Totem und Tabu
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en. Die Männer heiraten Frauen aus fremden Clans, die Kinder erben den Clan der<br />
Mutter; es besteht keine Stammesverwandtschaft zwischen dem Manne <strong>und</strong> den übrigen<br />
Familienmitgliedern. In einer solchen Famlie gibt es keine gemeinsame Mahlzeit. Die<br />
Wilden essen noch heute abseits <strong>und</strong> allein, <strong>und</strong> die religiösen Speiseverbote des <strong>Totem</strong>ismus<br />
machen ihnen oft die Eßgemeinschaft mit ihren Frauen <strong>und</strong> Kindern unmöglich.<br />
Wenden wir uns nun zum Opfertier. Es gab, wie wir gehört, keine Stammeszusammenkunft<br />
ohne Tieropfer, aber – was nun bedeutsam ist – auch kein Schlachten eines Tieres<br />
außer für solche feierliche Gelegenheit. Man nährte sich ohne Bedenken von Früchten,<br />
Wild <strong>und</strong> von der Milch der Haustiere, aber religiöse Skrupel machten es dem einzelnen<br />
unmöglich, ein Haustier für seinen eigenen Gebrauch zu töten. Es leidet nicht den leisesten<br />
Zweifel, sagt Robertson Smith, daß jedes Opfer ursprünglich Clanopfer war, <strong>und</strong><br />
daß das Töten eines Schlachtopfers ursprünglich zu jenen Handlungen gehörte, die dem<br />
einzelnen verboten sind <strong>und</strong> nur dann gerechtfertigt werden, wenn der ganze Stamm die<br />
Verantwortlichkeit mit übernimmt. Es gibt bei den Primitiven nur eine Klasse von<br />
Handlungen, für welche diese Charakteristik zutrifft, nämlich Handlungen, welche an<br />
die Heiligkeit des dem Stamme gemeinsamen Blutes rühren.<br />
Ein Leben, welches kein einzelner wegnehmen darf, <strong>und</strong> das nur durch die Zustimmung,<br />
unter der Teilnahme, aller Clangenossen geopfert werden kann, steht auf derselben<br />
Stufe wie das Leben der Stammesgenossen selbst. Die Regel, daß jeder Gast der<br />
Opfermahlzeit vom Fleisch des Opfertieres genießen müsse, hat denselben Sinn wie die<br />
Vorschrift, daß die Exekution an einem schuldigen Stammesgenossen von dem ganzen<br />
Stamm zu vollziehen sei. Mit anderen Worten: Das Opfertier wurde behandelt wie ein<br />
Stammverwandter, die opfernde Gemeinde, ihr Gott <strong>und</strong> das Opfertier waren eines<br />
Blutes, Mitglieder eines Clan.<br />
Robertson Smith identifiziert auf Gr<strong>und</strong> einer reichen Evidenz das Opfertier mit dem<br />
alten <strong>Totem</strong>tier. Es gab im späteren Altertum zwei Arten von Opfern, solche von Haustieren,<br />
die auch für gewöhnlich gegessen wurden, <strong>und</strong> ungewöhnliche Opfer von Tieren,<br />
die als unrein verboten waren. Die nähere Erforschung zeigt dann, daß diese unreinen<br />
Tiere heilige Tiere waren, daß sie den Göttern als Opfer dargebracht wurden, denen sie<br />
heilig waren, daß diese Tiere ursprünglich identisch waren mit den Göttern selbst, <strong>und</strong><br />
daß die Gläubigen in irgend einer Weise beim Opfer ihre Blutsverwandtschaft mit dem<br />
Tiere <strong>und</strong> dem Gotte betonten. Für noch frühere Zeiten entfällt aber dieser Unterschied<br />
zwischen gewöhnlichen <strong>und</strong> »mystischen« Opfern. Alle Tiere sind ursprünglich heilig,<br />
ihr Fleisch ist verboten <strong>und</strong> darf nur bei feierlichen Gelegenheiten unter Teilnahme des<br />
ganzen Stammes genossen werden. Das Schlachten des Tieres kommt dem Vergießen<br />
von Stammesblut gleich <strong>und</strong> muß unter den nämlichen Vorsichten <strong>und</strong> Sicherungen gegen<br />
Vorwurf geschehen.<br />
Die Zähmung von Haustieren <strong>und</strong> das Emporkommen der Viehzucht scheint überall<br />
dem reinen <strong>und</strong> strengen <strong>Totem</strong>ismus der Urzeit ein Ende bereitet zu haben. 186 Aber<br />
was in der nun »pastoralen« Religion den Haustieren an Heiligkeit verblieb, ist deutlich<br />
genug, um den ursprünglichen <strong>Totem</strong>charakter derselben erkennen zu lassen. Noch in<br />
späten klassischen Zeiten schrieb der Ritus an verschiedenen Orten dem Opferer vor,<br />
nach vollzogenem Opfer die Flucht zu ergreifen, wie um sich einer Ahndung zu entziehen.<br />
In Griechenland muß die Idee, daß die Tötung eines Ochsen eigentlich ein Verbrechen<br />
sei, einst allgemein geherrscht haben. An dem athenischen Fest der Bouphonien<br />
wurde nach dem Opfer ein förmlicher Prozeß eingeleitet, bei dem alle Beteiligten zum<br />
Verhör kamen. Endlich einigte man sich, die Schuld an der Mordtat auf das Messer abzuwälzen,<br />
welches dann ins Meer geworfen wurde.<br />
Trotz der Scheu, welche das Leben des heiligen Tieres als eines Stammesgenossen<br />
schützt, wird es zur Notwendigkeit, ein solches Tier von Zeit zu Zeit in feierlicher Ge-<br />
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