginnt zu diktieren.<br />

Kumar schreibt mit, liest noch einmal<br />

vor und verspricht, den Brief mit dem<br />

nächsten Bus abzuschicken.<br />

Dilip Kumar beherrscht<br />

beide Sprachen<br />

Der nächste Adressat ist nicht zu Hause.<br />

Nie würde Kumar einen Brief einfach<br />

unter der Tür durchschieben, lieber<br />

kommt er wieder: „Was, wenn Kinder die<br />

Post für Müll halten und wegwerfen?<br />

Oder wenn der Empfänger den Brief nicht<br />

allein lesen kann?“ Nicht nur alten Menschen<br />

muss er oft beim Lesen und Schreiben<br />

helfen. Amtliche Post ist in Hindi geschrieben<br />

– in Spiti wird jedoch ein<br />

tibetischer Dialekt gesprochen, denn die<br />

Region hat lange zu Tibet gehört.<br />

Dilip Kumar beherrscht beide Sprachen,<br />

versteht sogar ein bisschen Englisch.<br />

Um schneller zu sein, hat sich Dilip Kumar<br />

ein Motorrad gekauft. Doch oft ist die Straße<br />

von Steinlawinen verschüttet<br />

Deshalb wurde er einst vom Bürgermeister<br />

als Briefträger vorgeschlagen. Ein begehrter<br />

Posten, der mit 60 Euro im Monat<br />

nicht gut bezahlt ist, aber die Chancen<br />

von Kumars Kindern erhöht, eines Tages<br />

selbst in den Staatsdienst zu treten. Auf<br />

dem Weg nach Hause hält ihn ein Nachbar<br />

an. „Dilip, warte bitte. Kannst du ein<br />

Einschreiben für mich aufgeben? Es eilt.“<br />

Er gibt ihm Brief und Geld und lädt ihn<br />

zum Tee ein. Kumar winkt dankend ab:<br />

Er muss für die Kinder kochen, denn<br />

seine Frau übernachtet heute in einer<br />

Hütte bei den Feldern, um den weiten<br />

Weg zu sparen.<br />

Am nächsten Morgen wird Dilip Kumar<br />

wieder ins Tal laufen, für seinen Nachbarn<br />

einen Umschlag beschriften, mit<br />

einem Pinsel die Briefmarken aufkleben<br />

und abstempeln. Dann wird er eine Quittung<br />

schreiben und sie zurückbringen.<br />

„Niemand hier muss selbst ins Postamt<br />

kommen“, sagt Dilip Kumar. „Dafür haben<br />

die Leute in Dankhar keine Zeit.“<br />

Der Briefträger (rechts) bringt auch Geld vorbei – und setzt postwendend Antwortschreiben auf<br />

Ines Possemeyer, Redakteurin<br />

der Zeitschrift GEO in Hamburg<br />

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