Interview Très CHER (Vorschau)
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Jeanne<br />
DARK<br />
Night & Life<br />
186<br />
In meinen elf Jahren in Paris habe ich nie<br />
ein deutsches Restaurant gesehen.<br />
Nicht, dass ich danach gesucht hätte.<br />
Nach zwei Jahren Berlin kenne ich ungefähr<br />
74 französische Restaurants. Dabei dachte<br />
ich, die Beliebtheit der französischen Küche<br />
hätte drastisch abgenommen, dass diese Art<br />
Küche einer völlig anderen Epoche angehört.<br />
Aber nicht in Berlin. Hier verbreiten sich die<br />
Franzosen in einer derartigen Geschwindigkeit,<br />
wie man sie sonst nur von Chinesen<br />
kennt. In Kreuzberg zum Beispiel, wo ich<br />
wohne, gibt es Chez Michel, Chez Richard,<br />
Chez Gino, Chez Maurice, Namen aus einem<br />
fernen Jahrhundert, aber auch Le Cochon<br />
Bourgeois oder das Deux Ou Trois Choses.<br />
Und dann ist da noch der kleine Franzose<br />
direkt bei mir um die Ecke. Eine kleine<br />
Patisserie, deren Name ich mir nicht merken<br />
kann. Jeder erzählt, es gebe dort die besten<br />
Croissants, die besten Tartelettes, die besten<br />
Quiches, Macarons und Eclairs.<br />
Ich persönlich glaube, die Croissants, die<br />
Tartelettes, die Quiches, die Macarons und<br />
Eclairs sind nur so gut, weil sie so schwer zu<br />
kriegen sind. Und weil der Patissier sich das<br />
Recht vorbehält, sein Backzeug nicht an jeden<br />
zu verkaufen. Wer sich nicht benimmt,<br />
bekommt kein Croissant. Le Chef trägt eine<br />
sehr hohe Kochhaube, ist selbstbewusst und<br />
überqualifiziert, der Kaffee ist französisch. In<br />
ganz Frankreich kriegt man keinen guten<br />
Kaffee, selbst beim Italiener nicht!<br />
In dieser Ecke gibt es auf jeden Fall mehr<br />
Franzosen als jede andere Nationalität. Nicht<br />
nur gehören ihnen Restaurants, sie sind<br />
überall auf der Straße und in der U-Bahn, vor<br />
Jeanne Tremsal hat den größten Teil ihres<br />
jungen Lebens in Paris verbracht. Da wird sich<br />
das Nachtleben von Berlin ranhalten müssen<br />
allem in der U-Bahn. In den Clubs und<br />
nachts im Görlitzer Park wirst du auf<br />
Französisch gefragt, ob du Drogen kaufen<br />
willst. Als ich das letzte Mal – ganz schön<br />
mutig – nachts durch den Görlitzer Park<br />
gelaufen bin, wurde ich, nach dem üblichen<br />
„Haschisch? Fumer?“ – „Nein, aber danke“,<br />
in ein Gespräch über Fußball verwickelt.<br />
Auf Französisch mit zwei Senegalesen, der<br />
eine Dortmund-Fan, der andere Bayern-Fan<br />
und ich, Französin und Bayern-Fan. Der<br />
senegalesische Dortmund-Fan war gar nicht<br />
zufrieden mit Götzes Wechsel von Dortmund<br />
zu Bayern. Ich konnte ihn gut verstehen,<br />
selbst als Bayern-Fan war ich mir nicht ganz<br />
sicher, was ich davon halten sollte. Wir<br />
besprachen die ganze Bundesliga.<br />
Die Torstraße in Mitte: das Mekka der<br />
französischen Restaurants! Themroc, Bandol<br />
sur mer, 3 minutes sur mer und seit Kurzem<br />
das Les Valseuses. Die Namensgebung ist hier<br />
etwas kreativer und doch veraltet. Themroc<br />
und Les Valseuses, beides Filme aus den frühen<br />
1970er-Jahren, die, als ich 17 war, zu meinen<br />
Lieblingsfilmen gehörten. Mit 17 war ich auch<br />
das erste Mal in Berlin und wohnte – ja, genau<br />
– in der Torstraße. Der tristeste Ort, den ich<br />
jemals gesehen hatte. Die Torstraße war ein<br />
Grund, niemals nach Berlin zu ziehen. Und<br />
jetzt habe ich genau hier meinen Geburtstag<br />
gefeiert! Im Themroc! Wir waren ungefähr<br />
15 Leute, saßen draußen an einem viel zu<br />
kleinen Tisch, auf einem viel zu engen<br />
Bürgersteig auf dieser viel zu großen<br />
Straße. Und plötzlich fühlte sich das<br />
alles genau richtig an. Berlin. Die<br />
Torstraße. Der Franzose. Nichts passt<br />
zusammen und dann wieder doch.<br />
Das ist das Wunderbare an dieser<br />
Stadt, anders als in Paris, wo alles<br />
zusammenpasst.<br />
Brasse auf Linsen, abgezählt für<br />
14 Portionen, also musste ich<br />
verzichten, egal, war köstlich, sagte<br />
man mir, aufgeregt, betrunken, mein<br />
Geburtstag; so erwachsen, zum Essen,<br />
nicht nur zum Trinken. Es war ein<br />
Donnerstag, der perfekte Wochentag,<br />
früher wären wir noch in einen Club<br />
gegangen, ins Pogo zum Beispiel, aber<br />
Foto Maxime Ballesteros<br />
heute müssen ja alle früh raus, haben Kinder<br />
oder mindestens einen oder zwei Jobs. So<br />
sind wir auf einen letzten Drink in die Bar<br />
des Pauly-Saals in der Ehemaligen Jüdischen<br />
Mädchenschule in der Auguststraße. Wir<br />
standen an den Tischen im Hof, rauchten,<br />
man hörte die Eiswürfel in den Gin Tonics<br />
klirren. Schöne Frauen saßen in sehr kurzen<br />
oder sehr roten Kleidern auf den Stufen, die<br />
in den Hof führen. Ich stellte fest, dass eine<br />
meiner Freundinnen Mitte 20 ist, die andere<br />
Mitte 50. Es war inzwischen 1.30 Uhr, ich<br />
musste dringend nach Hause.<br />
Schnitt. Ich stehe in einem kleinen Club,<br />
einen Gin Tonic in der Hand (bestimmt<br />
der 13.). Es ist so voll, dass individuelle<br />
Bewegung nicht mehr möglich ist. Ich lasse<br />
mich in wellenartigen Bewegungen mit der<br />
Masse treiben, was erstaunlicherweise sehr<br />
angenehm ist. Allein hätte ich sowieso nicht<br />
mehr gestanden. Jetzt erkenne ich erst, wo ich<br />
bin – im King Size auf der Friedrichstraße.<br />
Wunderbar schmutzig, eng und verraucht.<br />
Jetzt werde ich aus dem Menschenpulk<br />
ausgespuckt und stehe vor den Toiletten,<br />
plötzlich Platz. Ich lasse mich auf eine Bank<br />
fallen, da erkenne ich zwei Freunde aus Paris,<br />
Gil und Luc, ein Paar. Wir fallen uns in die<br />
Arme, sie erzählen mir, sie hätten jetzt eine<br />
Wohnung in Berlin. Was, echt, seit wann,<br />
wo?? Die Antwort: Kastaniénallée, bien sûr!<br />
FOTOS: Privat (8)