Heft 1 (2013) - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV
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PROSA<br />
Ja, so sitze ich hier mit meiner Ansichtskarte<br />
und drehe und wende sie hin und her, draußen ist<br />
inzwischen schon die Dämmerung eingebrochen<br />
und von dem frühlingshaften Zwitschern der<br />
Vögel hört man im Moment auch nichts mehr,<br />
sehr still ist es geworden und die Vögel haben<br />
sich bestimmt schon ein sicheres Plätzchen zum<br />
Übernachten gesucht. Ich schalte das Licht ein, um<br />
die Potkarte nochmal sehr genau zu betrachten.<br />
Zunächst sehe ich mir die Vorderseite mit dem<br />
schönen Foto vom Gardasee an, befühle dann die<br />
Rückseite mit meinen Fingern, registriere jede<br />
einzelne Umrandungszacke der roten 40-Lire-<br />
Briefmarke, auf ihr prangt übrigens wunderschön<br />
der abgebildete Kopf irgendeiner weiblichen<br />
antiken Götterstatue - und ich betrachte meine<br />
Schrift von damals sehr genau. Ja, eigentlich<br />
hatte ich einmal eine sehr schöne und akkurate<br />
Schrift gehabt, fast hätte ich es vergessen, und<br />
mit dem Schreiben muss ich mir bestimmt sehr<br />
viel Zeit genommen haben, trotz des sicherlich<br />
engen Zeitplanes während dieser kurzen Italien-<br />
Reise. - Seltsam, da halte ich eine von mir vor<br />
fast 50 Jahren geschriebene Botschaft an diesem<br />
spätwinterlichen bzw. vorfrühlingshaften Tage<br />
wieder in meiner eigenen Hand, befühle die<br />
Vorderseite der Karte, wische vorsichtig über<br />
die weiße Rückseite und lese die alte vertraute<br />
Heimatadresse, ach ja, damals gab es ja noch die<br />
zweistelligen Postleitzahlen. - Und ich stelle mir<br />
auch die Eltern beim Lesen meiner Karte vor und<br />
überlege, was sie wohl beim Lesen meiner Zeilen<br />
gedacht haben. So richtig hatten wir hinterher,<br />
vermutlich wohl aus Zeitgründen, über meine<br />
Karte nicht mehr gesprochen; aber gefreut haben<br />
sie sich über meine Reise ganz bestimmt, das<br />
weiß ich noch.<br />
So ist also alles wieder ganz nah in diesem<br />
Moment und doch ist alles längst vorbei. Nur die<br />
Postkarte aus dem Paradies habe ich und halte sie<br />
ganz fest in meiner Hand. Weglegen sollte ich sie<br />
noch nicht so schnell, denn ich möchte versuchen<br />
mit ihr noch ein bisschen zu träumen! Denn<br />
Träume habe ich meistens sehr viele und ich bin<br />
mir fast sicher, dass ich mit dieser Ansichtskarte,<br />
angesichts des zögerlichen Frühlings bei<br />
uns, gleich von südlicher Wärme und zartem<br />
Oleanderduft träumen werde. Und irgendwann<br />
im Verlaufe meines Traumes kann ich mir auch<br />
vorstellen einzutauchen,…einzutauchen in ein<br />
wundervoll klares aquamarinfarben schillerndes<br />
Wasser. Und hierbei werde ich, das weiß ich,<br />
ganz besonders glücklich sein und anfangen zu<br />
schweben…, schweben so wie damals in dem<br />
herrlichen Wasser des Gardasees.<br />
Und später, wenn ich wieder aufwache aus<br />
meinen Träumen, bin ich die nächsten Tage ganz<br />
gespannt, wie es unserem schüchternen Herrn<br />
Lenz wohl so geht, wird er dann vielleicht schon<br />
etwas mutiger geworden sein und zumindest<br />
darüber nachdenken, wie er den trägen Winter<br />
aus seinem bequemen Lehnstuhl am Besten<br />
herausgraulen könnte?…Da gab es doch einige<br />
ganz gute Methoden, lieber Herr Lenz, lassen<br />
Sie sich doch bitte schön mal etwas einfallen,…<br />
woanders geht es doch auch!<br />
Marcella Maria Zulla, Weiden/Opf.<br />
Der Fremde<br />
auf dem hölzernenSteg<br />
Leonardo stand am Ende eines weit ins Meer<br />
hinausragenden, hölzernen Stegs und drückte seine<br />
Zigarette aus. Das Gesicht schien angespannt,<br />
der Blick konzentriert auf etwas in der weiten<br />
Leere des Raums zwischen Ozean und Himmel<br />
gerichtet. Leonardo war ein äußerst attraktiver<br />
Mann Mitte zwanzig und wäre da nicht diese<br />
fordernde Starre in seinen Augen, fielen ihm<br />
die Frauen sicherlich noch um ein Vielfaches<br />
mehr zu Füßen, als sie dies ohnehin schon taten.<br />
Doch das war ihm nicht wichtig, denn er suchte<br />
nach etwas anderem. Seine scharf geschnittenen<br />
Gesichtszüge verliehen ihm zusätzliche Strenge.<br />
Leonardo steckte sich eine weitere Zigarette an<br />
und wippte in einem Anflug von Nervosität auf<br />
seinen Fersen vor und zurück. Er wartete bereits<br />
lange. Zu lange.<br />
Señor Guillermo Rodriguez warf einen unruhigen<br />
Blick auf die schmutzige, an der Wand hängende<br />
Uhr, die einst in weiß geglänzt haben muss. Das<br />
Ziffernblatt löste sich bereits zwischen der zehn<br />
und der zwölf ab und der Minutenzeiger, der<br />
IGDA aktuell, <strong>Heft</strong> 1 (<strong>2013</strong>) Seite 14