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Heft 1 (2013) - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV

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PROSA<br />

auf keinen Fall wissen sollten – ja durften,<br />

wenn er – beziehungsweise seine Frau oder sie<br />

beide – weggingen. Nur weil die sich anders<br />

verhielten als es erwünscht war. Umständliche<br />

Verhaltensweisen. Briefe, die drei Stunden<br />

brauchten. Weil die Korrektur von der Korrektur<br />

von der Korrektur. Beschuldigungen, wenn er<br />

anders arbeitete. Beschimpfungen, wenn er etwas<br />

anders machte, als erwartet oder verlangt. Nicht<br />

das Ergebnis zählte, sondern der Weg. Manchmal<br />

Drohungen. Sogar Schläge. Wenn er wiederholt<br />

von der „Vorschrift“ abgewichen war. Wenn das<br />

und das, dann Tür offen. Wenn das und das, dann<br />

Tür zu. Wehe, es klappte nicht.<br />

Keine Mutter mehr im Genick. Eine Mutter, die<br />

seine Frau war. Die sich über alles aufregte. Die<br />

Nachbarn. Den Hausmeister. Die Hausverwaltung.<br />

Die Mitbewohner. Die Außenanlagen. Die Pflege,<br />

die Reinigung. Den Briefträger. Die Lampen.<br />

Genug jetzt. Er musste Listen führen. Über<br />

Defekte. Aufgetreten, repariert, wer, wann, wo.<br />

Genug jetzt. Endlich frei. Endlich leben. Endlich.<br />

Immer das Misstrauen. Hast du die Heizung<br />

abgedreht. Kontrollgang gemacht. Ist die Türe<br />

verschlossen. Sätze wie: Das ist wieder eine<br />

deiner ungeprüften Behauptungen. Bist du dir<br />

sicher. Stimmt das wirklich. Weißt du das genau.<br />

Dazwischen Beschuldigungen. Beschimpfungen.<br />

Unflätige. Misthund. Dreckstück. Fauler Hund.<br />

Endlich vorbei.<br />

Unabhängig. Frei. Das hatte er mal gezeichnet.<br />

Eine Hand, die mit einem Hammer die<br />

umgebenden Wände einschlägt. Frei sein ist<br />

mühsam. Aber er hatte es geschafft. Hier war er<br />

frei. Weg von aller Last. Am Ende der Welt. Aber<br />

frei. Endgültig. Irgendwann wird er sein Leben<br />

wieder aufnehmen. In der Mitte der Zivilisation.<br />

Irgendwann.<br />

Das Meer kochte. Die Wetterfrösche hatten Sturm<br />

gemeldet. Stärke zehn bis zwölf. Jetzt war er da.<br />

Der Sturm. Stärke zwölf. Und Flut. Das Meer<br />

kochte. Er liebte extreme Wetterlagen. Immer<br />

dann ging er hinaus. Mit der Kamera. Fotografiert<br />

hatte er schon lange nicht mehr. Heute gab es<br />

nichts zu fotografieren. Alles nur grau. Das Meer,<br />

der Himmel, das Land. Die Farben mit dem<br />

Sturm verweht. Die Wolken. So, wie er. Heute.<br />

Mann, hatte er einen Kater. Gestern Abend. Erst<br />

gegessen und dann – Er hatte sich den Frust von<br />

der Seele geredet. Hatte ein Bier nach dem anderen<br />

getrunken. Und Korn dazwischen. Zwölf hatte er<br />

gezählt. Dann war alles vorbei. Wie er auf sein<br />

Zimmer gekommen, wie er ins Bett gekommen –<br />

nein, er konnte sich nicht erinnern. Wer hatte ihn<br />

ausgezogen, den Pyjama angezogen, ihn ins Bett<br />

gelegt – Peinlich. Er wusste es nicht. Heute beim<br />

Frühstück hatte niemand ein Wort verloren. Herb<br />

und freundlich wie immer. Und das Frühstück.<br />

Wie immer hervorragend. Mit allem Drum und<br />

Dran. Kein Wort über gestern Abend.<br />

Nach dem Frühstück hinaus. Der Sturm peitschte<br />

das Meer von Nordwest. Über den Strand, über<br />

das Land. Fast bis zu den drei Häusern. Der<br />

Regen fiel waagrecht. Er pickte auf die Haut. Das<br />

war sein Wetter. Extrem. Das war das Richtige.<br />

Passte zu ihm. Passte zu seiner Stimmung.<br />

Theodor Storm. Er musste so gewesen sein wie<br />

er. Musste das Meer geliebt haben. Erlebt haben.<br />

So wie heute. Seestück. Caspar David Friedrich.<br />

Das zerschellte Schiff am Felsen. Heute könnte<br />

es auch sein. Heute sind die Schiffe nicht<br />

wetterabhängig. Keine Segel am Horizont. Kein<br />

Ausguck im Mastkorb. Radar. Für alles Radar.<br />

Die Düne hinauf. Das Reedgras war vom Sturm<br />

flach gebürstet. Fallenlassen. Wie in der Jever-<br />

Werbung. Rücklings in den Sand. Er hatte sich<br />

den Südwester geliehen. Bis jetzt war er trocken<br />

geblieben. Der Hut rollte ins Gras, blieb hängen.<br />

„Komm her, ich brauch dich noch.“<br />

Das Gespann kam näher. Zwei Pferde zogen einen<br />

Leiterwagen. Der Wagen schaukelte gefährlich<br />

hin und her. Er knirschte und quietschte in allen<br />

Verbindungen. Die Pferde liefen ungleichmäßig<br />

und zogen das Gefährt ruckartig den Feldweg<br />

voran. Der Bauer auf dem Bock fluchte, wenn ein<br />

Rad mal wieder in ein Loch gefahren war und ihn<br />

fast herunter warf.<br />

Es war inzwischen Frühling und das Gras der<br />

endlosen Weiten duftete so satt grüngelb wie<br />

noch nie - .<br />

Das Gespann war am Gasthaus angekommen.<br />

Fiete, der alte Bauer aus dem Nachbardorf stieg<br />

umständlich vom Bock. Von der Ladefläche stand<br />

eine Frau auf und stieg über die Leiter auf das<br />

Vorderrad. Fiete half ihr herunter. Er ging voraus.<br />

Der Schaft seiner Gummistiefel schlappte an der<br />

IGDA aktuell, <strong>Heft</strong> 1 (<strong>2013</strong>) Seite 25

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