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Politik und Kultur - Deutscher Kulturrat

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LEITARTIKEL<br />

politik <strong>und</strong> kultur • März – April 2007 • Seite 3<br />

Fortsetzung von Seite 2<br />

Geisteswissenschaften: Stolz <strong>und</strong> Vorurteil.<br />

Auf der einen Seite der Physiologe<br />

Emil Du Bois-Reymond, der<br />

1882 in seiner Berliner Rektoratsrede<br />

mit dem polemischen Titel „Goethe<br />

<strong>und</strong> kein Ende“ dem „Collegen“ Faust<br />

vorwarf, er hätte „statt an Hof zu gehen,<br />

ungedecktes Papiergeld auszugeben<br />

<strong>und</strong> zu den Müttern in die vierte<br />

Dimension zu steigen, besser [daran]<br />

gethan, Gretchen zu heiraten,<br />

sein Kind ehrlich zu machen, <strong>und</strong><br />

Elektrisirmaschine <strong>und</strong> Luftpumpe<br />

zu erfinden“. Auf der anderen Seite<br />

der Romanist Ernst Robert Curtius,<br />

der den Ruf an eine Technische Universität<br />

erhält <strong>und</strong> diesen Ruf, so geht<br />

jedenfalls die Sage, voller Schrecken<br />

mit den Worten ablehnt: „Dann kann<br />

es ja dazu kommen, dass der ordentliche<br />

Professor für Heizung <strong>und</strong> Lüftung<br />

mich mit Herr Kollege anredet!“<br />

Wie fruchtbar aber die Verpflanzung<br />

der Geisteswissenschaften in<br />

ein fremdes Milieu sein kann, zeigte<br />

sich 1959 nach der Berufung Walter<br />

Höllerers auf einen Lehrstuhl für Literaturwissenschaft<br />

an der Technischen<br />

Universität Berlin. Die Skepsis<br />

im Kollegenkreis war ebenso groß wie<br />

die Überraschung unter den Dichtern;<br />

Paul Celan gratulierte dem Neuberufenen<br />

mit den Worten: „Lieber Walter<br />

Höllerer, meinen herzlichen Glückwunsch<br />

zu Ihrer Berufung nach Berlin:<br />

hoffentlich schaden Sie der Technik!“<br />

Höllerer aber hatte anderes im<br />

Sinn. Sein Antwortschreiben an den<br />

Dekan der Humanistischen Fakultät –<br />

so etwas gab es einmal – klang nüchtern:<br />

„Spectabilität – soweit es auf<br />

mich ankommt, ich würde es begrüßen,<br />

an einer technischen Universität<br />

lehren zu können.“ Höllerer gründete<br />

ein „Institut für Sprache im technischen<br />

Zeitalter“ <strong>und</strong> wenig später eine<br />

Zeitschrift gleichen Namens.<br />

Eine Schlüsselrolle bei diesen Namensgebungen<br />

spielte Arnold Gehlens<br />

wenige Jahre zuvor publizierte<br />

Schrift Die Seele im technischen Zeitalter<br />

– ein Essay nicht nur über die<br />

„sozialpsychologischen Probleme in<br />

der industriellen Gesellschaft“, sondern<br />

zugleich ein kritisches Porträt<br />

der noch jungen B<strong>und</strong>esrepublik. Bewusst<br />

vermied Gehlen eine in<br />

Deutschland in langer kulturkritischer<br />

Tradition gewachsene, „gegen<br />

die Technik gerichtete polemische<br />

Tönung“; die Technik wurde wie<br />

selbstverständlich zum Gegenstand<br />

der Humanwissenschaften. Folgerichtig<br />

war bei Höllerer keine Rede<br />

von „Interdisziplinarität“ – dieser<br />

stets ebenso erfolgreichen wie meist<br />

folgenlosen Suche nach dem kleinsten<br />

gemeinsamen Nenner. Er forderte<br />

auch keinen „Dialog“ zwischen<br />

Geisteswissenschaften auf der einen,<br />

Natur- <strong>und</strong> Technikwissenschaften<br />

auf der anderen Seite. Für die Geisteswissenschaften<br />

ging es darum,<br />

sich im Milieu einer Technischen<br />

Universität neu zu disziplinieren. In<br />

dieser Haltung, aus der sich eine erfolgreiche<br />

Strategie der Selbstbehauptung<br />

entwickelte, liegt eine exemplarische<br />

Bedeutung.<br />

In fremder Umgebung gelangten<br />

die Geisteswissenschaften zu überraschenden<br />

Einsichten. Es ist wie in der<br />

B<strong>und</strong>esliga: Ordentliche Heimmannschaften<br />

sind die Regel <strong>und</strong> ein bisschen<br />

langweilig; Außerordentliches<br />

bieten Auswärtsmannschaften, die<br />

sich auf fremdem Platz <strong>und</strong> gegen ein<br />

skeptisches bis feindseliges Publikum<br />

behaupten, das ihnen am Ende Beifall<br />

spendet. Höllerer liebte das Konterspiel:<br />

An einer Technischen Universität<br />

ein Symposium über die Literaturkritik<br />

in Deutschland zu veranstalten,<br />

erschien ihm weder abwegig<br />

noch absurd: „Die analytisch-empirische<br />

Betrachtungsweise benachbarter<br />

technischer Wissenschaften<br />

kann für die sprachkritische Methode<br />

förderlich sein“, lautete die taktische<br />

Anweisung an seine Mitspieler.<br />

In einem Klima intellektueller Nüchternheit<br />

entwickelte der Libero Höllerer<br />

einen unvergleichlichen Enthusiasmus.<br />

Aus der Außenseiterposition<br />

entwickelte die Zeitschrift „Sprache<br />

im technischen Zeitalter“ Mut<br />

zum antizyklischen Verhalten: Druckten<br />

andere Primärliteratur, fanden<br />

sich in Höllerers Zeitschrift Essays<br />

<strong>und</strong> Reflexionen – verdrängten in der<br />

Szene literarische Theorien die Texte,<br />

kehrte „Sprache im technischen<br />

Zeitalter“ zur Primärliteratur zurück.<br />

Als das „Institut für Sprache im<br />

technischen Zeitalter“ gegründet<br />

wurde, gab es in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

noch kein Farbfernsehen <strong>und</strong> keinen<br />

Videorecorder <strong>und</strong> kein ZDF; zum<br />

ersten Mal wurde eine Theorie zur<br />

Datenbündelung <strong>und</strong> Datenkompression<br />

formuliert – die entscheidende<br />

Voraussetzung für die Entwicklung<br />

des Internet. Die Seele im technischen<br />

Zeitalter? Das klingt fünfzig<br />

Jahre später zopfig, wie Biedermeier.<br />

Und doch ist die Erinnerung an die<br />

große Zeit der Geisteswissenschaften<br />

in einer Technischen Universität kein<br />

Ausdruck der Nostalgie. Sie ist Kritik<br />

an einer Institution, die durch ihre intellektuelle<br />

Magersucht Erkenntnis<strong>und</strong><br />

damit Zukunftschancen verspielt.<br />

Heute wäre über die Seele im Zeitalter<br />

des Internet nachzudenken,<br />

über den Menschen in der Ära von<br />

Google, von Web 2.0 <strong>und</strong> Second Life<br />

– der virtuellen 3D-Welt, in welcher<br />

wir uns eine alternative Existenz aufbauen<br />

können. Es ist höchste Zeit,<br />

den Ort der Geisteswissenschaften in<br />

Technischen Universitäten neu zu<br />

bestimmen; unzeitgemäß ist es, sie<br />

dort vom Platz zu stellen.<br />

Die alte Dame<br />

Geisteswissenschaft<br />

In einem berühmten Aufsatz aus dem<br />

Jahr 1957 fragte der Soziologe Helmut<br />

Schelsky: „Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?“<br />

Für die Geisteswissenschaften<br />

kann die Frage beantwortet<br />

werden: „Ja“. Immer wird es<br />

hier mehr Manifeste geben als Meisterwerke.<br />

Das Bild bleibt widersprüchlich.<br />

In Deutschland versucht die Stiftungsinitiative<br />

Pro Geisteswissenschaften,<br />

in stärkerem Umfang als<br />

bisher ein knappes Gut bereitzustellen:<br />

Zeit. Mit Blick auf das Ausland<br />

kann es scheinen, als werde – punktuell<br />

jedenfalls – das Füllhorn über<br />

die Humanities ausgeschüttet. Von<br />

der Balzan- über die norwegische<br />

Holbergstiftung bis zur amerikanischen<br />

Library of Congress sowie den<br />

Mellon- <strong>und</strong> MacArthur-Stiftungen –<br />

von den japanischen Stiftungen ganz<br />

zu schweigen – werden Preise für<br />

Geisteswissenschaftler ausgelobt, die<br />

zum Teil höher dotiert sind als der<br />

Nobelpreis. Eine Internationale des<br />

schlechten Gewissens hat sich gebildet;<br />

gegenüber im Vergleich mit der<br />

Medizin <strong>und</strong> den Naturwissenschaften<br />

lange Zeit vernachlässigten Fächergruppen<br />

wird Wiedergutmachung<br />

geübt.<br />

In Deutschland darf man sich<br />

nicht davon täuschen lassen, dass<br />

Akademien, deren Interesse bisher<br />

nicht ohne eine Spur von Hochmut<br />

nur den Natur- <strong>und</strong> Technikwissenschaften<br />

galt, auf einmal Mitglieder<br />

aus den Geistes- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften<br />

berufen. Kommt darin ein<br />

frischgewonnener Familiensinn gegenüber<br />

den lange Zeit vernachlässigten,<br />

armen Verwandten zum Ausdruck?<br />

Oder ist es nur eine Vorsichtsmaßnahme,<br />

damit man im Rennen<br />

um den Titel einer Nationalakademie<br />

nicht vorzeitig auf der Strecke bleibt?<br />

Dass Geisteswissenschaftler von Nutzen<br />

sein können, wenn es darum<br />

geht, Probleme <strong>und</strong> Ergebnisse der<br />

Natur- <strong>und</strong> Technikwissenschaften<br />

einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln,<br />

hat sich im PR-Zeitalter<br />

mittlerweile herumgesprochen. Zu<br />

Illusionen wird das die Geisteswissenschaftler<br />

nicht verleiten. Vielen<br />

Vertretern der so genannten „harten<br />

Fächer“ gelten sie immer noch als so<br />

nützlich wie der Mann, von dem der<br />

Physiker Lichtenberg sagte, er sei<br />

kein großes Licht, wohl aber ein guter<br />

Leuchter für anderer Leute Meinungen.<br />

Paradoxer Weise sind <strong>und</strong> bleiben<br />

die preiswerten Geisteswissenschaften<br />

die bevorzugten Kürzungs- <strong>und</strong><br />

Kündigungskandidaten in den längst<br />

krankgesparten Universitäten. Am<br />

bedrohlichsten aber ist das Verschwinden<br />

ganzer Disziplinen. Auch<br />

wenn wir von den Biologen gelernt<br />

haben, dass zum Erhalt der Artenvielfalt<br />

keine Maximierungs-, sondern<br />

eine Optimierungsstrategie notwendig<br />

ist: Analog zum Artenschutz- benötigen<br />

wir längst ein Fächerschutzabkommen.<br />

Es steht zu befürchten,<br />

dass der so genannte „Bologna-Prozess“,<br />

der in das deutsche Universitätssystem<br />

Bachelor- <strong>und</strong> Masterstudiengänge<br />

hineinzwingt, für manch<br />

ein so genanntes „kleines Fach“ mit<br />

dem Todesurteil enden wird.<br />

In Deutschland droht heute die<br />

Reduzierung unserer Bildungsinhalte<br />

durch ihre Provinzialisierung. Daher<br />

ist es von besonderer Bedeutung,<br />

dass der Wissenschaftsrat gleichzeitig<br />

mit seinen Empfehlungen zur Förderung<br />

der Geisteswissenschaften<br />

auch Vorschläge zur konzentrierten<br />

Förderung der Regionalwissenschaften<br />

gemacht hat. Was wir dringend<br />

benötigen, ist eine Stärkung unserer<br />

Fremd- <strong>und</strong> Fernkompetenz. Die<br />

Geisteswissenschaften sind ein wichtiges<br />

Feld, auf dem diese Kompetenz<br />

erworben wird.<br />

Im Zeitalter der Wanderungen,<br />

des <strong>Kultur</strong>enwechsels <strong>und</strong> hoher Mobilitätsansprüche<br />

an den Einzelnen<br />

helfen die Geisteswissenschaften,<br />

sich in unterschiedlichen Milieus <strong>und</strong><br />

Lebenswelten zurechtzufinden. Sie<br />

bieten Verstehens- <strong>und</strong> Übersetzungshilfen<br />

– aber sie erstreben kein<br />

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