GESETZ UND ZUM ZEUGNIS. - Licht und Recht
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Abschnitt III. – Parallelen aus der Kirchengeschichte. 31<br />
lebte von dem großen Gedanken der <strong>Recht</strong>fertigung des Sünders vor Gott solâ fide. Aber bald überwältigte<br />
auch hier wieder Viele, <strong>und</strong> zwar nicht die Schlechtesten, sondern eher die Gewissenhaftesten,<br />
die Angst, des Guten zu viel zu tun. Und da nun kein „Gesetz“ wie einst auf Sinai gegeben,<br />
<strong>und</strong> auch das Beispiel Roms vor der Wiederaufrichtung einer groben Werkgerechtigkeit warnte, so<br />
fing man jetzt die Sache subtiler an. Man begann eine Heiligungslehre nach der <strong>Recht</strong>fertigungslehre<br />
vorzutragen, wo dann der Mensch durch die <strong>Recht</strong>fertigung die Kräfte erhielt, um die Heiligung<br />
mit Hilfe derselben (oder des neuen Prinzips, oder des „Christus in uns“, oder irgend einer hebelartig<br />
wirkenden Kraft) selber zu vollbringen. Besser wurde die Sache damit nicht, dass sie subtiler angegriffen<br />
wurde. – Der alte Semipelagianismus arbeitete sich, geschmückt, soviel wie irgend möglich,<br />
mit den Federn des Augustinismus, wieder obenauf. Die es besser zu wissen meinten, sündigten<br />
dann wieder in excessu, wohingegen jene Treiber einer Heiligkeitslehre in defectu sündigten.<br />
Aus dieser Schaukelbewegung ist die Kirche nie herausgekommen <strong>und</strong> wird es auch nicht. Denn<br />
das „Gesetz“ ist nebenbei eingetreten <strong>und</strong> hat seine ganz bestimmt angewiesene Aufgabe. So wie<br />
der Mensch, Gottes Geist vorgreifend, die Heilsordnung selbst in Tätigkeit zu setzen <strong>und</strong> der Geburt<br />
von Kindern Gottes künstlich nachzuhelfen versucht, so tritt das System an Stelle des Lebens, <strong>und</strong><br />
die Abweichung in der Kirche ist aufs neue besiegelt; selig wird man alsdann zwar noch in dieser<br />
Kirche, aber nun trotz des Systems, nicht durch dasselbe.<br />
Überblicken wir die Gegenwart, so finden wir das Gleiche auch hier. Auf der einen Seite stehen<br />
die äußeren Kirchengemeinschaften, die zwar das Bekenntnis nicht abgeschafft, aber doch seit langer<br />
Zeit Jeden, der mit ihrem Lehrbegriff in Zwiespalt ist, dessen ungeachtet als Glied der Kirche<br />
anerkennen. Es ist hier die nackte Gesetzlosigkeit auf die Spitze getrieben, <strong>und</strong> jeder nebelhafteste<br />
religiöse Standpunkt wird beschönigt <strong>und</strong> gutgeheißen. Freilich ist hiebei dem, der die Gerechtigkeit<br />
aus dem Glauben allein treibt, auch heute noch alle Gelegenheit geboten, den Beweis des Geistes<br />
<strong>und</strong> der Kraft anzutreten <strong>und</strong> der Welt zu zeigen, dass das Christentum der apostolischen Zeit<br />
neue Triebe auch in unserem alt gewordenen Zeitalter hervorbringen könne.<br />
Dagegen finden wir im Widerspruch mit diesem verfallenen Kirchentum, sei es noch in ihm befangen,<br />
oder in offenbarem Streit mit ihm, <strong>und</strong> dann besondere Gemeinschaften bildend, den Sektengeist,<br />
das sektirerische Wesen. Dasselbe hat die große Bewegung des Réveil, <strong>und</strong> in Folge dessen<br />
die Separation größerer Gemeindeteile von der Staatskirche hervorgerufen. Die Ansätze zu dieser<br />
Richtung waren nie ausgestorben seit der Reformationszeit. Coornhert, Taffin, der Labadismus, das<br />
Konventikelwesen hatten stets eine Art von warmer Strömung neben dem angrenzenden kälter <strong>und</strong><br />
immer kälter werdenden Wasser in der Kirche unterhalten. Der deutsche Pietismus hatte teils defensiv,<br />
teils auch aggressiv ein Gebiet innerhalb der Kirche sich zu erobern <strong>und</strong> dann zu wahren gewusst,<br />
wo man nach seiner Façon heilig leben konnte, um hernachmals desto anstandsloser selig zu<br />
werden 26 . Die Reste dieser Richtung, die in den aus der Reformationszeit stammenden Kirchen vorhanden,<br />
rafften sich nun am Anfang dieses Jahrh<strong>und</strong>erts zu einer verzweifelten Anstrengung innerhalb<br />
der Landeskirchen Großbritanniens (hier auch bei den Dissenters), Hollands, Deutschlands <strong>und</strong><br />
der Schweiz auf. Gestachelt wurde diese Bewegung durch den Vorgang des Methodismus, der in<br />
dem trüben Wasser der Landeskirche seinen reichen Fang machte <strong>und</strong> wahrhaft bew<strong>und</strong>erungswürdige<br />
Erfolge hatte. Die allgemeine Lauheit saß ja freilich damals auf dem Throne, die Geistlichkeit<br />
war dem Rationalismus ergeben oder doch arminianisch, wo nicht gar hie <strong>und</strong> da schon socinianisch;<br />
das Bekenntnis unterschrieb man mit der reservatio mentalis, nicht danach lehren zu wollen,<br />
<strong>und</strong> wenn man auch die Dogmen, wie in Schottland, nicht angriff, so predigte man doch eine tote<br />
Moral – eine Art von Lebensversicherung, mehr für dieses Leben berechnet, als für das jenseitige 27 .<br />
26 Vergl. über den aggressiven Pietismus Benders Werk über Johann Konrad Dippel.<br />
27 Man predigte auch wirklich über Lebensversicherungen. – Chatham sagte etwa um 1770: Wir haben ein calvini-