Oktober (Doppelseiten) - experimenta.de
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Carola Hagen<br />
Traumtänzer<br />
„Wer ist das?“ Ich tippte Albert auf die Schulter, <strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> eine Flasche Champagner mit einem<br />
feinen, kurzen Zischen geöffnet hatte.<br />
Ich wies mit <strong>de</strong>m Kinn zur Trauerwei<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>r ein Mann auf einer weißen Parkbank saß.<br />
Diagonal, etwa zwanzig Meter von <strong>de</strong>r Gästetafel entfernt.<br />
Die Bank stand im Schatten, geschützt von dichten, bis zum Bo<strong>de</strong>n herab hängen<strong>de</strong>n Zweigen,<br />
die von einem leichten Wind bewegt wur<strong>de</strong>n.<br />
Er war mir heute Mittag schon aufgefallen unter <strong>de</strong>n vielen Gästen, neuen Gesichtern, von <strong>de</strong>nen<br />
mir die meisten fremd waren und die mein Bru<strong>de</strong>r Albert anlässlich seines Geburtstags zum<br />
Festessen eingela<strong>de</strong>n hatte.<br />
„Viktor, das ist Viktor – ein Rechtsanwalt“, betonte mein Bru<strong>de</strong>r, wobei er die Betonung auf das<br />
Wort ‚Recht‘ legte. “Du interessierst dich für ihn?“<br />
Sein Tonfall klang plötzlich gereizt und ich konnte nicht ausmachen, was sich dahinter verbarg.<br />
„Nun, kümmere dich um die Getränke und lass mich mal machen!“ Mit einem verschwörerischen<br />
Lächeln, welches die Situation entspannen sollte, ließ ich Albert zurück.<br />
Inzwischen hatten sich die Gäste verteilt.<br />
Einige stan<strong>de</strong>n wahllos in Grüppchen zusammen und kamen über <strong>de</strong>n üblichen Smalltalk nicht<br />
hinweg, doch die meisten waren ausgelassen und schienen sich zu amüsieren. Sie lachten,<br />
erzählten sich Anekdoten aus vergangenen Zeiten, Urlaubserinnerungen o<strong>de</strong>r philosophierten<br />
über Kunst und Politik.<br />
Alberts Grundstück war großzügig angelegt. Auf einer weitläufigen Rasenfläche leuchteten im<br />
Hintergrund weiße und rote Rhodo<strong>de</strong>ndronbüsche. Der Duft von Jasmin und Laven<strong>de</strong>l betörte<br />
die Sinne und die natürliche Willkür <strong>de</strong>r Bepflanzung von Apfel- und Kirschbäumen erinnerten an<br />
einen Bauerngarten.<br />
Der frühe Abend, die verschwitzten Gesichter, diese gewisse Spannung in <strong>de</strong>r Luft, all dies<br />
erinnerte mich an ein Spielfeld, in <strong>de</strong>m Figuren miteinan<strong>de</strong>r agierten und alles auf eine Weise<br />
noch offen und unentschie<strong>de</strong>n war.<br />
Menschen, die sich begegneten, Nähe spürten o<strong>de</strong>r einan<strong>de</strong>r ausschlossen, wie Insekten, <strong>de</strong>ren<br />
Stachel man fürchtet.<br />
Doch Viktor war an<strong>de</strong>rs als die an<strong>de</strong>ren, stand am Ran<strong>de</strong>, irgendwie draußen, nicht im Feld.<br />
Seine Bewegungen, seine Aura, waren von einer auffälligen, geräuschlosen Langsamkeit. Von<br />
einer gelassenen Abgeklärtheit und Stille, die jedoch etwas Vollkommenes in sich trug.<br />
Und wenn er sprach, schien die Zeit still zu stehen.<br />
Als gäbe es für ihn keine Überraschungen o<strong>de</strong>r Hin<strong>de</strong>rnisse mehr, nichts, das sich lohnen wür<strong>de</strong><br />
zu ergrün<strong>de</strong>n.<br />
Etwas Endgültiges.<br />
Bernard Bieling: „Y“, Mixed Media auf Leinwand, 100x80cm, 2013<br />
Gera<strong>de</strong> dadurch geriet er in mein Visier. Irgendwann verließ mich die Geduld, Vermutungen über<br />
ihn anzustellen und so machte ich mich auf <strong>de</strong>n Weg, seinen Kokon zu ergrün<strong>de</strong>n.<br />
www.eXperimenta.<strong>de</strong> 4 <strong>Oktober</strong> 2013<br />
<strong>Oktober</strong> 2013<br />
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