Der Mensch ist, was er isst - Gesellschaft für kritische Philosophie
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sens im Unt<strong>er</strong>schied zur gläubigen Gesinnung<br />
nicht üb<strong>er</strong> die ganze, üb<strong>er</strong>religiöse<br />
Wahrheit des Phänomens (beispielsweise<br />
sein<strong>er</strong> ausgeschiedenen, übelriechenden<br />
Reste) hinweg. Feu<strong>er</strong>bach stellt fest: „Das<br />
Essen und Trinken in sein<strong>er</strong> ganzen Ausführlichkeit<br />
und Förmlichkeit vorgestellt,<br />
<strong>ist</strong> all<strong>er</strong>dings eine profane, irreligiöse, d<strong>er</strong><br />
Gött<strong>er</strong> unwürdige Vorstellung; ab<strong>er</strong> an<br />
dieses profane Detail denkt auch nicht d<strong>er</strong><br />
Gottgläubige.“ (Theogonie, a.a.O.: 206f.)<br />
Trotz d<strong>er</strong> <strong>er</strong>wähnten Einschränkungen und<br />
Profanisi<strong>er</strong>ungen sein<strong>er</strong> „neuen Religion“<br />
des guten Essens <strong>ist</strong> sich Feu<strong>er</strong>bach durchaus<br />
d<strong>er</strong> rhetorischen Missv<strong>er</strong>ständlichkeit<br />
ihr<strong>er</strong> dialektischen Umw<strong>er</strong>tung bewusst.<br />
Denn selbstv<strong>er</strong>ständlich geht es dem revolutionären<br />
Programm sein<strong>er</strong> Gastrosophie<br />
nicht um die Statui<strong>er</strong>ung neu<strong>er</strong> Glaubenssätze,<br />
sond<strong>er</strong>n um die Würdigung d<strong>er</strong><br />
Heiligkeit d<strong>er</strong> Küche als v<strong>er</strong>nünftig<strong>er</strong> Praxis.<br />
In d<strong>er</strong> Antizipation wahrscheinlich<strong>er</strong><br />
Einwände seitens voreilig<strong>er</strong> Kritik und d<strong>er</strong><br />
sich<strong>er</strong>en Vorbehalte seitens chr<strong>ist</strong>lich<strong>er</strong><br />
V<strong>er</strong>ächt<strong>er</strong> d<strong>er</strong> kulinarischen V<strong>er</strong>nunft –<br />
d<strong>er</strong>en Liturgie gleichwohl um das Mahl<br />
kre<strong>ist</strong> – setzt sich d<strong>er</strong> V<strong>er</strong>künd<strong>er</strong> d<strong>er</strong> neuen<br />
Weltweisheit zur Wehr: „Und willst du<br />
darüb<strong>er</strong> lächeln, daß ich das Essen und<br />
Trinken, weil sie gemeine, alltägliche Akte<br />
sind, deswegen von Unzähligen ohne<br />
Ge<strong>ist</strong>, ohne Gesinnung ausgeübt w<strong>er</strong>den,<br />
religiöse Akte nenne, nun so denke daran,<br />
daß auch das Abendmahl ein gesinnungslos<strong>er</strong>,<br />
ge<strong>ist</strong>los<strong>er</strong> Akt bei Unzähligen<br />
<strong>ist</strong>, weil <strong>er</strong> oft geschieht...“. (Das Wesen<br />
des Chr<strong>ist</strong>entums, a.a.O.: 410) Freilich<br />
wäre Feu<strong>er</strong>bach nicht d<strong>er</strong> dialektische<br />
Glaubens- und Ideologieaufklär<strong>er</strong>, würde<br />
<strong>er</strong> seine gastrosophische Heiligsprechung<br />
d<strong>er</strong> angeblich unwichtigen und nebensächlichen<br />
Sache des Essens nicht durch<br />
d<strong>er</strong>en Humanität a ventre principium begründen,<br />
weil d<strong>er</strong> <strong>Mensch</strong> <strong>ist</strong>, <strong>was</strong> <strong>er</strong> <strong>isst</strong>.<br />
Deshalb heißt es weit<strong>er</strong> in d<strong>er</strong> eben angeführten<br />
Passage, die zugleich die abschließenden<br />
Wortes seines Hauptw<strong>er</strong>ks sind:<br />
„...v<strong>er</strong>setze dich, um die religiöse Bedeutung<br />
des Genusses von Brot und Wein zu<br />
<strong>er</strong>fassen, in die Lage hinein, wo d<strong>er</strong> sonst<br />
alltägliche Akt unnatürlich, gewaltsam<br />
unt<strong>er</strong>brochen wird. Hung<strong>er</strong> und Durst z<strong>er</strong>stören<br />
nicht nur die physische, sond<strong>er</strong>n<br />
auch ge<strong>ist</strong>ige und moralische Kraft des<br />
<strong>Mensch</strong>en, sie b<strong>er</strong>auben ihn d<strong>er</strong> <strong>Mensch</strong>heit,<br />
des V<strong>er</strong>standes, des Bewußtseins. ...<br />
So braucht man nur den gewöhnlichen<br />
gemeinen Lauf d<strong>er</strong> Dinge zu unt<strong>er</strong>brechen,<br />
um dem Gemeinen ungemeine Bedeutung,<br />
dem Leben als solchem üb<strong>er</strong>haupt religiöse<br />
Bedeutung abzugewinnen. Heilig sei<br />
uns darum das Brot, heilig d<strong>er</strong> Wein, ab<strong>er</strong><br />
auch heilig das Wass<strong>er</strong>! Amen.“<br />
Anm<strong>er</strong>kungen:<br />
1<br />
F<strong>er</strong>dinand Fellmann bringt diese Situation treffend<br />
auf den Punkt: „‹<strong>D<strong>er</strong></strong> <strong>Mensch</strong> <strong>ist</strong>, <strong>was</strong> <strong>er</strong><br />
<strong>isst</strong>›. Dies<strong>er</strong> zur Zeit des Deutschen Idealismus<br />
schocki<strong>er</strong>ende Satz von Ludwig Feu<strong>er</strong>bach hat<br />
heute kaum mehr W<strong>er</strong>t als den ein<strong>er</strong> Kuriosität.“<br />
F. Fellmann, Kulturelle und p<strong>er</strong>sonale Identität,<br />
in: H. J. Teuteb<strong>er</strong>g (Hrsg.), Essen und kulturelle<br />
Identität, B<strong>er</strong>lin 1997: 27.<br />
2<br />
Eine aktuelle Einführung in das ganze W<strong>er</strong>k,<br />
freilich ohne B<strong>er</strong>ücksichtigung von Feu<strong>er</strong>bachs<br />
Gastrosophie, bietet: C. Weckw<strong>er</strong>th, Ludwig<br />
Feu<strong>er</strong>bach zur Einführung, Hamburg 2002<br />
3<br />
Vgl. A. Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit,<br />
Frankfurt a. M. 1973; W. Wahl, Feu<strong>er</strong>bach<br />
und Nietzsche. Die Rehabiliti<strong>er</strong>ung d<strong>er</strong> Sinnlichkeit<br />
und des Leibes in d<strong>er</strong> deutschen <strong>Philosophie</strong><br />
des 19. Jahrhund<strong>er</strong>ts, Würzburg 1998; U.<br />
Reitemey<strong>er</strong>, <strong>Philosophie</strong> d<strong>er</strong> Leiblichkeit, Frankfurt<br />
a. M. 1988<br />
4<br />
<strong>D<strong>er</strong></strong> junge Marx spricht sich üb<strong>er</strong> den nachhaltigen<br />
Einfluss des et<strong>was</strong> ält<strong>er</strong>en Feu<strong>er</strong>bach in<br />
höchsten Tönen aus: „Die positive Kritik üb<strong>er</strong>haupt<br />
(v<strong>er</strong>dankt) ihre wahre Begründung den<br />
Aufklärung und Kritik 1/2004 135