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Oktober (Doppelseiten) - experimenta.de

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Ingo Cesaro<br />

Haiku<br />

An Speichelfa<strong>de</strong>n<br />

hängt <strong>de</strong>r Kuh Herbstzeitlose -<br />

seitlich aus <strong>de</strong>m Maul.<br />

Blattlose Sträucher.<br />

Stehen im Blätterhaufen -<br />

beinah` bis zum Hals.<br />

Ingo Cesaro lebt und arbeitet<br />

als freier Schriftsteller in Kronach.<br />

Über 200 Einzelveröffentlichungen.<br />

Herausgeber,<br />

Galerist, Organisator von internationalen<br />

Literatur- und Kunstprojekten.<br />

Betreibt mobile<br />

Handpresse, organisiert Literatur-Werkstätten<br />

an allen<br />

Schultypen bis zu Universitäten<br />

im In- und Ausland.<br />

Mitglied: VS, DIE KOGGE,<br />

Deutsch-Schweizer P.E.N., NGL<br />

Erlangen, Deutsche Haikugesellschaft.<br />

www.ingo-cesaro.<strong>de</strong><br />

Marlene Schulz<br />

Ferdinand<br />

Nie wie<strong>de</strong>r sah ich ihn. Er war elf, genau wie ich. Damals. Kam einfach nicht mehr zur Schule. Sein<br />

Platz blieb für ein paar Tage leer, dann setzte Frau Hohena<strong>de</strong>l jemand an<strong>de</strong>ren darauf.<br />

Ferdi hatte blaue Augen, hell wie Gletschereisbonbons. Zwei Bänke vor und eine Reihe neben<br />

mir saß er. Wenn er sich mel<strong>de</strong>te, sein Arm kerzengera<strong>de</strong> nach oben schoss und er ihn mit <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren Hand abstützte, schaute er sich manchmal nach mir um.<br />

Wir hatten uns einmal verabre<strong>de</strong>t. Es war <strong>de</strong>r Sommer, bevor er nicht mehr kam. Nachmittags um<br />

drei Uhr, an einem Freitag. Ich hatte mein gestreiftes Kleid angezogen, das einen Reißverschluss<br />

bis zum Bauchnabel hatte. Das Rockteil war ganz in Rot gehalten, die Streifen im Oberteil in<br />

gleichem Rot, dazu Rosa und ein bisschen Weiß. Der Reißverschluss hatte einen münzgroßen<br />

Ring. Ich steckte gerne <strong>de</strong>n Finger hinein und zog <strong>de</strong>n Verschluss rauf und runter. Ich hatte ein<br />

wenig Angst, dass Ferdi daran ziehen könnte. Jungen lupften auch gerne mal <strong>de</strong>n Rock, doch es<br />

passierte nur, wenn sie zu mehreren waren. Heimlich schlüpfte ich in die schwarzen Lackschuhe,<br />

die im Schuhschrank stan<strong>de</strong>n und die ich nur sonntags anziehen durfte, anziehen musste zum<br />

Kin<strong>de</strong>rgottesdienst. Meine rote Handtasche mit <strong>de</strong>m vergol<strong>de</strong>ten Drehschloss nahm ich mit.<br />

Unser Treffpunkt war die Bank auf <strong>de</strong>m Spielplatz. Niemand spielte im Sand, als ich dort saß und<br />

auf Ferdi wartete. Niemand schaukelte o<strong>de</strong>r schubste für sich selbst das Karussell an. Ich stellte<br />

abwechselnd meine Handtasche auf meine Oberschenkel und auf die Bank. Malte mit meinen<br />

Lackschuhen Furchen in <strong>de</strong>n Sand. Ein paar Mal öffnete ich <strong>de</strong>n Verschluss meiner Tasche und<br />

sah das gebügelte Schnäuztuch mit aufgedrucktem Schneewittchen. Zwei Lutschbonbons lagen<br />

auf <strong>de</strong>m weißen Plastiktaschenbo<strong>de</strong>n. Ich wollte Ferdi eines davon abgeben. Er war über <strong>de</strong>r Zeit.<br />

Die Kirchturmuhr schlug. Vor einer Viertelstun<strong>de</strong> waren wir verabre<strong>de</strong>t. Das Warten wur<strong>de</strong> lang.<br />

Ich entschied: Noch fünf Mal Tasche aufmachen, dann.<br />

Bernard Bieling: „Uncontrolled“, Mixed Media auf Leinwand, 40x30cm, 2013<br />

Das erste Mal. Jetzt Taschentuch auseinan<strong>de</strong>r und wie<strong>de</strong>r zusammen falten, Tasche zumachen,<br />

einen großen Kreis mit <strong>de</strong>m rechten Fuß in <strong>de</strong>n Sand malen, einen kleinen mit <strong>de</strong>m linken. Wie<strong>de</strong>r<br />

verwischen. Tasche öffnen, Bonbons in die Hand nehmen, wie<strong>de</strong>r fallen lassen. Tasche schließen.<br />

Die Schuhe aneinan<strong>de</strong>r klopfen. Den Reißverschluss ein bisschen nach unten ziehen, wie<strong>de</strong>r<br />

zurück, Tasche öffnen, Taschentuch unter die Bonbons, Tasche schließen, ein Rechteck in <strong>de</strong>n<br />

Sand, Tasche öffnen, Tasche schließen, Kopf nach rechts, links, Ohren gespitzt, Tasche öffnen,<br />

ein Bonbon auswickeln, in <strong>de</strong>n Mund schieben und Schluss. Tasche schließen. Beim Weggehen:<br />

Bonbonpapier in <strong>de</strong>n Mülleimer.<br />

Zuhause hing ich mein Kleid über <strong>de</strong>n umhäkelten Bügel in <strong>de</strong>n Schrank, stellte die Schuhe<br />

zurück. In <strong>de</strong>r Schule sprachen wir nicht mehr über diesen Nachmittag, verabre<strong>de</strong>ten uns auch<br />

nicht wie<strong>de</strong>r.<br />

Ferdi ra<strong>de</strong>lte mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Jungen um die Häuser, zeigte ihnen sein aufklappbares<br />

Taschenmesser, schnitzte Stöcke und am Bach unten baute er Staumauern aus Steinen und<br />

Schlamm und Ästen mit ihnen. Er war einer <strong>de</strong>r Ersten, <strong>de</strong>r schwimmen konnte. Die Mutter kam<br />

aus <strong>de</strong>m Österreichischen, irgendwo am See wohnten die Großeltern. Die Berge vor <strong>de</strong>r Nase.<br />

Ferdi hatte eine kleine Schrift. Mit grünem Füller und blauer Tinte füllte er angestrengt Linien. Einmal,<br />

in <strong>de</strong>r Pause, zeigte ich ihm meine Schönschrifthausaufgabe, die mich selbst sehr beeindruckte.<br />

Ich nahm ein Lächeln wahr und ein zustimmen<strong>de</strong>s, leichtes Kopfnicken. Meine Sitznachbarin, die<br />

in <strong>de</strong>r Zeit zwischen <strong>de</strong>n Unterrichtsstun<strong>de</strong>n an mir klettete, hatte sie nicht wahrgenommen, diese<br />

www.eXperimenta.<strong>de</strong> 14 <strong>Oktober</strong> 2013<br />

<strong>Oktober</strong> 2013<br />

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