Ausgabe lesen - Rheinkiesel
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Kultur<br />
Märchenhafte<br />
Stippvisite<br />
Es war einmal ein berühmter Märchensammler und Ge lehr -<br />
ter, der kam mit seinem Weib und seinem Töchterlein ins<br />
Land hinter den sieben Bergen.<br />
Von niemand anderem als von<br />
Wilhelm Grimm ist hier die Rede,<br />
der einen Hälfte der „Gebrüder<br />
Grimm“. Vor genau 160 Jahren<br />
ver brachte er mit seiner Familie<br />
mehr als zwei Monate am Sieben -<br />
gebirge. Eigentlich sollte es eine<br />
Sommerfrische werden, doch Wil -<br />
helm Grimms Ehefrau Doro thea<br />
war krank geworden. Und so verzögerte<br />
sich ihre Ankunft um<br />
mehrere Wochen. Was in Zeiten<br />
ohne Handy, Internet und Telefon<br />
für große Aufregung auf Seiten<br />
desjenigen sorgte, der die Familie<br />
hier hin gelockt hatte. „Die Sache<br />
fängt an uns zu beunruhigen“,<br />
schreibt Karl Simrock am 18. Juni<br />
1853. Dabei hatte er, der seit den<br />
1830er-Jahren mit den Brüdern<br />
Grimm in freundschaftlichem<br />
Kontakt stand, so sehr für das<br />
„idyllische (Rhein-) Breitbach mit<br />
seinen Bergwerken [!] und Reben ge -<br />
länden“ geworben: „Es ist sehr viel<br />
heimlicher und traulicher da, … es<br />
ist keine Toilette nöthig …“ Für den<br />
großen Gelehrten, der aus der<br />
Metropole Berlin an reiste, war das<br />
Argument genug. Wenn Simrock<br />
schwärmte, „welch ein Mittelpunkt<br />
ist Breitbach!“ so hatte er jedoch<br />
wohl weniger die Kulturszene des<br />
Ortes im Sinn als vielmehr die<br />
Vorzüge seiner Infra struktur: „Wie<br />
nahe bei Rolandseck, bei Honnef,<br />
bei Unkel!“ Und wie nahe am<br />
Menzenberg, wo die Sim rocks<br />
wohnten!<br />
Beschaulicher<br />
Rhythmus<br />
Am 15. August 1853 kam die be -<br />
rühmte Familie schließlich in<br />
Rhein breitbach an und quartierte<br />
sich für die folgenden Wochen im<br />
Clouthschen Gasthof ein, der<br />
noch heute – wenn auch sehr verändert<br />
– steht.<br />
Wie aber gestaltete man seinen<br />
„Ur laub“ in Rheinbreitbach vor<br />
160 Jahren? Ohne Auto, ohne Ten -<br />
nis halle, ohne Einkaufszen trum?<br />
Ganz einfach: Man frühstückte mit<br />
den Simrocks. Man trank Kaffee<br />
mit den Simrocks. Man aß mit<br />
den Simrocks zu Abend. Man ging<br />
spazieren, durch die Weinberge,<br />
nach Honnef, an den Rhein. Dort<br />
setzte man über nach Remagen,<br />
um sich die – damals – neue Apo -<br />
llinariskirche anzusehen oder nach<br />
Rolandseck, wo das Dampfschiff<br />
Das Grimm-Denkmal in Hanau<br />
anlegte, das die Herrschaften nach<br />
Bonn brachte. In Bonn traf man<br />
sich mit den Ge lehrten der Uni -<br />
versität, mit dem Kollegen Dahl -<br />
mann, mit dem Kunst sammler<br />
Boisserée, Ernst Moritz Arndt,<br />
dem preußischen Minister Savigny,<br />
mit Achim und Bettine von Arnim,<br />
deren Tochter Gisela sechs Jahre<br />
später Wilhelms Sohn Herman<br />
heiraten sollte. Kurzum: Man ließ<br />
die Seele baumeln und netzwerkte<br />
nebenbei.<br />
Tagebuch im<br />
Protokoll-Stil<br />
Wilhelm Grimm hat über seine<br />
„Rheinreise“ Tagebuch geführt<br />
und darin penibel aufgelistet, wen<br />
er wo traf und wann er wohin<br />
ging. So poetisch Wilhelm Grimm<br />
die Kinder- und Hausmärchen<br />
aus schmückte, so nüchtern sind<br />
seine Tagebuch-Beschreibungen:<br />
„unwohl, regenhaftes wetter, vormittags<br />
Simrock“. Hier erzählt kein<br />
Märchenonkel, hier spricht der<br />
Wissenschaftler. Seine 21-jährige<br />
Tochter Auguste hatte beim Spa -<br />
zier gang eine Weintraube abgebrochen,<br />
„ward von dem Flur -<br />
schütz mit der ganzen Gesellschaft<br />
… arretiert und nach Unkel vor das<br />
Gericht geführt, verhört und zu<br />
4 September 2013