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Totem und Tabu

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Verfolgen wir in Religion <strong>und</strong> sittlicher Vorschrift, die im <strong>Totem</strong>ismus noch wenig<br />

scharf gesondert sind, bisher die Folgen der in Reue verwandelten zärtlichen Strömung<br />

gegen den Vater, so wollen wir doch nicht übersehen, daß im wesentlichen die Tendenzen,<br />

welche zum Vatermord gedrängt haben, den Sieg behalten. Die sozialen Brudergefühle,<br />

auf denen die große Umwälzung ruht, bewahren von nun an über lange Zeiten<br />

den tiefstgehenden Einfluß auf die Entwicklung der Gesellschaft. Sie schaffen sich<br />

Ausdruck in der Heiligung des gemeinsamen Blutes, in der Betonung der Solidarität aller<br />

Leben desselben Clans. Indem die Brüder sich einander so das Leben zusichern,<br />

sprechen sie aus, daß niemand von ihnen vom anderen behandelt werden dürfe, wie der<br />

Vater von ihnen allen gemeinsam. Sie schließen eine Wiederholung des Vaterschicksals<br />

aus. Zum religiös begründeten Verbot, den <strong>Totem</strong> zu töten, kommt nun das sozial begründete<br />

Verbot des Brudermordes hinzu. Es wird dann noch lange währen, bis das Gebot<br />

die Einschränkung auf den Stammesgenossen abstreifen <strong>und</strong> den einfachen Wortlaut<br />

annehmen wird: Du sollst nicht morden. Zunächst ist an Stelle der Vaterhorde der Brüderclan<br />

getreten, welcher sich durch das Blutband versichert hat. Die Gesellschaft ruht<br />

jetzt auf der Mitschuld an dem gemeinsam verübten Verbrechen, die Religion auf dem<br />

Schuldbewußtsein <strong>und</strong> der Reue darüber, die Sittlichkeit teils auf den Notwendigkeiten<br />

dieser Gesellschaft, zum anderen Teil auf den vom Schuldbewußtsein geforderten Bußen.<br />

Im Gegensatz zu den neueren <strong>und</strong> in Anlehnung an die älteren Auffassungen des totemistischen<br />

Systems heißt uns also die Psychoanalyse einen innigen Zusammenhang<br />

<strong>und</strong> gleichzeitigen Ursprung von <strong>Totem</strong>ismus <strong>und</strong> Exogamie vertreten.<br />

4.6<br />

Ich stehe unter der Einwirkung einer großen Anzahl von starken Motiven, die mich vom<br />

Versuche zurückhalten werden, die weitere Entwicklung der Religionen von ihrem Beginn<br />

im <strong>Totem</strong>ismus an bis zu ihrem heutigen Stande zu schildern. Ich will nur zwei<br />

Fäden hindurch verfolgen, wo ich sie im Gewebe besonders deutlich auftauchen sehe:<br />

Das Motiv des <strong>Totem</strong>opfers <strong>und</strong> das Verhältnis des Sohnes zum Vater. 196<br />

Robertson Smith hat uns belehrt, daß die alte <strong>Totem</strong>mahlzeit in der ursprünglichen<br />

Form des Opfers wiederkehrt. Der Sinn der Handlung ist derselbe: Die Heiligung durch<br />

die Teilnahme an der gemeinsamen Mahlzeit; auch das Schuldbewußtsein ist dabei geblieben,<br />

welches nur durch die Solidarität aller Teilnehmer beschwichtigt werden kann.<br />

Neu hinzugekommen ist die Stammesgottheit, in deren gedachter Gegenwart das Opfer<br />

stattfindet, die an dem Mahle teilnimmt wie ein Stammesgenosse, <strong>und</strong> mit der man sich<br />

durch den Genuß am Opfer identifiziert. Wie kommt der Gott in die ihm ursprünglich<br />

fremde Situation?<br />

Die Antwort könnte lauten, es sei unterdes – unbekannt woher – die Gottesidee aufgetaucht,<br />

habe sich das ganze religiöse Leben unterworfen, <strong>und</strong> wie alles andere, was bestehen<br />

bleiben wollte, hätte auch die <strong>Totem</strong>mahlzeit den Anschluß an das neue System<br />

gewinnen müssen. Allein die psychoanalytische Erforschung des einzelnen Menschen<br />

lehrt mit einer ganz besonderen Nachdrücklichkeit, daß für jeden der Gott nach dem<br />

Vater gebildet ist, daß sein persönliches Verhältnis zu Gott von seinem Verhältnis zum<br />

leiblichen Vater abhängt, mit ihm schwankt <strong>und</strong> sich verwandelt <strong>und</strong> daß Gott im Gr<strong>und</strong>e<br />

nichts anderes ist als ein erhöhter Vater. Die Psychoanalyse rät auch hier wie im<br />

Falle des <strong>Totem</strong>ismus, den Gläubigen Glauben zu schenken, die Gott Vater nennen, wie<br />

sie den <strong>Totem</strong> Ahnherrn genannt haben. Wenn die Psychoanalyse irgendwelche Beachtung<br />

verdient, so muß, unbeschadet aller anderen Ursprünge <strong>und</strong> Bedeutungen Gottes,<br />

auf welche die Psychoanalyse kein Licht werfen kann, der Vateranteil an der Gottesidee<br />

ein sehr gewichtiger sein. Dann wäre aber in der Situation des primitiven Opfers der<br />

Vater zweimal vertreten, einmal als Gott <strong>und</strong> dann als das <strong>Totem</strong>opfertier, <strong>und</strong> bei allem<br />

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