2. Ausgabe Leselicht
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Schizoider Hypochonder<br />
Abendessen<br />
Du sagst zu mir,<br />
dass du irgendwann<br />
so jähzornig wie dein Vater werden wirst.<br />
Ich sage daraufhin,<br />
das wäre totaler Käse.<br />
Doch du meinst,<br />
der Apfel fiele eben nicht weit<br />
vom Stamm.<br />
Ach, Quark, entgegne ich.<br />
Plötzlich kochst du vor Wut,<br />
schreist, ich hätte keine Ahnung<br />
und dass ich dumm wie Brot wäre.<br />
Dabei könntest du dir<br />
von meiner Sicht auf die Dinge<br />
ruhig mal eine Scheibe abschneiden.<br />
Wir schweigen.<br />
Du versuchst nicht mal die Suppe auszulöffeln,<br />
die du dir selber eingebrockt hast.<br />
Ich esse auch nichts,<br />
schlucke nur eine Träne herunter.<br />
Dann ist das Thema gegessen,<br />
wir räumen ab,<br />
und obwohl dabei kein Teller herunterfällt,<br />
stehen wir plötzlich vor einem Scherbenhaufen.<br />
Susanne Weigel<br />
Die Wahrheit<br />
In Sonnenbahnen drehen sich die Gestirne.<br />
Kreisen im endlichen Tanz der Zeit<br />
und aus den Kratern recken sich Türme<br />
in den besternten Himmel weit.<br />
Von dorten blicken suchende Augen<br />
ins helle Firmament der Nacht<br />
und erhoffen Wahrheit aus den Sternen zu saugen.<br />
Doch jeder Stern nur strahlt und lacht.<br />
Doch Wahrheit liegt nicht in Materie und Substanz.<br />
Sie findet sich nur im engen Raum<br />
zwischen zwei Mündern im korona-heißen Lippentanz<br />
eines Kusses sanften Liebestraum.<br />
JANUS<br />
Eine Wahrheit, die kein Aug, kein Verstand<br />
je zu erfassen vermag.<br />
Allein das Herz kann mit der Hand<br />
das ergreifen, was lange in den Sternen lag.<br />
Ein Geschwür, Gehirn genannt,<br />
erschwert mir das Fühlen.<br />
Ein Geist sitzt, vom Wahn bemannt,<br />
zwischen zwei leeren Stühlen.<br />
Ein Tumor, Herz geheißen,<br />
erschwert mir das Denken.<br />
Zwei Bestien sich zerreißen,<br />
nur um mich zu lenken.<br />
Eine Krankheit, als Leben bekannt,<br />
erschwert mir das Sein.<br />
Eine Existenz von Gott gesandt<br />
nur zum bloßen Schein<br />
JANUS<br />
Als Frau Holle ihr Kissen verlor<br />
Genussvoll biss ich in ein Stückchen Stolle,<br />
just in dem Moment schüttelte Frau Holle<br />
ihr Kopfkissen aus.<br />
Mit Schwung tanzten und wirbelten die Flocken<br />
und versuchten mich in den Garten zu locken,<br />
doch ich blieb im Haus,<br />
stellte Tannenzweige in eine Vase,<br />
hatte funkelnden Puderzucker auf der Nase<br />
und wollte nicht raus.<br />
Ganz plötzlich plumpste ein weißes Kissen,<br />
mitten auf mein Fensterbrett.<br />
Ich dachte, Frau Holle wird es bestimmt vermissen<br />
und dass sie es gern wieder hätt’.<br />
Ich nahm den ersten Brunnen, den ich fand<br />
und sprang mit Kissen ins Märchenland.<br />
Frau Holle wartete schon an der Tür,<br />
zog mich lachend ins Haus und dankte mir.<br />
Ich gab ihr das Kissen und sie mir ‘nen Punsch,<br />
sie versprach mir sogar die Erfüllung von einem Wunsch.<br />
Ich wünschte mir erst ein Buch, dann eine CD,<br />
doch am meisten wollte ich Weihnachtsschnee.<br />
„Ich muss aber erst den Apfelbaum rütteln<br />
und die Brote aus dem Ofen holen.<br />
Ob dann noch Zeit bleibt die Betten auszuschütteln?“<br />
fragte sie und lächelte verstohlen.<br />
Diesem Lächeln konnte ich unmöglich widerstehen<br />
und brachte es nicht übers Herz so einfach zu gehen.<br />
Seit dem verblieb ich im Märchenland<br />
und wurde Frau Holles erster Bettenausschüttelpraktikant.<br />
Susanne Weigel<br />
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