Ausgabe lesen - Rheinkiesel
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Natur<br />
Ein Vogel<br />
im Sturzflug<br />
Der Jahresvogel 2013 steht nicht nur im Fokus einer<br />
Öffentlichkeits-Kampagne, sondern ist zudem aktuell ein<br />
trauriger Rekordhalter. Wer trotzdem noch nie von der<br />
Bekassine gehört hat, befindet sich in bester Gesellschaft.<br />
Zugegeben: Wer nicht gerade Bio -<br />
logie studiert hat oder begeisterter<br />
Hobby-Ornithologe ist, kann<br />
nicht alle 300 Vogelarten in<br />
Deutsch land kennen. Bei Um -<br />
fragen konnten nur 20 Prozent der<br />
Deutschen sagen (oder vermuten),<br />
daß es sich bei der Bekassine um<br />
einen Vogel handelt. Sein bevorzugter<br />
Lebensraum sind große<br />
Feuchtgebiete und Moore. Diese<br />
sind nicht nur in unserer Region<br />
rar. In der ganzen Republik haben<br />
diese Gebiete stark abgenommen<br />
und einige der ohnehin seltenen<br />
Moore werden immer noch trokkengelegt<br />
und der Torf abgebaut.<br />
Die Bekassine ist in Deutschland<br />
inzwischen so selten, daß man sich<br />
– sarkastisch formuliert – fragen<br />
kann, ob es sich überhaupt noch<br />
lohnt, sich den Namen zu merken<br />
und etwas über den Vogel zu er -<br />
fahren.<br />
Die Bekassine zählt zur Gruppe<br />
der langbeinigen Watvögel und<br />
ge hört zur Familie der Schnepfen.<br />
Mit ihrem fast karrikaturartigem<br />
Aussehen, ihrer ungewöhnlichen<br />
Art der Lauterzeugung und der<br />
höchst merkwürdigen Balz ist sie<br />
ein einzigartiges Naturerbe in<br />
Deutschland. Ob unsere Kinder<br />
diesen einheimischen Vogel noch<br />
mit der immer einhergehenden<br />
Verwunderung hören oder beobachten<br />
können ist offen: So wie<br />
die Dinge stehen, ist sie vom Aus -<br />
sterben bedroht.<br />
In früheren Zeiten war die Be kas -<br />
sine nicht nur häufiger, sondern<br />
auch bekannter. Davon zeugen<br />
etliche deutsche Namensbezei ch -<br />
nungen wie Himmelsziege, Mec -<br />
ker vogel, Sumpfschnepfe, Kleine<br />
(Wald-) Schnepfe, Him mels geiß,<br />
Haberziege oder Haberlämmchen.<br />
Selbstverständlich spielte sie auch<br />
im Aberglauben eine Rolle. Nach<br />
einer Überlieferung aus dem 19.<br />
Jahrhundert sollte ihr Flug Ge -<br />
witter verkünden. Deshalb trug sie<br />
auch die Beinamen Donnerziege<br />
oder Donnerstagspferd. Sie war so -<br />
mit ein Bote des westgermanischen<br />
Gottes Donar, des Donne rers,<br />
der bei den nordischen Stämmen<br />
als Thor bekannt ist.<br />
Der gegenwärtig geläufige deutsche<br />
Name Bekassine ist übrigens<br />
dem Französischen entlehnt. Dort<br />
ist Bécasse die (größere) verwandte<br />
Art Waldschnepfe, die auch bei<br />
Vom Aussterben bedroht: die Bekassine<br />
uns vorkommt. In der Ver kleinerungsform<br />
wird daraus die „kleine<br />
Waldschnepfe“ – Bekassine.<br />
Dieser Name geht wohl auf das<br />
fran zösische „bec“ zurück: Schna -<br />
bel. Auch „Schnepfe“ leitet sich<br />
ver mutlich aus dem germanischen<br />
Wort für Schnabel ab, womit wir<br />
beim Aussehen des Vogels wären.<br />
Die etwa amselgroße Bekassine ist<br />
mit ihrem gestreiften Kopf und<br />
dem gefleckten Körper in dunkelbraunen,<br />
hellbraunen, beige- und<br />
cremefarbenen Tönen hervorragend<br />
getarnt. Wenn sie am Boden<br />
hockt und sich duckt, ist sie fast<br />
nie zu entdecken. Vor Feinden<br />
fliegt sie erst im allerletzten Mo -<br />
ment hoch, sorgt durch dieses<br />
Überraschungsmanöver für einen<br />
Schrecken und nutzt diesen Mo -<br />
ment zur Flucht. Es folgt entweder<br />
ein Senkrechtflug in den Himmel<br />
oder ein hektischer Zickzackflug<br />
parallel zur Oberfläche. Eine<br />
schne lle Landung in sicherer Ent -<br />
fernung gewährleistet sogleich<br />
wieder die Tarnung.<br />
Höchst markant und (sofern der<br />
Vogel in Bewegung ist) nicht zu<br />
verbergen ist der ungewöhnlich<br />
lange Schnabel: Auf den ersten<br />
Blick scheint es, als bestünde die<br />
Hälfte der Schnepfe aus Schnabel.<br />
Dabei macht er, gemessen am ge -<br />
streckten Körper, mit seinen stolzen<br />
sieben Zentimetern Länge nur<br />
ein Drittel des Vogels aus. Dank<br />
des Schnabels wirkt der Vogel<br />
auch größer als eine Amsel, hat<br />
dabei aber kürzere Flügel als diese.<br />
Vielfältiges Werkzeug<br />
Für den Vogel ist der famose<br />
Schna bel ein perfektes Werkzeug.<br />
Auch wenn sein Aussehen und<br />
sein Gebrauch bei der Nah rungs -<br />
suche im weichen Untergrund da -<br />
ran erinnert: Er ist nicht bloß ein<br />
Stock, der zum Stochern dient. Er<br />
ist Bohrer, Sonde, Klemmspange,<br />
Pinzette, Förderrohr und Spreiz -<br />
dübel in einem. Die Zahl der<br />
Funk tionen kann es locker mit<br />
einem Schweizer Taschenmesser<br />
aufnehmen. Mit diesem „Multi-<br />
Tool“ erbeutet die Sumpfschnepfe<br />
vorwiegend tierische Nahrung wie<br />
Insekten, Würmer und diverse<br />
weitere Kleintiere. Die obere<br />
Schna belhälfte ist sogar beweglich<br />
und kann zum Beispiel, wenn der<br />
Schnabel im Bohrloch steckt,<br />
nach oben gebogen werden. Mit<br />
Schnabel- und Zungenakrobatik<br />
ver mag die kleine Schnepfe<br />
Nahrung nach oben zu befördern<br />
und zu schlucken, ohne den<br />
Schnabel aus einem besonders er -<br />
giebigen Bohrloch jedes Mal hinauszuziehen.<br />
Außerdem kann sie<br />
so das Bohrloch unterirdisch er wei -<br />
tern, etwa unter einer harten, an -<br />
getrockneten Schlammkruste. Die<br />
Sonderfunktion „Klemmspange“<br />
kommt bei einer anderen Ge le -<br />
gen heit zum Tragen: Wenn Gefahr<br />
droht und die Jungen evakuiert<br />
werden müssen, kann der Vogel<br />
die Jungen mit dem Schnabel an<br />
die Brust klemmen und davonfliegen.<br />
Ein vergleichbares Verhalten<br />
zeigen nur ganz wenige Arten<br />
weltweit.<br />
Die größte Besonderheit der Be -<br />
kas sine aber – und diese übertrifft<br />
den imposanten Schnabel – sind<br />
ihre Lautäußerungen zur Balzzeit.<br />
10 September 2013