Verpflichtung nicht überhebt, nach den versteckten Motiven derselben zu suchen. Unter der Herrschaft eines animistischen Systems ist es nicht anders möglich, als daß jede Vorschrift <strong>und</strong> jede Tätigkeit eine systematische Begründung erhalte, welche wir heute eine »abergläubische« heißen. »Aberglaube« ist wie »Angst«, wie »Traum«, wie »Dämon« eine der psychologischen Vorläufigkeiten, die vor der psychoanalytischen Forschung zergangen sind. Kommt man hinter diese, die Erkenntnis wie Wandschirme abwehrenden Konstruktionen, so ahnt man, daß dem Seelenleben <strong>und</strong> der Kulturhöhe der Wilden ein Stück verdienter Würdigung bisher vorenthalten wurde. Betrachtet man die Triebverdrängung als ein Maß des erreichten Kulturniveaus, so muß man zugestehen, daß auch unter dem ammistischen System Fortschritte <strong>und</strong> Entwicklungen vorgefallen sind, die man mit Unrecht ihrer abergläubischen Motivierung wegen gering schätzt. Wenn wir hören, daß Krieger eines wilden Volksstammes sich die größte Keuschheit <strong>und</strong> Reinlichkeit auferlegen, sobald sie sich auf den Kriegspfad begeben, 117 so wird uns die Erklärung nahegelegt, daß sie ihren Unrat beseitigen, damit sich der Feind dieses Teiles ihrer Person nicht bemächtige, um ihnen auf magische Weise zu schaden, <strong>und</strong> für ihre Enthaltsamkeit sollen wir analoge abergläubische Motivierungen vermuten. Nichtsdestoweniger bleibt die Tatsache des Triebverzichts bestehen, <strong>und</strong> wir verstehen den Fall wohl besser, wenn wir annehmen, daß der wilde Krieger sich solche Beschränkungen zur Ausgleichung auferlegt, weil er im Begriffe steht, sich die sonst untersagte Befriedigung grausamer <strong>und</strong> feindseliger Regungen im vollen Ausmaße zu gestatten. Dasselbe gilt für die zahlreichen Fälle von sexueller Beschränkung, solange man mit schwierigen oder verantwortlichen Arbeiten beschäftigt ist. 118 Mag sich die Begründung dieser Verbote immerhin auf einen magischen Zusammenhang berufen, die f<strong>und</strong>amentale Vorstellung, durch Verzicht auf Triebbefriedigung größere Kraft zu gewinnen, bleibt doch unverkennbar, <strong>und</strong> die hygienische Wurzel des Verbotes ist neben der magischen Rationalisierung derselben nicht zu vernachlässigen. Wenn die Männer eines wilden Volksstammes zur Jagd, zum Fischfang, zum Krieg, zum Einsammeln kostbarer Pflanzenstoffe ausgezogen sind, so bleiben ihre Frauen unterdes im Hause zahlreichen drückenden Beschränkungen unterworfen, denen von den Wilden selbst eine in die Ferne reichende, sympathetische Wirkung auf das Gelingen der Expedition zugeschrieben wird. Doch gehört wenig Scharfsinn dazu, um zu erraten, daß jenes in die Ferne wirkende Moment kein anderes als das Heimwärtsdenken, die Sehnsucht der Abwesenden, ist, <strong>und</strong> daß hinter diesen Einkleidungen die gute psychologische Einsicht steckt, die Männer werden ihr Bestes nur dann tun, wenn sie über den Verbleib der unbeaufsichtigten Frauen vollauf beruhigt sind. Andere Male wird es direkt, ohne magische Motivierung, ausgesprochen, daß die eheliche Untreue der Frau die Bemühungen des in verantwortlicher Tätigkeit abwesenden Mannes zum Scheitern bringt. Die unzähligen <strong>Tabu</strong>vorschriften, denen die Frauen der Wilden während ihrer Menstruation unterliegen, werden durch die abergläubische Scheu vor dem Blute motiviert <strong>und</strong> haben in ihr wohl auch eine reale Begründung. Aber es wäre unrecht, die Möglichkeit zu übersehen, daß diese Blutscheu hier auch ästhetischen <strong>und</strong> hygienischen Absichten dient, die sich in allen Fällen mit magischen Motivierungen drapieren müßten. Wir täuschen uns wohl nicht darüber, daß wir uns durch solche Erklärungsversuche dem Vorwurfe aussetzen, daß wir den heutigen Wilden eine Feinheit der seelischen Tätigkeiten zumuten, die weit über die Wahrscheinlichkeit hinausgeht. Allein ich meine, es könnte uns mit der Psychologie dieser Völker, die auf der ammistischen Stufe stehen geblieben sind, leicht so ergehen wie mit dem Seelenleben des Kindes, das wir Erwachsene nicht mehr verstehen, <strong>und</strong> dessen Reichhaltigkeit <strong>und</strong> Feinfühligkeit wir darum so sehr unterschätzt haben. Ich will noch einer Gruppe von bisher unerklärten <strong>Tabu</strong>vorschriften gedenken, weil sie eine dem Psychoanalytiker vertraute Aufklärung zuläßt. Bei vielen wilden Völkern ist es unter verschiedenen Verhältnissen verboten, scharfe Waffen <strong>und</strong> schneidende In- 58
strumente im Hause zu halten. 119 Frazer zitiert einen deutschen Aberglauben, daß man ein Messer nicht mit der Schneide nach oben liegen lassen dürfe. Gott <strong>und</strong> die Engel könnten sich daran verletzen. Soll man in diesem <strong>Tabu</strong> nicht die Ahnung gewisser »Symptomhandlungen« erkennen, zu denen die scharfe Waffe durch unbewußte böse Regungen gebraucht werden könnte? 59
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Sigmund Freud Totem und Tabu Einige
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1 Die Inzestscheu Den Menschen der
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