der kürzeste weg zu sich selbst führt um die welt herum. - Matarka

68 István Molnár
der Fahrt stetig im Auge behalten, schließt eben dadurch herabmindernde Erinnerungen
aus; endlich steigert die Phantasie in der Erwartung den möglichen Einfluss
des Heiligtums so sehr, dass die Seele sich dem wirklich Vorhandenen mit äußerster
Empfänglichkeit hingibt. 29
Wie differenziert Keyserling die betreffende Frage behandelt, und so wie ungerecht die an
ihn gerichteten Kritiken und Vorwürfe sind, zeigt die Fortsetzung dieses Gedankengangs:
Aber dieses Subjektive ist es nicht allein, das die Heilwirkung heiliger Stätten bedingt:
diese werden objektiv heiligend durch die Kumulation der Glaubensvorstellungen
seiner Besucher. Sie gewinnen auf die Dauer eine Atmosphäre, die auch
den ergreift, der in unheiliger Stimmung hinzog. 30
Im Lichte der indischen Seelenkultur scheint dem Verfasser fast die ganze europäische
Geistigkeit, Lebenspraxis problematisch zu sein. Ein eklatantes Beispiel dafür ist die Frage
der Wahrheit. Keyserling bezieht sich auf ein Gespräch mit einem Inder bei der veranschaulichenden
Klärung dieses wichtigen Problems:
Neulich sagte mir ein Hindu: Dass ihr großer Geister bedürft, um die Wahrheit zu
entdecken, ist ein Zeichen, wie ungebildet ihr seid; ihr seid auf außerordentliche
Zufälle angewiesen. Die Wahrheit ist doch da, liegt jedermann vor, ist im geringsten
enthalten: nach genügender Schulung kann jeder ihrer ansichtig werden. Welch
supreme Ironie liegt darin, dass ihr, die Ungeduldigen, die Geburt eines Originales
abwarten müsst, um euch einer Selbstverständlichkeit /denn jede Wahrheit versteht
sich von selbst/ bewusst zu werden! 31
Eine naivere und zugleich schärfere Kritik an dem europäischen, insbesondere deutschen
Geniekult hat noch keiner formuliert. Dass die Situation nicht ganz hoffnungslos ist, zeigt
die Einführung von Kursen des „kreativen Schreibens“ an einigen Universitäten in den
letzten Jahrzehnten.
Im einführenden Teil haben wir schon darauf hingewiesen, welch große Rolle die
Berührung und Bekanntschaft Keyserlings mit der russischen Kultur und Geistigkeit gespielt
hat. Russland kommt auch im Reisetagebuch als positives Beispiel vor, als beinahe
einzige Ausnahme von den Verfallserscheinungen in Europa:
Im westlichen Europa, das im Mittelalter Indien so ähnlich sah, ist echte Andacht
kaum mehr anzutreffen […]. Nur in Russland kennt man sie noch als Normalphänomen.
In der Tat habe ich, seit ich in Indien weile, mehr denn einmal des russischen
Menschen gedenken müssen. Seltsam ähnlich dem Hindu steht dieser zur
Welt: gleich allverstehend, gleich allbrüderlich, gleich unpraktisch. Und seltsam
ist vor allem seine Religiosität. Zwischen vielen Pilgern, die ich einerseits am
29 Ebd., 259
30 Ebd., 259–260
31 Ebd., 313