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Totem und Tabu

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dieser Tat nichts wissen konnten. Wir lassen einen Gefühlsprozeß, wie er bei Generationen<br />

von Söhnen entstehen konnte, die von ihrem Vater mißhandelt wurden, sich auf<br />

neue Generationen fortsetzen, welche einer solchen Behandlung gerade durch die Beseitigung<br />

des Vaters entzogen worden waren. Dies scheinen allerdings schwerwiegende<br />

Bedenken, <strong>und</strong> jede andere Erklärung scheint den Vorzug zu verdienen, welche solche<br />

Voraussetzungen vermeiden kann.<br />

Allein eine weitere Erwägung zeigt, daß wir die Verantwortlichkeit für solche Kühnheit<br />

nicht allein zu tragen haben. Ohne die Annahme einer Massenpsyche, einer Kontinuität<br />

im Gefühlsleben der Menschen, welche gestattet, sich über die Unterbrechungen der<br />

seelischen Akte durch das Vergehen der Individuen hhiwegzusetzen, kann die Völkerpsychologie<br />

überhaupt nicht bestehen. Setzen sich die psychischen Prozesse der einen<br />

Generation nicht auf die nächste fort, müßte jede ihre Einstellung zum Leben neu<br />

erwerben, so gäbe es auf diesem Gebiet keinen Fortschritt <strong>und</strong> so gut wie keine Entwicklung.<br />

Es erheben sich nun zwei neue Fragen, wieviel man der psychischen Kontinuität<br />

innerhalb der Generationsreihen zutrauen kann, <strong>und</strong> welcher Mittel <strong>und</strong> Wege<br />

sich die eine Generation bedient, um ihre psychischen Zustände auf die nächste zu<br />

übertragen. Ich werde nicht behaupten, daß diese Probleme weit genug geklärt sind,<br />

oder daß die direkte Mitteilung <strong>und</strong> Tradition, an die man zunächst denkt, für das Erfordernis<br />

hinreichen. Im allgemeinen kümmert sich die Völkerpsychologie wenig darum,<br />

auf welche Weise die verlangte Kontinuität im Seelenleben der einander ablösenden<br />

Generationen hergestellt wird. Ein Teil der Aufgabe scheint durch die Vererbung psychischer<br />

Dispositionen besorgt zu werden, welche aber doch gewisser Anstöße im individuellen<br />

Leben bedürfen, um zur Wirksamkeit zu erwachen. Es mag dies der Sinn des<br />

Dichterwortes sein: Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.<br />

Das Problem erschiene noch schwieriger, wenn wir zugestehen könnten, daß es seelische<br />

Regungen gibt, welche so spurlos unterdrückt werden können, daß sie keine Resterscheinungen<br />

zurücklassen. Allein solche gibt es nicht. Die stärkste Unterdrückung<br />

muß Raum lassen für entstellte Ersatzregungen <strong>und</strong> aus ihnen folgende Reaktionen.<br />

Dann dürfen wir aber annehmen, daß keine Generation imstande ist, bedeutsamere seelische<br />

Vorgänge vor der nächsten zu verbergen. Die Psychoanalyse hat uns nämlich gelehrt,<br />

daß jeder Mensch in seiner unbewußten Geistestätigkeit einen Apparat besitzt, der<br />

ihm gestattet, die Reaktionen anderer Menschen zu deuten, das heißt die Entstellungen<br />

wieder rückgängig zu machen, welche der andere an dem Ausdruck seiner Gefühlsregungen<br />

vorgenommen hat. Auf diesem Wege des unbewußten Verständnisses all der<br />

Sitten, Zeremonien <strong>und</strong> Satzungen, welche das ursprüngliche Verhältnis zum Urvater<br />

zurückgelassen hatte, mag auch den späteren Generationen die Übernahme jener Gefühlserbschaft<br />

gelungen seln.<br />

Ein anderes Bedenken dürfte gerade von seiten der analytischen Denkweise erhoben<br />

werden.<br />

Wir haben die ersten Moralvorschriften <strong>und</strong> sittlichen Beschränkungen der primitiven<br />

Gesellschaft als Reaktion auf eine Tat aufgefaßt, welche ihren Urhebern den Begriff des<br />

Verbrechens gab. Sie bereuten diese Tat <strong>und</strong> beschlossen, daß sie nicht mehr wiederholt<br />

werden solle, <strong>und</strong> daß ihre Ausführung keinen Gewinn gebracht haben dürfe. Dies<br />

schöpferische Schuldbewußtsein ist nun unter uns nicht erloschen. Wir finden es bei den<br />

Neurotikern in asozialer Weise wirkend, um neue Moralvorschriften, fortgesetzte Einschränkungen<br />

zu produzieren, als Sühne für die begangenen <strong>und</strong> als Vorsicht gegen neu<br />

zu begehende Untaten. 211 Wenn wir aber bei diesen Neurotikern nach den Taten forschen,<br />

welche solche Reaktionen wachgerufen haben, so werden wir enttäuscht. Wir<br />

finden nicht Taten, sondern nur Impulse, Gefühlsregungen, welche nach dem Bösen<br />

verlangen, aber von der Ausführung abgehalten worden sind. Dem Schuldbewußtsein<br />

der Neurotiker liegen nur psychische Realitäten zugr<strong>und</strong>e, nicht faktische. Die Neurose<br />

ist dadurch charakterisiert, daß sie die psychische Realität über die faktische setzt, auf<br />

Gedanken ebenso ernsthaft reagiert wie die Normalen nur auf Wirklichkeiten.<br />

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