Editorial
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Krieg promovierte mit einer<br />
Arbeit über den französischen<br />
Sozialphilosophen Saint Simon.<br />
Es folgten zwischen 1951<br />
und 1954 lebensgeschichtlich<br />
wichtige, ebenfalls in einem<br />
Buch erinnerte „Pariser Lehrjahre“,<br />
danach war er dreißig<br />
Jahre lang beim Straßburger<br />
Europarat als Leiter der Kulturabteilung<br />
tätig. 1982/83<br />
kehrte er für ein Jahr in seine<br />
Vaterstadt zurück, um hier als<br />
„Fellow“ am Wissenschaftskolleg<br />
sein Buchprojekt über<br />
Wilhelm II. voranzubringen.<br />
Das Haus, in dem er wohnte,<br />
war nur einen Kilometer<br />
vom elterlichen Grundstück<br />
entfernt. Sein 80. Geburtstag<br />
am 10. Mai war für Sombart<br />
der Anlaß, das Tagebuch jener<br />
Monate zu veröffentlichen. Es<br />
ist angelegt als ein „Journal<br />
intime“ und soll doch mehr<br />
sein als eine Sammlung privater<br />
Histörchen. Sombart hat<br />
einen Selbstversuch protokolliert,<br />
mit dem er erkunden<br />
wollte, welche Möglichkeiten<br />
ein Mann von Welt heute hat,<br />
in Deutschland, dem Land der<br />
großen Mittelmäßigkeit, zu<br />
leben und sich darzustellen.<br />
Sein Berliner Jahr spielt<br />
sich ab zwischen dem Kolleg,<br />
einem nahegelegenen<br />
Bordell und der Paris-Bar,<br />
dem legendären Promitreff<br />
von West-Berlin. Auffällig<br />
ist das Mißverhältnis von<br />
Aufwand und Ergebnis. Der<br />
Kultursoziologe Sombart hat<br />
offenbar geglaubt, en passant<br />
ein Sittengemälde der „guten<br />
Gesellschaft“ mit den Mitteln<br />
des gehobenen Klatsches zu<br />
fixieren. Was er in der eingemauerten<br />
Halbstadt vorfand,<br />
war eine schmale akademische<br />
Schicht, die sich mit adligen<br />
Einsprengseln (den Nachkommen<br />
der Hohenzollern und ihren<br />
Reichskanzlern) schmückt.<br />
Weil Sombart im Tagebuch –<br />
anders als in seinen Erinnerungen<br />
und historischen Darstellungen<br />
– nicht als ästhetisierender<br />
Analytiker auftritt,<br />
sondern nur als blasierter Dandy,<br />
der sich über die Mediokrität<br />
der Verhältnisse mokiert,<br />
hat sein Beobachterblick die<br />
falsche Brennweite. Er ist nicht<br />
scharf oder böse genug, um<br />
hinter den Erscheinungen etwas<br />
auszumachen, was für den<br />
uneingeweihten Leser wesent-<br />
lich ist. Klatsch und Zoten ergeben<br />
nicht einmal ein Berliner<br />
Panoptikum, und die Indiskretionen<br />
über sein Liebesleben<br />
sind nicht pikant, sondern<br />
einfach nur – indiskret. Fazit:<br />
Das Berlin der achtziger Jahre<br />
läßt sich nicht als verunglückte<br />
Fortsetzung des Vorkriegsberlin<br />
darstellen.<br />
Wer Sombart schätzt, wird<br />
sich für dieses Tagebuch trotzdem<br />
interessieren: als Vorstufe<br />
oder Seitenstück zu den soziologischen<br />
Arbeiten. Er wird<br />
es dann erstaunt beiseite legen<br />
und zu seinen anderen Büchern<br />
greifen.<br />
Thorsten Hinz<br />
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