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Saisonvorschau 2010/11 - Schauspielhaus Zürich

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„Was heisst hier Heimat?“*<br />

„Wie soll ich mich in diesem Falle fassen?“*<br />

Der Autor Lukas Bärfuss in Betrachtung der Schweizer Natur<br />

Der Theatermacher René Pollesch über Sprache und Berührung<br />

Erinnerte mich neulich an eine Begegnung in Maroua,<br />

einer Wüstenstadt im Norden Kameruns, an der<br />

Grenze zum Tschad. In der Mittagszeit, im Zedernhain<br />

am Rande der Hauptstrasse, wohin sich die halbe<br />

Stadt vor der Hitze geflüchtet hatte, traf ich einen<br />

jungen Mann, einen Grundschullehrer, den ich zuerst<br />

für einen fliegenden Händler hielt und abzuwimmeln<br />

versuchte. Er aber wollte mir nichts verkaufen,<br />

sondern wissen, woher ich komme. Und ich erklärte<br />

in wenigen Worten die Schweiz, die Staatsform, das<br />

Klima, die Jahreszeiten, die vier Landessprachen, die<br />

Geschichte, den Reichtum –und obwohl ich meine<br />

Ausführungen knapp hielt, schien der Mann ungeduldig<br />

zu werden, und als ich mit meinem Abriss schliesslich<br />

zu Ende war, stellte er mir die Frage, um die sich<br />

seiner Ansicht nach alles drehte: Et alors, vous étiez<br />

colonisés par qui?<br />

Natürlich lachte ich über seine Einfältigkeit, wandte<br />

mich ab und beeilte mich, die knappe Zeit zu nutzen<br />

und die Hossère zu besteigen, den Hügel am Rande<br />

der Stadt. Und wie ich hinanstieg, beäugt von<br />

Kindern, die nicht verstanden, weshalb man freiwillig<br />

auf Berge klettert, da ging mir auf, wie berechtigt<br />

seine Frage war. Wer hat mir beigebracht, von Bergen<br />

sei mehr zu erfahren als von Menschen? Vielleicht<br />

waren mein Misstrauen und die Bevorzugung der<br />

Natur die Übernahme eines kolonialen Denkens?<br />

Der Urtourist Johann Wolfgang von Goethe beschreibt<br />

in den Briefen seiner Schweizreise aus dem Jahre<br />

1779 akribisch die geologischen, botanischen<br />

Gegebenheiten der Alpen. Über viele Seiten hinweg<br />

gibt er die Wege wieder, die Felsenschlünde, die<br />

Bewaldung, das Wetter, eine höchst detaillierte<br />

Beschreibung jener Gegend –und dann, am neunten<br />

November 1779, in Leukerbad, ganz unvermittelt dies:<br />

„Ich bemerke, dass ich in meinem Schreiben der<br />

Menschen wenig erwähne, sie sind auch unter diesen<br />

grossen Gegenständen der Natur, besonders im<br />

Vorbeigehen, minder merkwürdig.“ Einen Tagspäter,<br />

in Leuk, betritt er dann doch ein Haus. Aber: „Wie<br />

man auch nur hereintritt, so ekelts einem, denn es ist<br />

überall unsauber; Mangel und ängstlicher Erwerb<br />

dieser privilegierten und freien Bewohner kommt<br />

überall zum Vorschein.“<br />

Knapp vierzig Jahre später folgt ihm die junge Mary<br />

Shelley. Die Idee zu Frankenstein soll ihr bekanntlich<br />

in Genf zugefallen sein und man müsste einmal<br />

untersuchen, wie stark die autochthone Bevölkerung<br />

als Vorbild für ihr Monster diente. Aber das ist eine<br />

andere Geschichte. Wie Goethe ergeht sich Mary<br />

Shelley inden Naturbeschreibungen und wie bei<br />

Goethe fehlen die Menschen. „Die Schweizer<br />

erschienen uns damals, und die Erfahrung hat uns in<br />

dieser Meinung bestärkt, als ein Volk von langsamer<br />

Auffassungsgabe und Schwerfälligkeit.“ Mehr erwähnt<br />

sie nicht. Wenn einmal Menschen auftauchen, dann<br />

nur als Bedrohung. Über die Passagiere auf einer<br />

Diligence, einem Postboot, schreibt sie: „Für Gott<br />

wärs einfacher, den Menschen neu zu erschaffen, als<br />

diese Monster sauber zu bekommen.“<br />

Es waren nicht nur die Literaten und Touristen, die<br />

dieses spezifische Bild der Schweizer zeichneten. Das<br />

helvetische Direktorium, von Napoleon (unbestreitbar<br />

auch unser Kolonialisator) nach der Abschaffung der<br />

alten Eidgenossenschaft eingesetzt, schreibt an den<br />

französischen Oberkommandierenden, man solle von<br />

Vergeltungen an den aufständischen Innerschweizern<br />

absehen, denn: „Es sind Wilde, die aufzuklären und<br />

der gesellschaftlichen Vervollkommnung näher zu<br />

bringen wir uns zur Aufgabe gemacht haben.“<br />

Vielleicht liegt darin ein Grund für die schweizerische<br />

Verschwindungssucht, die ihren Niederschlag unter<br />

anderem bei Robert Walser findet. Zu Carl Seelig<br />

meinte er einmal, vor der Natur seien wir alle<br />

Stümper. Das Bankgeheimnis, überhaupt die<br />

sprichwörtliche Diskretion der Schweizer, ist vielleicht<br />

nichts anderes als die Einsicht, vor dem Hintergrund<br />

der Naturschönheiten unweigerlich als Wilde<br />

dazustehen. Und vor dieser Tatsache ist esbesser, so<br />

wenig wie möglich aufzufallen. In der Landschaft zu<br />

verschwinden. Vielleicht ist Scham der Grund, der<br />

Europäischen Union nicht beizutreten. Vielleicht aber<br />

auch eine Folge der fortdauernden touristischen<br />

Kränkung. Auch nach Goethe und Shelley hat kein<br />

Tourist jeunser Land besucht, um die Kultur<br />

kennenzulernen. Niemand interessiert sich für<br />

Schweizer Geschichte (am wenigsten wir selber),<br />

Schweizer Küche oder Schweizer Musik. Nein, dieses<br />

Land besucht man auch heute ausschliesslich der<br />

Natur wegen. Sie ist unsere wahre Kultur. Den<br />

Menschen aber, dessen Kultur die Natur ist, nennt<br />

man einen Wilden. Dessen schämen wir uns, wie sich<br />

jeder Knecht für das Bild schämt, das der Herr von<br />

ihm zeichnet. Und wie jeder Knecht fürchten wir, das<br />

Bild könnte die Wahrheit über uns enthalten.<br />

Eine andere Frage wäre –umdie gewöhnliche<br />

wegzukriegen: warum etwas nicht mehr funktioniert<br />

–eine richtige Frage wäre: „Warum hat es jemals<br />

funktioniert?“ Wir können nicht nach einem verloren<br />

gegangenen Rezept oder nach einem verloren<br />

gegangenen Sinn suchen, das Rad muss immer<br />

wieder neu erforscht werden. Wir können uns auf das<br />

Rad nicht verlassen.<br />

Alles, was man uns hinterlassen hat, ist für uns völlig<br />

unverständlich. Jede Quelle. Jeder Text. Das denke ich<br />

gerade bei diesem Dreissiger-Jahre-Farbfilm, bei dem<br />

die Leute sich gegenseitig berühren, als wären sie in<br />

unverständliche Klassiker verwickelt.<br />

Ich muss sehen, dass deine Hände nicht in Gesten<br />

verwickelt sind, sondern in die Erfindung von<br />

Berührungen, in die Erforschung dieser Werkzeuge.<br />

Ich hätte sehen müssen, dass es da nichts zu lesen<br />

gab in deinen Blicken, dass die Augen etwas ganz<br />

anderes machten als irgendwas zu signalisieren. Das<br />

war vielleicht der Schock, weisst dunoch, dieses eine<br />

Mal, als ich das in deinen Augen gesehen habe.<br />

Diesen Blick, der weder Sehen noch eine Geste war.<br />

Und es gab da keinen bekannten Grund mehr, warum<br />

die Augen existieren, als dieses Rätsel an Intensität.<br />

Sie wollen nichts signalisieren, sie wollen nichts<br />

sehen. Aus ihnen sprudelt nur der Verlust oder das<br />

Rätsel an Intensität.<br />

Meine Sprache stirbt jetzt schon aus. Das, was ich<br />

rede, wurde mir klar, kann schon in zwei Stunden<br />

nicht mehr verstanden werden. Die Sprache, die<br />

Sprache, war schon, in äh, einer Zehntel-Sekunde,<br />

ich, er und wir, meine Sprache, ich, er, meine Sprache<br />

weiss schon, die Sprache weiss schon in der<br />

nächsten Zehntel-Sekunde nichts mehr von mir. Sie<br />

wird, sie wird, und ich werde ineine ganz andere<br />

Richtung. Wir müssen das, leider leider leider, alles<br />

neu erfinden. Wir müssen ein, zwei Semester<br />

einschieben an einer unkreativen Universität. In denen<br />

es nur darum geht, schon bereits Erfundenes, bereits<br />

Erforschtes, noch ein Mal zu erforschen. Und so zu<br />

tun, als gäbe es das alles noch nicht. Das Problem<br />

auf einer Bühne ist, man soll sich da als Schauspieler<br />

mit etwas beschäftigen, mit dem man sich gerade<br />

nicht beschäftigt. Don Carlos, zum Beispiel. Wir<br />

brauchen das Abenteuer, sozutun, als gäbe es das<br />

alles noch gar nicht. Die Werkzeuge, wie Arme und<br />

Beine, und wie man die berührt, wie man ihnen<br />

begegnet. Es reicht leider leider leider nicht, dass wir<br />

unsere Knochen ausgraben. Und die Faustkeile und<br />

die Speere, um das hier zum Arm zu machen, das<br />

hier zum Bein. Das liegt leider nicht auf, in, auf der<br />

Hand.<br />

Wir können uns nicht auf den Flirt verlassen, der in<br />

der Luft liegt, als Grundlage einer gelungenen<br />

Kommunikation. Wie viele fette Komiker denken, dass<br />

sie Verführer sind, sie könnten sich auf den Flirt<br />

verlassen, der in der Luft liegt. (Besonders, wenn<br />

sie mit Frauen arbeiten.) Dieses widerliche Zeug,<br />

das dazu taugt, dass nichts gehört werden kann.<br />

Wissen Sie denn, wovon ich rede? Ich rede von dem<br />

diffusen Funkeln in der Luft, das eine Sphäre blinden<br />

Verstehens sein soll, das aber nur blind ist.<br />

*aus: Max Frisch, „Stiller“<br />

„Die Panne“ —abOktober im Pfauen<br />

„Stiller“ —abNovember im Schiffbau/Box<br />

„Weisse Flecken“ —abOktober im Pfauen/Kammer<br />

„Wer hat das Sagen?“ —abOktober im Pfauen<br />

*aus: Heinrich von Kleist, „Das Käthchen von<br />

Heilbronn“<br />

„Fahrende Frauen“ (Arbeitstitel) —abMai im Pfauen

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