Editorial
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dem Machtstandpunkt Washingtons den Rechtsstandpunkt vorziehe, weil<br />
man etwas „dekadent“ sei. Auch die Sympathie der Beteiligten für den<br />
Ausbau der „Achse“ Paris – Berlin – Moskau blieb ganz ungefähr. Immerhin<br />
bezog man sich auf – gleichwohl als heikel betrachtete – Konstanten<br />
der „Geopolitik“.<br />
Die Geopolitik hat in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt wie<br />
kein anderes der in der Nachkriegszeit tabuierten Deutungsmuster von<br />
Geschichte und Politik. Die Annahme, daß die Lage eines Staates im Raum<br />
dessen Schicksal ganz wesentlich bestimme, gehörte in Deutschland nach<br />
1945 zu den sukzessive verdrängten Postulaten. Die Ursache dafür lag nur<br />
zum Teil im Mißbrauch geopolitischer Theorien durch das NS-Regime,<br />
eine wichtigere Rolle spielte, daß jede geopolitisch orientierte Betrachtung<br />
der deutschen Vergangenheit und der deutschen Gegenwart zu heterodoxen<br />
Ansichten führen mußte: die Mittellage ließ bestimmte Tendenzen der<br />
deutschen Außenpolitik seit der Reichsgründung als fast naturgegeben erscheinen<br />
und reduzierte die Plausibilität der Sonderwegtheorie, die Stellung<br />
des geteilten Restgebietes zwischen den Lagern des Kalten Krieges<br />
machte unwahrscheinlich, daß die Lösung der nationalen Kernfrage in<br />
Richtung auf eine Blockbindung zu finden sein würde.<br />
Trotz einer gewissen Rehabilitierung der Geopolitik in den frühen<br />
achtziger Jahren – angestoßen durch die linke Hérodote-Schule in Frankreich<br />
–, blieb die Zurückweisung in der Bundesrepublik bestehen. Das war<br />
besonders deutlich erkennbar an der heftigen und erfolgreichen Polemik<br />
gegen das „geopolitische Tamtam“ (Jürgen Habermas) im sogenannten<br />
Historikerstreit.<br />
Zuletzt hat das die Wiederkehr der Geopolitik aber nicht verhindern<br />
können. Interessanter Weise werden ihre Kategorien jetzt aber nicht zur<br />
Interpretation der Vergangenheit genutzt, sondern zur Deutung der Gegenwart<br />
und zur Prognose zukünftiger Entwicklungen. Immer unbekümmerter<br />
orientiert man sich an der sowieso ganz ungebrochenen angelsächsischen<br />
Tradition auf diesem Gebiet. Zu deren Paradigmen gehört seit<br />
ziemlich genau einhundert Jahren die These von der Bedeutung des geographical<br />
pivot of History, des geographischen „Angelpunkts“ der Geschichte,<br />
der zuerst von dem britischen Geographen John Halford Mackinder<br />
entdeckt wurde.<br />
Mackinder glaubte, daß die entscheidenden geopolitischen Prozesse<br />
bestimmt seien von der Teilung des Planeten in eine „Weltinsel“ aus Europa,<br />
Asien und Afrika, in deren Mitte das „Herzland“ (zwischen Wolga,<br />
Ostsibirien, Eismeer und Himalaja) liege, umgeben von einem inneren<br />
Kranz kontinentaler Gebiete (Osteuropa, Naher Osten, Südasien) und einem<br />
äußeren, der aus Inseln bestehe (England, die beiden Amerika, Australien<br />
und Japan). Seiner Meinung nach mußte die Beherrschung Eurasiens<br />
– also des „Herzlands“ – zwangsläufig die Unterwerfung der „Weltinsel“<br />
zur Folge haben.<br />
Wenn man einmal von den Implikationen dieser Theorie für die britische<br />
Politik der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg absieht, bleibt bemerkenswert,<br />
daß sich die ganze Geschichte der amerikanisch-sowjetischen<br />
Konfrontation auch als eine Auseinandersetzung um die Kontrolle des<br />
heartland lesen läßt. Allerdings blieb das „herzland-über-alles” (Stephen<br />
B. Jones) nicht unwidersprochen. Vor allem die „Pluralisten” unter den<br />
Geopolitikern in den USA wiesen darauf hin, daß sich die Menge der<br />
Konflikte in Vergangenheit und Gegenwart unmöglich auf die Auseinandersetzung<br />
zwischen Herzland und Peripherie reduzieren lasse. Dieser<br />
Einwand hatte und hat insofern seine Berechtigung, als die eurasische<br />
Einheit immer etwas Phantomhaftes gewesen ist. Die dauerhafte Organisation<br />
dieses gigantischen Raumes gelang bisher nie, – und dürfte auch<br />
für die Zukunft unwahrscheinlich sein.<br />
Entsprechende oder verwandte politische Pläne, soweit sie nicht einfach<br />
auf die zunehmende Ausdehnung Rußlands Bezug nahmen, das seit<br />
dem 16. Jahrhundert Sibirien unterworfen hatte und dann bis 1945 sukzessive<br />
nach Westen und Süden vordrang, scheiterten regelmäßig daran,<br />
daß sich die beiden denkbaren Vormächte des Herzlandes – Deutschland<br />
und Rußland – zu einer Zusammenarbeit außerstande zeigten: Entweder<br />
weil sie das Projekt durch dauernde Unterwerfung des jeweils anderen<br />
verwirklichen wollten (Hitlers „blockadefreier Großraum“, Stalins Aspirationen<br />
bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, vielleicht bis zum Schei-<br />
John Halford Mackinder:<br />
Der geographische<br />
Drehpunkt der Geschichte<br />
[1904], in: Josef Matznetter<br />
(Hrsg.): Politische<br />
Geographie, Wege der<br />
Forschung, Bd 331, Darmstadt<br />
1977, S. 54-77<br />
Geoffrey Parker: Western<br />
geopolitical thought in<br />
twentieth century, London<br />
und Sydney 1985<br />
Weißmann – Delikatesse 15