oora eBook 42
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Die Kunst des Trauerns | Ende<br />
ben, der Körper würde weitgehend leistungsfähig bleiben, man<br />
würde immer einen Job haben. Und plötzlich erlebt man: Das,<br />
was vermeintlich sicher war, stürzt ein. Nichts ist mehr sicher.<br />
Das verunsichert. Man muss jetzt neue Sicherheit finden.<br />
Erstmal sortieren<br />
Hier hilft es, das Trauern bewusst als Sortieren zu begreifen.<br />
Wer trauert, kann und muss neu sortieren: Was hat in meinem<br />
Leben Bestand? Was nicht? Oder auch: Was bleibt von diesem<br />
Lebensabschnitt? Was muss ich für immer loslassen?<br />
Mir hat es in einer Trauerphase geholfen, mich ganz bewusst<br />
von Hunderten kleinen Dingen einzeln zu verabschieden, die<br />
nun nicht mehr möglich waren. Ich habe Gott für jedes Einzelne<br />
gedankt. Und dann gesagt, dass ich akzeptiere, dass es nun<br />
nicht mehr ist. Akzeptieren heißt nicht »gut finden«. Es heißt<br />
lediglich »annehmen«. Ich nehme an, dass es ist, wie es ist. Ich<br />
kämpfe nicht mehr dagegen an. Das kann insbesondere dann<br />
hilfreich sein, wenn Selbstanklage im Spiel ist und man sich ausmalt,<br />
dass der Verlust vielleicht hätte vermieden werden können,<br />
hätte man nur dieses oder jenes getan. Damit kann man Tage,<br />
Wochen, Monate und Jahre verbringen. Oder zum Annehmen<br />
finden. Und sagen: Es war, wie es war. Und ich gehe jetzt weiter.<br />
Im Trauern entdeckt man, was Bestand hat. Was trotz allem<br />
bleibt. Manche Menschen, Beziehungen, eigene Stärken, Erfahrungen,<br />
Schätze, Erinnerungen an schöne Zeiten und gelebtes<br />
Leben. Das kann – nach einer Phase, in der man den Blick nach<br />
hinten richtet – wieder Kraft für das geben, was vor einem liegt.<br />
Mit dem Verlust ist nicht alles vorbei.<br />
Ins Leben zurückkehren<br />
Ich habe einem Freund nach dem Krebstod seiner Frau geschrieben,<br />
dass ich ihm wünsche, dass er gut trauern kann, aber dann<br />
auch wieder ins Leben zurückkehrt. »Es ist schlimm genug, dass<br />
der Krebs ihr Leben zerstört hat. Es wäre noch schlimmer, wenn<br />
er jetzt auch deines zerstören würde.« Ich wagte es, ihm folgenden<br />
Satz zu schreiben: »Ein gutes Leben ist die beste Rache.« Einige<br />
Zeit später schrieb er mir, dass er eine neue Partnerin gefunden<br />
hat und wieder heiraten wird – und dass ihn dieser Satz<br />
ermutigt hat, nicht in der Vergangenheit und dem Verlust stecken<br />
zu bleiben, sondern die neuen Möglichkeiten zu sehen. Er<br />
hat sich für den Verlust »gerächt«, indem er neu begann und das<br />
Beste aus der Situation machte.<br />
Anderen helfen<br />
Wer Menschen unterstützen will, die gerade einen Verlust betrauern,<br />
tut gut daran, zu wissen, dass Trauer in verschiedenen<br />
Phasen kommt. 1 In der Anfangsphase ist man oft nur geschockt.<br />
Man leugnet, was geschehen ist. »Das kann doch nicht wahr<br />
sein.« Man ist geschockt, erstarrt, hält alles für einen bösen<br />
Traum. In dieser Phase braucht man vor allem praktische Unterstützung.<br />
Man ist wie gelähmt, und es tut gut, wenn Menschen<br />
da sind und helfen, indem sie Essen kochen, Einkäufe erledigen,<br />
praktische Aufgaben übernehmen.<br />
Löst sich die Starre, kommen in einer zweiten Phase die Emotionen<br />
hoch: Angst, Wut, Zorn, Unruhe. Auch Anklage gegen die<br />
vermeintlich Schuldigen: den früheren Partner, die Ärzte, Gott,<br />
das Leben selbst. Hier ist Beschwichtigen fehl am Platz. Auch<br />
Erklärungen sind wenig hilfreich, selbst wenn sie inhaltlich<br />
stimmen, wie beispielsweise »Gott meint es trotz allem gut mit<br />
dir.« Was wirklich hilft, ist, dem Trauernden Raum zu geben,<br />
seine Gefühle ungeschminkt zu äußern. Man kann ihn unterstützen,<br />
indem man Resonanz gibt: »Du fühlst dich gerade so<br />
und so.« oder »Es klingt, als ob du gerade …«<br />
In der dritten Trauerphase versucht man, das Verlorengegangene<br />
irgendwie wiederzufinden. Man hält innerlich Zwiesprache,<br />
träumt, phantasiert. In dieser Phase kommt häufig auch nicht<br />
Gelöstes an die Oberfläche »Ich wünschte, ich hätte ihm das<br />
noch gesagt.« In dieser Phase kann es hilfreich sein, nachzufragen:<br />
»Welche Erinnerungen sind denn besonders schön? Was<br />
kannst oder möchtest du aus dieser Phase behalten?«<br />
In der vierten Phase hat man den Verlust schließlich akzeptiert<br />
und entdeckt neue Lebensmöglichkeiten. Wenn man<br />
ahnt, dass der andere sich wieder dem Leben zuwenden möchte,<br />
kann man ihn einladen – zu Aktivitäten und gemeinsamen<br />
Unternehmungen.<br />
Das, was hier so ordentlich klingt, ist im echten Leben ein weitaus<br />
größeres Chaos. Menschen, die trauern, durchlaufen diese<br />
Phasen in der einen oder anderen Form. Doch nicht immer geradlinig<br />
und chronologisch, sondern häufig mit Sprüngen hin<br />
und her. Wer Trauernde begleitet, darf sich auf Überraschungen<br />
gefasst machen. Mal ist Akzeptanz und Gelassenheit spürbar,<br />
dann wieder wütendes Aufbegehren. Manchmal im Minutentakt<br />
wechselnd.<br />
Wer sich darauf einlässt, einem Menschen hierbei zur Seite zu<br />
stehen und sensibel auf die jeweilige Phase zu reagieren, kann<br />
dabei Schätze entdecken. Denn jedes geteilte Leben ist wunderbar<br />
und hat seine eigene Schönheit. Das macht ja auch den Verlust<br />
oft so hart. Doch in der Trauer mit dem anderen zu entdecken,<br />
was von dieser Phase behalten werden kann – und was<br />
jetzt immer noch möglich ist, eröffnet wunderbare Möglichkeiten<br />
des Mitleidens, Mitliebens und Mitlebens. ///<br />
Fußnote:<br />
1 Nach der Trauerforscherin Verena Kast – sehr verkürzt – dargestellt. Ausführlicher zu finden unter<br />
de.wikipedia.org/wiki/Trauer#Trauerprozess_in_vier_Phasen_nach_Kast<br />
Kerstin Hack (44) ist Berlinerin, liebt das Leben, Schoko- und echte Küsse,<br />
Liegeräder, Fotografie und Go-Kart-Fahren. Die ist Verlegerin des »Down to Earth<br />
Verlages«, der auf kompakte Lebenshilfe spezialisiert ist. Sie bloggt unter<br />
www.kerstinpur.de<br />
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