Saisonvorschau 2010/11 - Schauspielhaus Zürich
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„Sind die Tore verriegelt?“*<br />
Der Autor Thomas Jonigk über Deutschsein und In-der-Schweiz-Sein<br />
Als die Berliner Mauer fiel, war ich in den USA. Vor<br />
mir der Bildschirm eines alten Miniaturfernsehers.<br />
Darauf zu sehen: jubelnde Menschen. Man sank<br />
(Fussballfans nicht unähnlich) in fremde Arme, Tränen<br />
der Freude und der Erleichterung wurden geweint und<br />
Begrüssungsbananen kistenweise verteilt. Die<br />
Gesichter der Menschen waren grell gefärbt und ihre<br />
Stimmen schrill (historisch nicht verbürgt, eher auf die<br />
schlechte Qualität des Fernsehers zurückzuführen):<br />
Das Volk vereinigte und feierte sich.<br />
Ich war versteinert. Nein: panisch. Vor meinem<br />
inneren Auge erstand ein vereinigtes<br />
Grossdeutschland, das ich mit Machtmissbrauch,<br />
Weltherrschaft, Ausgrenzung, Vernichtung und<br />
Konzentrationslagern in Verbindung brachte. Das<br />
Deutschland der Gegenwart war für mich die BRD, die<br />
DDR hatte mit mir nichts zu tun. Die Zusammenführung<br />
dieser beiden Länder konnte nur die Wiederkehr des<br />
Immergleichen bedeuten: der Nazi-Zeit. Das war es,<br />
was bis dahin meine Identität als Deutscher<br />
ausgemacht hatte: Kam ich nach Israel, war ich<br />
schuldig am gewaltsamen Todvon sechs Millionen<br />
Juden. Was man mir auch immer wieder zu verstehen<br />
gab (und ich selbst genauso sah). Kam ich nach<br />
Ägypten, gratulierte man mir zu genau diesen sechs<br />
Millionen Toten („Das habt ihr Deutschen gut<br />
gemacht!“) oder bat mich flehentlich um Fotografien<br />
von Adolf Hitler, die ich (hoffentlich unnötig zu<br />
erwähnen) nicht dabei hatte (und sah mich<br />
verständnislos bis gelangweilt an, wenn ich zu einem<br />
empörten Aufklärungsmonolog anhub). Kam ich in die<br />
USA, dachte man entweder, Berlin sei eine Insel und<br />
Bertolt Brecht ein Gegenwartsautor (was ein anderes<br />
Thema ist) oder aber man provozierte mich mit der<br />
Unterstellung, ich hätte doch als Deutscher sicher ein<br />
Exemplar von „Mein Kampf“ auf dem Nachttisch<br />
liegen (weil ich gewagt hatte, etwas Kritisches in<br />
Bezug auf die USA zusagen). Nicht alle Amerikaner<br />
waren so: Manchmal wurde man aufgrund der<br />
Tatsache, Deutscher zu sein, besonders freundlich<br />
behandelt (so geschehen bei einer Freundin, die als<br />
Austauschschülerin nach Texas kam und von ihrer<br />
Gastfamilie am Flughafen mit dem Hitlergruss<br />
empfangen wurde. Man hatte sich extra informiert,<br />
dass das bei uns so Sitte sei.). Kam ich nach Holland<br />
und setzte mich in ein Café, konnte es passieren,<br />
dass die freundliche ältere Dame mit praktischer<br />
Kurzhaarfrisur und regenabweisendem Rucksack<br />
angewidert aufstand und Abstand von mir nahm, weil<br />
ich unvorsichtigerweise meine Nationalität geäussert<br />
hatte.<br />
Ausnahmen. Natürlich. Aber Ausnahmen bestätigen<br />
die Regel. Deutscher zu sein war für mich nicht<br />
einfach. Ich wäre für deutschsprachige Kleinstaaten<br />
(nach dem Vorbild der Fürstentümer) gewesen, um<br />
eine gefährliche Wiedererstarkung Deutschlands von<br />
vornherein zu unterbinden, aber die Geschichte hat<br />
mich nicht unterstützt: Gegen meinen Willen wuchs<br />
zusammen, was angeblich zusammen gehört.<br />
Ich begann zu schreiben, meine als persönlich<br />
empfundene Schuld zu verarbeiten und als<br />
historisches Erbe zu begreifen, für das es kollektiv<br />
Verantwortung zu übernehmen gilt. Eine Befreiung.<br />
Ich zog nach Österreich und musste lernen, dass Hitler<br />
deutsch und die deutsche Wehrmacht 1938 gegen den<br />
Willen der widerständischen, österreichischen<br />
Bevölkerung einmarschiert war. Die auf Photos und<br />
Filmen dokumentierten jubelnden österreichischen<br />
Massen entsprachen nicht den historischen<br />
Tatsachen, die man in Wien auch um das Jahr 2000<br />
herum in Richtung Deutschland verdrehte. Und obwohl<br />
die Parteienlage inÖsterreich (Haider), Frankreich (Le<br />
Pen) oder Italien (Berlusconi) extrem problematisch<br />
(weil rechtsextrem) war und der Demokratiebegriff<br />
gedehnt wurde, galt Deutschland als zeitübergreifende<br />
Gefahr: abonniert auf Rechtsradikalismus.<br />
Faschismus. Ich wurde wütend. Auf alle. Aber vor<br />
allem auf mich. Ich begann, mitfühlender auf mein<br />
Geburtsland zu blicken, in dem man sich immerhin um<br />
Aufarbeitung bemühte, anders als beispielsweise in<br />
Österreich, wo man den Deutschen aus all den<br />
falschen Gründen skeptisch gegenüber steht: weil sie<br />
grösser, einflussreicher und mächtiger waren. Und<br />
mehr Schlagzeilen gemacht hatten.<br />
Erkenntnisse. Einsichten. Dennoch fühlte ich mich<br />
fortwährend schuldig und verantwortlich. Ich fragte<br />
mich, weshalb Deutsche die einzigen waren, die sich<br />
bei einer Fussball-Weltmeisterschaft wünschten, ihr<br />
eigenes Team möge nur ja nicht gewinnen. Weshalb<br />
bekam ich Angstzustände, wenn Deutsche ihre Flagge<br />
schwenkten oder in den Vorgarten hängten? Damit<br />
keine Missverständnisse aufkommen: Ich plädiere<br />
nicht für Nationalgefühl. Ich plädiere für eine<br />
Selbstverständlichkeit und grundsätzliche Möglichkeit<br />
des individuellen Seins. Und verordnete Schuld oder<br />
Scham für die eigene Herkunft (national, sozial oder<br />
familiär) macht unglücklich und ist gefährlich. Ich<br />
beschloss, mich nicht mehr schuldig zu fühlen. Statt<br />
als Deutscher bezeichnete ich mich als Schriftsteller,<br />
Homosexueller, Aussenseiter oder was auch immer.<br />
Deutsch zu sein verlor seine Bedeutung, nachdem ich<br />
mir selbst gestattet hatte, es zu sein.<br />
Bis ich in die Schweiz kam. Viele wunderbare<br />
Schweizer, die ich im letzten Jahr kennengelernt habe,<br />
bekräftigten mir gleich beim ersten Treffen<br />
(unmittelbar nach dem ersten Händeschütteln), sie<br />
hätten kein Problem mit Deutschen und bestätigten<br />
damit vor allem eines: „deutsch“ ist inder Schweiz<br />
ein Reizwort. Plötzlich finde ich mich wieder<br />
identifiziert mit einer Zuordnung, die ich glaubte,<br />
hinter mir gelassen zu haben: deutsch. Was auch<br />
immer das heisst. „Schweizer sein, heisst nicht<br />
Deutscher zu sein.“, erfahre ich beispielsweise in einer<br />
Talkrunde des Schweizer Fernsehens, auf Plakaten<br />
lese ich von „ausländischer Arroganz“ (wobei<br />
ausländisch mit deutsch gleichzusetzen ist) und<br />
„deutschem Filz“ (und bin auf fatale, verkehrte Weise<br />
wieder an die Nazi-Zeit gemahnt bzw. anVokabeln,<br />
die damals üblich waren). Und selbst aufgeklärte,<br />
liberale Köpfe bitten mich vorsichtig, Verständnis für<br />
hiesige Ängste und Stigmatisierungen zu haben, denn<br />
immerhin „sei Deutschland doch sehr gross.“ Dazu<br />
kann ich nur eins sagen: Gross ist keine Kategorie.<br />
Man fühlt sich nämlich trotzdem klein. Und noch eins:<br />
Ich bleibe erstmal hier (und zwar nicht nur, weil man<br />
mir von Amtsseite aus eine fünfjährige Arbeits- und<br />
Aufenthaltserlaubnis erteilt hat). Ich bleibe als<br />
Schriftsteller, Dramaturg, Regisseur, Privatmensch,<br />
Tramfahrer, Cumulus-Karteninhaber, Steuerzahler<br />
(nicht Hinterzieher!), als Hochdeutsch sprechender<br />
und Schwitzerdütsch immer besser verstehender<br />
Ausländer. Und damit lässt essich (als Deutscher und<br />
als Schweizer) schampar guet leben.<br />
*aus: Euripides, „Die Phönizierinnen“<br />
„Stiller“ —abNovember im Schiffbau/Box<br />
„Geri“ —abDezember im Pfauen<br />
„Biokraphia“ —abJanuar im Pfauen/Kammer<br />
„Täter“ —abMai im Schiffbau/Box