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Die Kunst des Trauerns | Ende<br />

ben, der Körper würde weitgehend leistungsfähig bleiben, man<br />

würde immer einen Job haben. Und plötzlich erlebt man: Das,<br />

was vermeintlich sicher war, stürzt ein. Nichts ist mehr sicher.<br />

Das verunsichert. Man muss jetzt neue Sicherheit finden.<br />

Erstmal sortieren<br />

Hier hilft es, das Trauern bewusst als Sortieren zu begreifen.<br />

Wer trauert, kann und muss neu sortieren: Was hat in meinem<br />

Leben Bestand? Was nicht? Oder auch: Was bleibt von diesem<br />

Lebensabschnitt? Was muss ich für immer loslassen?<br />

Mir hat es in einer Trauerphase geholfen, mich ganz bewusst<br />

von Hunderten kleinen Dingen einzeln zu verabschieden, die<br />

nun nicht mehr möglich waren. Ich habe Gott für jedes Einzelne<br />

gedankt. Und dann gesagt, dass ich akzeptiere, dass es nun<br />

nicht mehr ist. Akzeptieren heißt nicht »gut finden«. Es heißt<br />

lediglich »annehmen«. Ich nehme an, dass es ist, wie es ist. Ich<br />

kämpfe nicht mehr dagegen an. Das kann insbesondere dann<br />

hilfreich sein, wenn Selbstanklage im Spiel ist und man sich ausmalt,<br />

dass der Verlust vielleicht hätte vermieden werden können,<br />

hätte man nur dieses oder jenes getan. Damit kann man Tage,<br />

Wochen, Monate und Jahre verbringen. Oder zum Annehmen<br />

finden. Und sagen: Es war, wie es war. Und ich gehe jetzt weiter.<br />

Im Trauern entdeckt man, was Bestand hat. Was trotz allem<br />

bleibt. Manche Menschen, Beziehungen, eigene Stärken, Erfahrungen,<br />

Schätze, Erinnerungen an schöne Zeiten und gelebtes<br />

Leben. Das kann – nach einer Phase, in der man den Blick nach<br />

hinten richtet – wieder Kraft für das geben, was vor einem liegt.<br />

Mit dem Verlust ist nicht alles vorbei.<br />

Ins Leben zurückkehren<br />

Ich habe einem Freund nach dem Krebstod seiner Frau geschrieben,<br />

dass ich ihm wünsche, dass er gut trauern kann, aber dann<br />

auch wieder ins Leben zurückkehrt. »Es ist schlimm genug, dass<br />

der Krebs ihr Leben zerstört hat. Es wäre noch schlimmer, wenn<br />

er jetzt auch deines zerstören würde.« Ich wagte es, ihm folgenden<br />

Satz zu schreiben: »Ein gutes Leben ist die beste Rache.« Einige<br />

Zeit später schrieb er mir, dass er eine neue Partnerin gefunden<br />

hat und wieder heiraten wird – und dass ihn dieser Satz<br />

ermutigt hat, nicht in der Vergangenheit und dem Verlust stecken<br />

zu bleiben, sondern die neuen Möglichkeiten zu sehen. Er<br />

hat sich für den Verlust »gerächt«, indem er neu begann und das<br />

Beste aus der Situation machte.<br />

Anderen helfen<br />

Wer Menschen unterstützen will, die gerade einen Verlust betrauern,<br />

tut gut daran, zu wissen, dass Trauer in verschiedenen<br />

Phasen kommt. 1 In der Anfangsphase ist man oft nur geschockt.<br />

Man leugnet, was geschehen ist. »Das kann doch nicht wahr<br />

sein.« Man ist geschockt, erstarrt, hält alles für einen bösen<br />

Traum. In dieser Phase braucht man vor allem praktische Unterstützung.<br />

Man ist wie gelähmt, und es tut gut, wenn Menschen<br />

da sind und helfen, indem sie Essen kochen, Einkäufe erledigen,<br />

praktische Aufgaben übernehmen.<br />

Löst sich die Starre, kommen in einer zweiten Phase die Emotionen<br />

hoch: Angst, Wut, Zorn, Unruhe. Auch Anklage gegen die<br />

vermeintlich Schuldigen: den früheren Partner, die Ärzte, Gott,<br />

das Leben selbst. Hier ist Beschwichtigen fehl am Platz. Auch<br />

Erklärungen sind wenig hilfreich, selbst wenn sie inhaltlich<br />

stimmen, wie beispielsweise »Gott meint es trotz allem gut mit<br />

dir.« Was wirklich hilft, ist, dem Trauernden Raum zu geben,<br />

seine Gefühle ungeschminkt zu äußern. Man kann ihn unterstützen,<br />

indem man Resonanz gibt: »Du fühlst dich gerade so<br />

und so.« oder »Es klingt, als ob du gerade …«<br />

In der dritten Trauerphase versucht man, das Verlorengegangene<br />

irgendwie wiederzufinden. Man hält innerlich Zwiesprache,<br />

träumt, phantasiert. In dieser Phase kommt häufig auch nicht<br />

Gelöstes an die Oberfläche »Ich wünschte, ich hätte ihm das<br />

noch gesagt.« In dieser Phase kann es hilfreich sein, nachzufragen:<br />

»Welche Erinnerungen sind denn besonders schön? Was<br />

kannst oder möchtest du aus dieser Phase behalten?«<br />

In der vierten Phase hat man den Verlust schließlich akzeptiert<br />

und entdeckt neue Lebensmöglichkeiten. Wenn man<br />

ahnt, dass der andere sich wieder dem Leben zuwenden möchte,<br />

kann man ihn einladen – zu Aktivitäten und gemeinsamen<br />

Unternehmungen.<br />

Das, was hier so ordentlich klingt, ist im echten Leben ein weitaus<br />

größeres Chaos. Menschen, die trauern, durchlaufen diese<br />

Phasen in der einen oder anderen Form. Doch nicht immer geradlinig<br />

und chronologisch, sondern häufig mit Sprüngen hin<br />

und her. Wer Trauernde begleitet, darf sich auf Überraschungen<br />

gefasst machen. Mal ist Akzeptanz und Gelassenheit spürbar,<br />

dann wieder wütendes Aufbegehren. Manchmal im Minutentakt<br />

wechselnd.<br />

Wer sich darauf einlässt, einem Menschen hierbei zur Seite zu<br />

stehen und sensibel auf die jeweilige Phase zu reagieren, kann<br />

dabei Schätze entdecken. Denn jedes geteilte Leben ist wunderbar<br />

und hat seine eigene Schönheit. Das macht ja auch den Verlust<br />

oft so hart. Doch in der Trauer mit dem anderen zu entdecken,<br />

was von dieser Phase behalten werden kann – und was<br />

jetzt immer noch möglich ist, eröffnet wunderbare Möglichkeiten<br />

des Mitleidens, Mitliebens und Mitlebens. ///<br />

Fußnote:<br />

1 Nach der Trauerforscherin Verena Kast – sehr verkürzt – dargestellt. Ausführlicher zu finden unter<br />

de.wikipedia.org/wiki/Trauer#Trauerprozess_in_vier_Phasen_nach_Kast<br />

Kerstin Hack (44) ist Berlinerin, liebt das Leben, Schoko- und echte Küsse,<br />

Liegeräder, Fotografie und Go-Kart-Fahren. Die ist Verlegerin des »Down to Earth<br />

Verlages«, der auf kompakte Lebenshilfe spezialisiert ist. Sie bloggt unter<br />

www.kerstinpur.de<br />

<strong>oora</strong>.de 23

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