Totem und Tabu
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meinschaft zu töten <strong>und</strong> Fleisch <strong>und</strong> Blut desselben unter die Clangenossen zu verteilen.<br />
Das Motiv, welches diese Tat gebietet, gibt den tiefsten Sinn des Opferwesens preis.<br />
Wir haben gehört, daß in späteren Zeiten jedes gemeinsame Essen, die Teilnahme an<br />
der nämlichen Substanz, welche in ihre Körper eindringt, ein heiliges Band zwischen<br />
den Commensalen herstellt; in ältesten Zeiten scheint diese Bedeutung nur der Teilnahme<br />
an der Substanz eines heiligen Opfers zuzukommen. Das heilige Mysterium des<br />
Opfertodes rechtfertigt sich, indem nur auf diesem Wege das heilige Band hergestellt<br />
werden kann, welches die Teilnehmer untereinander <strong>und</strong> mit ihrem Gotte einigt. 187<br />
Dieses Band ist nichts anderes als das Leben des Opfertieres, welches in seinem Fleisch<br />
<strong>und</strong> in seinem Blute wohnt <strong>und</strong> durch die Opfermahlzeit allen Teilnehmern mitgeteilt<br />
wird. Eine solche Vorstellung liegt allen Blutbündnissen zugr<strong>und</strong>e, durch die sich noch<br />
in späten Zeiten Menschen gegeneinander verpflichten. Die durchaus realistische Auffassung<br />
der Blutsgemeinschaft als Identität der Substanz läßt die Notwendigkeit verstehen,<br />
sie von Zeit zu Zeit durch den physischen Prozeß der Opfermahlzeit zu erneuern.<br />
Brechen wir hier die Mitteilung der Gedankengänge von Robertson Smith ab, um ihren<br />
Kern in gedrängtester Kürze zu resumieren: Als die Idee des Privateigentums aufkam,<br />
wurde das Opfer als eine Gabe an die Gottheit, als eine Übertragung aus dem Eigentum<br />
des Menschen in das des Gottes aufgefaßt. Allein diese Deutung ließ alle Eigentümlichkeiten<br />
des Opferrituals unaufgeklärt. In ältesten Zeiten war das Opfertier selbst heilig,<br />
sein Leben unverletzlich gewesen; es konnte nur unter der Teilnahme <strong>und</strong> Mitschuld des<br />
ganzen Stammes <strong>und</strong> in Gegenwart des Gottes genommen werden, um die heilige Substanz<br />
zu liefern, durch deren Genuß die Clangenossen sich ihrer stofflichen Identität<br />
untereinander <strong>und</strong> mit der Gottheit versicherten. Das Opfer war ein Sakrament, das Opfertier<br />
selbst ein Stammesgenosse. Es war in Wirklichkeit das alte <strong>Totem</strong>tier, der primitive<br />
Gott selbst, durch dessen Tötung <strong>und</strong> Verzehrung die Clangenossen ihre Gottähnlichkeit<br />
auffrischten <strong>und</strong> versicherten.<br />
Aus dieser Analyse des Opferwesens zog Robertson Smith den Schluß, daß die periodische<br />
Tötung <strong>und</strong> Aufzehrung des <strong>Totem</strong> in Zeiten vor der Verehrung anthropomorpher<br />
Gottheiten ein bedeutsames Stück der <strong>Totem</strong>religion gewesen sei. Das Zeremoniell einer<br />
solchen <strong>Totem</strong>mahlzeit, meinte er, sei uns in der Beschreibung eines Opfers aus<br />
späteren Zeiten erhalten. Der hl. Nilus berichtet von einer Opfersitte der Beduinen in<br />
der sinaitischen Wüste um das Ende des vierten Jahrh<strong>und</strong>erts nach Christi Geburt. Das<br />
Opfer, ein Kamel, wurde geb<strong>und</strong>en auf einen rohen Altar von Steinen gelegt; der Anführer<br />
des Stammes ließ die Teilnehmer dreimal unter Gesängen um den Altar herumgehen,<br />
brachte dem Tiere die erste W<strong>und</strong>e bei <strong>und</strong> trank gierig das hervorquellende<br />
Blut; dann stürzte sich die ganze Gemeinde auf das Opfer, hieb mit den Schwertern<br />
Stücke des zuckenden Fleisches los <strong>und</strong> verzehrte sie roh in solcher Hast, daß in der<br />
kurzen Zwischenzeit zwischen dem Aufgang des Morgensterns, dem dieses Opfer galt,<br />
<strong>und</strong> dem Erblassen des Gestirns vor den Sonnenstrahlen alles vom Opfertier, Leib,<br />
Knochen, Haut, Fleisch <strong>und</strong> Eingeweide vertilgt war. Dieser barbarische, von höchster<br />
Altertümlichkeit zeugende Ritus war allen Beweismitteln nach kein vereinzelter Gebrauch,<br />
sondern die allgemeine ursprüngliche Form des <strong>Totem</strong>opfers, die in späterer<br />
Zeit die verschiedensten Abschwächungen erfuhr.<br />
Viele Autoren haben sich geweigert, der Konzeption der <strong>Totem</strong>mahlzeit Gewicht beizulegen,<br />
weil sie durch die direkte Beobachtung auf der Stufe des <strong>Totem</strong>ismus nicht erhärtet<br />
werden konnte. Robertson Smith hat noch selbst auf die Beispiele hingewiesen, in<br />
denen die sakramentale Bedeutung der Opfer gesichert scheint, z.B. bei den Menschenopfern<br />
der Azteken, <strong>und</strong> auf andere, welche an die Bedingungen der <strong>Totem</strong>inahlzeit erinnern,<br />
die Bärenopfer des Bärenstammes der Ouataouaks in Amerika <strong>und</strong> die Bärenfeste<br />
der Ainos in Japan. Frazer hat diese <strong>und</strong> ähnliche Fälle in den beiden letzterschienenen<br />
Abteilungen seines großen Werkes ausführlich mitgeteilt. 188 Ein Indianerstamm<br />
in Kalifornien, der einen großen Raubvogel (Bussard) verehrt, tötet diesen in feierlicher<br />
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