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2. Ausgabe Leselicht

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„Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?“<br />

Das literarische Tagebuch am Beispiel von Max<br />

Frisch<br />

Was soll das sein, ein ‚literarisches Tagebuch’? Was unterscheidet<br />

es von den unzähligen privaten Tagebüchern, die nicht dieses<br />

Prädikat bekommen? Manfred Jurgensen meint in seiner Studie<br />

„Das fiktionale Ich“, die literarische Aussage „beginnt, wo sich das<br />

Individuum in reflektiver Absicht selbstdarstellerisch gegenübertritt“.<br />

Also ein Dialog mit sich selbst, der nicht nur wahrnimmt,<br />

sondern reflektiert, und darin sich selbst ganz bewusst gestaltet<br />

und präsentiert. Demnach ist ein fremder Rezipient schon mitgedacht,<br />

aus dem Tagebuch-Ich wird eine literarische Figur, ein Es.<br />

Man könnte sagen, es handelt sich um eine Mischform; die der<br />

Verarbeitung täglicher Ereignisse dienenden Notizen werden auf<br />

ein Publikum hin variiert. Die Inhalte können vielfältig sein: Gide<br />

etwa hielt das ihn umgebende Geistesleben fest, Kierkegaard<br />

übte sich in religiöser Erziehung seiner selbst und seiner Leser,<br />

Graf von Platen reflektierte über seine Dichtung und für Kafka<br />

war sein Tagebuch ein Halt, an dem er intensive Selbstexegese<br />

betrieb.<br />

Auch der 1991 verstorbene Schweizer Max Frisch schrieb und<br />

veröffentlichte Tagebücher, jeweils zusammenhängend für die<br />

Ein Fragebogen, aus dem auch der Titel dieses Artikels stammt,<br />

bildet den Auftakt des Tagebuchs. Hier tritt Frisch unmittelbar in<br />

den Dialog mit seinem Leser. Die Fragen beziehen sich auf unser<br />

Sozialverhalten; es geht um Glück und Hoffnung, die Ehe,<br />

Freundschaft, Humor oder das persönliche Verhältnis zu Geld.<br />

Nicht an jeder Frage bleibt man hängen, manche scheitern<br />

daran, dass Frisch ausschließlich an männliche Leser denkt, andere<br />

an bereits implizierten Antworten. Aber an einigen hat man<br />

zu knabbern, auch wenn man das Buch wieder aus der Hand<br />

legt.Ein sich durchziehendes Motiv ist die fiktive „Vereinigung<br />

Freitod“. In den fünf Jahren des Tagebuchs verfolgt sie Frisch<br />

von ihrer Gründung bis zur Fertigstellung eines „Handbuchs<br />

für Mitglieder“. Die Vereinigung hat sich dem Kampf gegen die<br />

Überalterung der Gesellschaft verschrieben; Mitgliedern, die Senilitätserscheinungen<br />

aufweisen, soll durch die Vereinigung die<br />

Empfehlung zum baldigen Freitod ausgesprochen werden. Doch<br />

was für den einzelnen gilt, macht auch vor der Gruppe nicht halt:<br />

Wenn sie wirklich da sind, will man die Zeichen des Verfalls nicht<br />

mehr wahrhaben. Einzig der Verfasser des Handbuchs bleibt der<br />

ursprünglichen Linie halbwegs treu. Im Handbuch führt er dezidiert<br />

Alterserscheinungen der „Gezeichneten“ und auch schon<br />

der „Vor-Gezeichneten“, also der Herren im sogenannten ‚besten<br />

Alter’, auf. Für beide Gruppen sind diese Aufzeichnungen wenig<br />

schmeichelhaft, doch für den Leser – gehöre er nun zu einer der<br />

beiden Gruppen oder (noch) nicht – umso amüsanter.<br />

Erinnerungen an Brecht<br />

Nicht jedes Tagebuch wird für die Schublade geschrieben<br />

Zeiträume 1946-49 und 1966-71. Im jüngeren reflektiert er über<br />

die Ambivalenz zwischen der privaten Form und der öffentlichen<br />

Präsentation: Verletzt er damit Persönlichkeitsrechte, wenn er<br />

über Personen seines privaten Umfelds spricht? Aber wenn er es<br />

nicht tut, verlagern sich unweigerlich Schwerpunkte: Die eigene<br />

Person wird omnipräsent, das Öffentliche überlagert das Private.<br />

Dennoch hat er sich für diesen Weg entschieden.<br />

Foto: Christian Weicholdt<br />

Vieles ist lesenswert an diesem Tagebuch: Die sehr persönlichen<br />

Erinnerungen an die Arbeit mit Brecht. Die Collagen, welche<br />

die Zeitungsberichterstattungen zu zeitpolitischen Themen mit<br />

Frischs Eindrücken kontrastieren und ad absurdum führen. Die<br />

Überlegungen, wie die Dramaturgie der Peripetie unsere Vorstellung<br />

von Lebenswirklichkeit prägt.<br />

All dies ist typisch Max Frisch und geht doch über seine sonstigen<br />

Werke hinaus. Es gelingt ihm, sich zumindest teilweise von seinem<br />

Lebensthema – dem Kampf gegen die Idee von Schicksalhaftigkeit<br />

und die Starre der Persönlichkeit – zu lösen und über<br />

seine Gegenwart zu reflektieren. Frischs Tagebuch ist Zeitdokument,<br />

Einblick in die Persönlichkeit eines Autors, Denkanstoß und<br />

literarisches Werk zugleich – eben ein ‚literarisches Tagebuch‘.<br />

Jana König<br />

Ein Fragebogen als Auftakt<br />

Frischs Tagebuch 1966-71 ist ein buntes Sammelsurium: Fragebögen<br />

und Verhöre finden sich neben literarischen Skizzen<br />

und theoretischen Überlegungen; Gedanken zu Ereignissen wie<br />

der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und den 68er Studentenrevolten<br />

neben Eindrücken einer Reise durch Russland.<br />

Durchgängig vermerkt ist nur die Jahreseinteilung, genaue Datumsangaben<br />

sind hingegen selten. Die Vielfalt der Ebenen wurde<br />

in verschiedene Schrifttypen übersetzt.<br />

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