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Heft 1 (2013) - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV

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PROSA<br />

verheiratet. Rodriguez fragte sich, ob er womöglich<br />

bereits Großvater geworden war. Doch plötzlich<br />

überfiel ihn ein beklemmendes Gefühl: War<br />

dieser junge Mann überhaupt der, für den er ihn<br />

hielt? Er atmete einmal tief ein, dann tat er den<br />

ersten Schritt.<br />

Jetzt kam er direkt auf ihn zu. Vor Schreck<br />

klammerte er sich mit einer Hand an dem<br />

hölzernen Gelände des Stegs fest und trieb sich<br />

einen Spieß unter den Fingernagel, doch er<br />

bemerkte es kaum. Der Gedanke, sich schnell die<br />

Schuhe von den Füßen zu treten und ins Meer<br />

zu springen, zog einmal vor seinem inneren Auge<br />

vorüber. Entsetzt bemerkte Leonardo, wie er im<br />

Begriff war, die Kontrolle über seine Gefühle zu<br />

verlieren. ‚Reiß dich zusammen‘, sagte er sich.<br />

Der rundliche kleine Mann kam etwa vier Meter<br />

vor ihm zum Stillstand und blickte ihn eine ganze<br />

Weile unverwandt an, ohne etwas zu sagen,<br />

ohne auch nur zu blinzeln. Leonardo fühlte<br />

sich bedrängt, fast so, als würde der Mann ihm<br />

gegenüber versuchen, ihm etwas wegzunehmen.<br />

Unruhig huschten seine Augen über die Skyline<br />

der Stadt und er wünschte tief in seinem Herzen,<br />

er könnte irgendein ehrliches Gefühl zulassen -<br />

doch es gelang ihm nicht. Er kannte den Mann,<br />

der da vor ihm stand, gar nicht.<br />

Rodriguez brauchte nicht mehr zu fragen, ob<br />

der junge Mann ihm gegenüber der war, auf den<br />

er gewartet hatte. Die kleine Narbe an seiner<br />

Augenbraue, die er sich beim Spielen als kleines<br />

Kind zugezogen hatte, bestätigte seine Identität.<br />

Er wünschte, er könnte etwas sagen, doch er war<br />

zu überwältigt, die richtigen Worte zu finden.<br />

Zu überwältigt, ohne zu wissen, ob aufgrund des<br />

lang ersehnten Wiedersehens oder weil er wider<br />

Erwarten einem Fremden begegnet war.<br />

Michael Hesseler, Bremen<br />

Im Spinnennetz<br />

Illusionen haben sie nach Jamaika getrieben. Die<br />

hartherzige und herzlose Mutter hat ihrem Sohn<br />

Jürgen endlich eine Frau zugesprochen. Cousin<br />

Bert nennt ihn wegen seines ausgemergelten<br />

Aussehens oft nur ‚Mahatma Gandhi’; denn<br />

eine Rachitis hat Jürgen abmagern lassen,<br />

das jahrelange Schlafen auf nacktem Dachboden<br />

in kalt durch gehangenem Bett hat zu einem<br />

Rundrücken geführt. Seit seiner ersten Ehe, die<br />

an der Liaison von Mahatmas Frau mit einem<br />

heißblütigen Italiener zerbrochen ist, steht Jürgen<br />

wieder auf Freiersfüßen. Es muss daher wohl<br />

eine Frau aus der Karibik sein, um den tristen<br />

Alltag mit seiner alten Mutter nach 20 Jahren<br />

endlich bunt schillernd durchbrechen zu können.<br />

Ohne konkrete Anhaltspunkte dafür haben<br />

sich Vater Hugo und Sohn Bert die kommende<br />

Entwicklung mit der ihnen beiden eigenen<br />

blühenden Phantasie schon voraus gesponnen<br />

und herzlich über eine mögliche Hochzeit in<br />

exotischer Ferne gelacht. Wirklichkeitsnah haben<br />

sie sich als Ehrengäste und Berichterstatter in<br />

eine großartige Phantasiereise hineinfabuliert.<br />

Als dann die Einladung zur Hochzeit wie in<br />

einer „self-fulfilling-prophecy“ wirklich kommt,<br />

schlägt eine Bombe in ihren Alltag ein. Dort, wo<br />

ohnehin außer Zank, Geldnot und Schuldenlast<br />

nicht viel los ist und ihre wenigen Freunde schon<br />

offen zu verlässlichen Feinden mutiert sind, setzt<br />

der Brief Chancen wie Lawinen frei. Sie sind<br />

also hier, fast so frei wie in der aristokratischen<br />

TSommerfrische des 19. Jahrhunderts, frei<br />

wie in den bürgerlichen Erholungsurlauben<br />

der Zwischenkriegszeit. Oder ist es nicht eher<br />

ein Noturlaub, als ob feindliche Innenseiter<br />

jüdische Städter von der echten Sommerfrische<br />

ausgeschlossen und zu Außenseitern gestempelt<br />

hätten?<br />

Sie sind also angekommen, haben sich den Bauch<br />

gefüllt mit Suppen, mariniertem Fleisch aus<br />

Huhn und Schwein, gegrillt über Pimentzweigen,<br />

würzigem Ziegenfleisch aus den typischen<br />

Töpfen, Patties mit Gemüse, viel John Cake,<br />

Mangos und Papayas, sowie anstatt Rum wie<br />

manche Einheimischen Red Stripe Bier und sogar<br />

IGDA aktuell, <strong>Heft</strong> 1 (<strong>2013</strong>) Seite 16

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