Heft 1 (2013) - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV
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PROSA<br />
etwas kalifornischen Rotwein. Das weibliche<br />
Geschlecht und einige Männer haben ihren<br />
Durst mit Kokosmilch, Limonade oder einem<br />
undefinierbaren, nach Brühe schmeckenden Tee<br />
zu sich genommen. Kaffee natürlich für alle<br />
außer den Kleinkindern.<br />
Als Vater und Sohn den Flieger bestiegen<br />
haben, sind sie sich wie Auswanderer, Goldsucher,<br />
Eroberer oder der Kaiser von Kalifornien<br />
vorgekommen. Jetzt, wo sie das Ziel erreicht<br />
haben, ohne wirklich angekommen zu sein,<br />
müssen sie desillusioniert erkennen, dass ja<br />
alles schon bis zur Unkenntlichkeit entdeckt<br />
ist. Land und Leute sind entblößt bis auf nackte<br />
Sorgen, Leid und Armut. Dahinein hat also<br />
Mahatma heiraten müssen, ausgerechnet, und<br />
sie hat er hereinziehen müssen in diesen Sumpf.<br />
Jetzt muss nach anfänglichem Schock wie so<br />
oft die symbolische Suche nach dem Meer<br />
herhalten, um die Wahrnehmungsverzerrung<br />
wider wegzuwaschen und den Blick wieder frei<br />
zu bekommen für höhere Pläne. Ein spontaner<br />
Sprung ins kühle Nass reicht dafür wohl für<br />
blauäugige Menschen, wie sie es sind, aus. Für<br />
sie würden wohl Feinde immer Karikaturen<br />
bleiben, vor denen man nie fliehen muss. Sie<br />
haben es also wieder einmal geschafft, nicht am<br />
vermeintlichen Wohlstand anderer, Reichtum<br />
nennen sie es schon lange nicht mehr, aktiv<br />
teilzuhaben. Ihre „material world“ ist zerstoben<br />
zu bloßer Symbolik, meditativer Betrachtung<br />
und einer rückwärtsgewandten Phantasiereise.<br />
Hier können sich Schweine noch nicht einmal<br />
ihren eige-nen Metzger suchen. Keine Eiche ist<br />
in Sicht, die ihre Souveränität dadurch beweist,<br />
dass es sie nicht stört, wenn sich Schweine an ihr<br />
reiben.<br />
Sie befinden sich fast in der Mitte eines<br />
Spinnennetzes. Von da stoßen die Augen von Vater<br />
und Sohn auf nichts als Zuckerrohrplantagen.<br />
Dieses äußere Labyrinth begrenzt zunächst<br />
schicksalhaft ihren inneren Horizont, so dass<br />
sie das Ziel in Form eines fernen Sandstrandes<br />
an einem offen brausenden Meer nur durch<br />
erzwungene Umwege, Schleifen, Irrungen und<br />
Wirrungen hindurch erkennen können. Es bleibt<br />
nur die Erahnung des Ausgangs nach vielen<br />
Wendepunkten. Es hat lange gedauert, bis sich<br />
Vater und Sohn einig geworden sind, endlich aus<br />
dem wogenden Meer zukünftigen Rums frech<br />
zum wahren Meer zu starten und gemeinsam zu<br />
fremden Welten aufzubrechen. Kompass ist mehr<br />
der Wahn als der Plan, geboren in einer Art Hazienda<br />
vergangener Kolonialzeit, heruntergekommen<br />
zu einem losen Zusammenhalt windschiefer<br />
Verschläge. Innerlich antizipieren beide bewusst<br />
die Kreuzungen wie Richtungsentscheidungen,<br />
ignorieren dabei unbeirrt und unverzagt mögliche<br />
Rückschläge. Erfahrungsbedingt tragen dabei<br />
beide wohl ganz verschiedene mentale Modelle<br />
im Kopf mit sich herum. Der eine marschiert wie<br />
auf fremden Befehl voran gegen einen anonymen<br />
Feind, fast sinnentleert. Der andere denkt zurück<br />
an die gnadenlos-naive Begehung des Londoner<br />
Großstadtgebietes mit Freunden, wobei sie sich<br />
buchhalterisch an einem Jugendherbergsführer<br />
orientiert haben. Seltsamer Weise ist in diesen<br />
harten und dunklen Zeiten die Kommunikation<br />
zwischen dem Alten und Jungen mehr als eine nur<br />
lose paradoxe Verbindung ohne Verständigung.<br />
Diese beide stammen nicht nur von einem Baum<br />
ab, sondern können auch nach dem Zerschneiden,<br />
Transport und Verarbeitung zu unterschiedlichen<br />
Holzprodukten noch miteinander ohne Maske<br />
sprechen. Obwohl der Alte für den Jungen nicht<br />
nur eine kopierbare Blaupause ist, variieren beide<br />
Persönlichkeiten doch in ihren individuellen<br />
Eigenschaften wenig.<br />
Um unzählige Ecken müssen die beiden biegen,<br />
doch haben sie alle Zeit dieser Welt. Irgendwann<br />
treffen sie an einem Kreuzungspunkt auf einen<br />
ärmlich gekleideten Mann. Vor ihm tobt ungestüm<br />
und laut schreiend ein Kind her, einen Drachen<br />
über sich ziehend wie einen Speer im Wind. Beide,<br />
vielleicht auch Vater und Sohn, sind barfuß. Ihnen<br />
ist es gleichgültig, durch das Wassergerinsel<br />
am Rande des schlammigen Sandwegs tappen<br />
zu müssen. Dieser Vater kann sich wirklich<br />
nicht um sein Kind kümmern. Die sorgenvoll<br />
zusammengezogenen Brauen, die gerunzelte<br />
umwölkte Stirn und der gebeugte Rücken, sein<br />
inneres Kreuz hoffnungslos schleppend, sprechen<br />
Bände. Die beiden aus der anderen Kultur, mit<br />
einem anderen Kreuz, greifen weit aus mit ihren<br />
Schritten und überholen daher sprachlos die<br />
beiden Einheimischen. Beide enthalten sich tief<br />
greifender Kommentare zur Lebenslage, Small<br />
Talk oder echter zweckfreier Begegnungssuche,<br />
IGDA aktuell, <strong>Heft</strong> 1 (<strong>2013</strong>) Seite 17