2. Ausgabe Leselicht
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Nach ein oder zwei Jahren würde ich gern zurückkommen und<br />
entdecken, dass sich die Sammlung selbst geordnet, verfeinert<br />
und verbunden hat.“<br />
„Voll krass peinlich“<br />
Schreibfaulen, die das Experiment Tagebuch trotzdem wagen<br />
wollen, empfehle ich das Danketagebuch. Hierbei werden am<br />
Ende eines Tages fünf Dinge aufgeschrieben, für die der Schreiber<br />
in den letzten 24 Stunden dankbar gewesen ist. So kann man<br />
seinen Tag Revue passieren lassen und lernt auch noch die kleinen<br />
Dinge des Lebens zu schätzen, vor allem, wenn man nach<br />
zwei Stunden intensiven Nachdenkens immer noch bei Punkt<br />
drei festhängt.<br />
Vieles aus dem Leben eines Menschen bleibt verborgen, selbst<br />
wenn einiges davon in ein Büchlein gebannt wurde. Manche<br />
Geheimnisse sind mit einem Schloss verhängt, der Schlüssel<br />
mehr oder weniger gut versteckt, denn nicht alle Stunden aus<br />
dem Leben eines Menschen sind für die Augen anderer bestimmt.<br />
Da die meisten Tagebuchschreiber, vor allem weibliche, ihr Leben<br />
während der Jugendzeit festhalten und mit Vollendung ihrer<br />
Sturm- und Drangzeit oft nicht mehr nachvollziehen können,<br />
was sie alles angestellt haben und warum das auch noch alles<br />
aufgeschrieben werden musste, ist eine Sache ziemlich schnell<br />
klar: Das Tagebuch muss weg! Doch wie? Schreddern, in einen<br />
Eimer Kleber tauchen oder auf die letzte Seite schreiben „Ich distanziere<br />
mich“? Einige verstauen ihre Bücher in Kisten, andere<br />
blättern ab und zu kopfschüttelnd darin herum und finden ihre<br />
Erlebnisse und wie sie formuliert wurden „voll krass peinlich“.<br />
Manche Geschehnisse werden nicht besser, nur weil sie durch<br />
eine komplizierte Geheimschrift verschlüsselt wurden.<br />
Dabei sind Rechtschreibfehler und eigenartige Wortneuschöpfungen<br />
fast noch lesenswerter als die Tagebuchinhalte selbst. Ich<br />
finde es immer noch nur ein klitzekleines bisschen voll krass peinlich,<br />
dass ich nach einer Party bei Freunden erst 24 Uhr 30 nach<br />
Hause gekommen bin. Na und, Währungen ändern sich im Laufe<br />
des Tagebuchschreibens, warum nicht auch mal die Zeit?<br />
Trotzdem werden immer noch Jahr für Jahr sinnlos Tagebücher<br />
der Mülltonne übergeben, weil der Schreiber diverse Einträge<br />
für unzumutbar hält und die Seiten nicht einmal mehr sich selbst<br />
zum Lesen freigeben will. Diesen Menschen sei gesagt, dass es<br />
Postzusteller gibt, die Briefe nicht austeilen, sondern bei sich zu<br />
Hause horten. Deshalb verwette ich meinen Briefkastenschlüssel,<br />
dass es auch irgendwo einen Müllmann oder eine Müllfrau gibt,<br />
der oder die inzwischen eine stattliche Bibliothek der weggeworfenen<br />
Tagebücher bei sich zu Hause hat. Ich beantrage hiermit<br />
einen Leseausweis.<br />
Susanne Weigel<br />
Tagebuchauszug:<br />
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Anlässlich Trakls „Verfall“ Gespräch mit S. über die Möglichkeit eines Lebens bzw. irgendeiner Art von Weiterexistenz nach<br />
dem Tod (sicher auszuschließen ist es ja nicht).<br />
Ist es wirklich so abwegig, dass ich die Vorstellung erschreckend finde? Dass mein Bewusstsein nicht in absehbarer Zeit erlischt,<br />
sondern ewig (was auch immer das heißt) fortbestehen könnte… etwas Schlimmeres ist für mich kaum vorstellbar.<br />
Wird nicht Leben erst erträglich dadurch, dass es endlich ist? Dass egal welche Verletzungen wirr erlitten haben oder noch<br />
erleiden werden, diese eben nicht ewig sind? Glück wird nicht dadurch geschmälert, dass wir sterblich sind – es ist für den Augenblick,<br />
ist unmittelbar, wird vielleicht sogar intensiver dadurch. Was uns quält jedoch ist meist zäh und klebrig, verlässt<br />
uns nie ganz – der einzige Weg, jemals ganz davon freizukommen ist das Verschwinden dessen, wo- ran es klebt – unser<br />
Bewusstsein.<br />
Herbst 2007<br />
Tagebucharchiv<br />
Wo das Stöbern in fremden Tagebüchern erlaubt ist<br />
Schon vor vielen Jahrhunderten schrieben Menschen ihren Alltag<br />
sowie ihre Probleme in Tagebüchern nieder. Gedanken, die zwar<br />
höchst subjektiv sind, denen aber zugleich etwas Allgemeinmenschliches<br />
anhaftet. Das macht Tagebücher zu eindrucksvollen<br />
Zeugen der Alltags- und Gedankenwelten vergangener<br />
Zeiten. Um dieses Wissen auch für die Nachwelt zu konservieren,<br />
gründete Frauke von Troschke im Jahr 1998 das „Deutsche Tagebucharchiv“<br />
in Emmendingen (Baden-Württemberg).<br />
Jeder Interessierte kann sein Tagebuch, aber auch Briefe und<br />
Kalenderblätter, dort einsenden. Über 6000 Schriften von über<br />
2000 Autoren zählt das Archiv inzwischen, darunter auch richtige<br />
Antiquitäten, teilweise 200 Jahre alt. Genutzt wird das Tagebucharchiv<br />
weltweit von Wissenschaftlern, darunter viele Historiker<br />
und Literaturwissenschaftler. Zudem gibt es für interessierte Besucher<br />
auch öffentliche Führungen durch das Archiv.<br />
Weitere Informationen gibt es unter www.tagebucharchiv.de<br />
Jenny Schröder<br />
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