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DKV - Chronik des deutschen Karateverbandes

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Eine wahre Lesegeschichte, nicht nur für kleine Karateka<br />

Die Geschichte eines kleinen Jungen,<br />

der auszog, um mit Karate die Welt zu erobern<br />

2001 war das Jahr, in welchem unser Afrim<br />

Latifi in der Hauptstadt von Georgien, in<br />

Tiflis, um die Europameisterschaft der ESKF<br />

kämpfte. Als er zurückkam, erzählte er von<br />

einem Jungen, welcher beim Kämpfen die<br />

Aufmerksamkeit <strong>des</strong> Publikums auf sich<br />

zog.<br />

Damals bemerkte Afrim: Der Junge wurde<br />

nicht nur Jugendeuropameister in Kata und<br />

Kumite. Er kämpfte sogar bei den Senioren<br />

im Team und wurde Vizeeuropameister.<br />

Januar 2003. Afrim trainierte gerade in unserem<br />

Dojo die Oberstufe, als ein junger<br />

Deutsch-Russe mit einem jungen Mann<br />

nach mir fragte. Flüchtig habe ich diesem<br />

einmal vor drei Jahren die Vorteile von<br />

Karate erklärt. Er schien auch interessiert,<br />

allerdings sah ich ihn danach erst wieder an<br />

diesem Januarabend 2003 im Dojo. Sein<br />

Name war Nico. Nico stellte mir einen<br />

damals 17 jährigen Asylanten aus Georgien<br />

vor, der 20 Kilometer entfernt in einem<br />

Asylheim in Engelkirchen untergebracht<br />

war. Dieser suchte eine Möglichkeit zum<br />

Training. Der junge Georgier sprach kein<br />

Deutsch, nur etwas englisch. Ich forderte<br />

ihn auf, Faustschützer anzuziehen, um mit<br />

zu trainieren. Sehr wahrscheinlich war<br />

unser beider englisch nicht so besonders<br />

gut, dass er mich nicht richtig verstand,<br />

denn er streifte sich die Faustschützer über,<br />

stellte sich vor Afrim hin, grüßte ihn kurz an,<br />

um ihn sofort anzugreifen. Afrim war in diesem<br />

Moment genauso perplex wie alle<br />

anderen. Aber er ist nicht umsonst Afrim<br />

Latifi, denn er erkannte sofort die Situation<br />

und nahm den Kampf auf, bei welchem<br />

beide immer härter vorgingen. Als ich<br />

erkannte, dass der Kampf immer mehr eskalierte,<br />

unterbrach ich sofort mit mehrfachen<br />

Yame, in dem ich dazwischen gehen musste,<br />

um beide zu trennen. Der Kampfstil <strong>des</strong><br />

jungen Georgiers war der eines Kickboxers,<br />

ebenso wie der eines Karateka. Aber sein<br />

Mut beeindruckte mich sofort. Später habe<br />

ich erfahren, dass der Junge nicht nur Karate<br />

kämpfte, sondern auch russischer Kickboxmeister<br />

war. Nachdem er einige male zum<br />

Training kam, sprach er Afrim auf Englisch<br />

an: " Ich habe Dich schon einmal gesehen.<br />

Warst Du nicht in Tiflis 2001. Du warst so<br />

stark. So wollte ich auch werden".<br />

Es war der Junge, von dem Afrim mir erzählt<br />

hatte. Am 30.12.1985 wurde in Gagra in der<br />

kaukasischen Republik Abchasien während<br />

der Kriegswirren Abchasiens und Georgiens<br />

ein Junge geboren, den seine Eltern auf den<br />

Namen Nikoloz taufen ließen. Sein Name<br />

Nikoloz Tsurtsumia. Nach der Abspaltung<br />

Abchasiens von Georgien zogen seine<br />

Eltern in die georgische Stadt Sugdidi nahe<br />

dem Schwarzen Meer. Georgien hat eine<br />

jahrtausend alte Kultur und liegt am<br />

Schwarzen Meer unterhalb der Ukraine und<br />

Russland. Im Süden grenzt es an die Türkei<br />

und Armenien. Seine Eltern waren mengrelisch<br />

stämmige Georgier. Der Volksstamm<br />

der Mengrelen lebt in östlichen Teil <strong>des</strong><br />

Kaukasus und ist für seinen Mut, für seine<br />

Gastfreundschaft, für seinen Gerechtigkeitssinn<br />

und für seine Volkskunst berühmt.<br />

30<br />

In Georgien herrschen alte traditionelle<br />

Werte im täglichen Leben vor, was sich<br />

besonders in der Liebe zu Kindern, Respekt<br />

vor Älteren und den eigenen Eltern, einer<br />

ausgeprägten Gastfreundschaft und in der<br />

Loyalität Freunden gegenüber ausdrückt.<br />

Mit 8 Jahren fing Nika mit Karate an. Schon<br />

im Kin<strong>des</strong>alter wollte er seine Eltern<br />

beschützen und für sie Geld verdienen. Mit<br />

dreizehn Jahren entschloss er sich, 300<br />

Kilometer weg nach Tiflis zu ziehen, um hier<br />

Karate weiterzulernen, damit er damit später<br />

seine Eltern unterstützen kann. Seine Eltern<br />

waren dagegen, aber so ist Nika, wenn er<br />

sich etwas in den Kopf gesetzt hat, arbeitet<br />

er zielstrebig an der Erfüllung seiner Träume.<br />

In Tiflis erkannte ein russischer Trainer aus<br />

St. Petersburg bei einem Turnier sein Talent<br />

und lud ihn nach St. Petersburg ein. Von der<br />

Schönheit der Stadt und dem Treiben auf<br />

den Straßen beeindruckt, vergaß Nika die<br />

Zeit, und der Trainer wartete vergebens auf<br />

dem Bahnhof. Total aufgelöst verständigte<br />

dieser die Polizei, und die Polizei die<br />

Radiosender und alle Taxifahrer in der Stadt.<br />

Mittlerweile hatte sich Nika verlaufen. Da<br />

sich seine ganzen Gedankengänge nur um<br />

Karate drehten, sprach er einen wildfremden<br />

Passanten an und erkundigte sich, wo es<br />

sein Dojo gibt. Nika spricht außer<br />

Mengrelisch, Georgisch, Ukrainisch auch<br />

Russisch. Jetzt erlebte Nika wieder diese<br />

glücklichen Zufälle, die auch später sein<br />

Leben im Karate bestimmen sollten. In dieser<br />

Millionenstadt war dieser Passant zufällig<br />

ein Mitglied <strong>des</strong> Dojo`s, in welchem<br />

Nika trainieren wollte. In Russland war Nika<br />

erfolgreich. Hier trainierte er auch Kickboxen.<br />

Außer russischer Jugendmeister im<br />

Karate, wurde er auch russischer Kickboxmeister.<br />

(Während der Europameisterschaft<br />

2004 in Moskau sprachen russische Karateka<br />

unseren Bun<strong>des</strong>trainer Thomas<br />

Nitschmann auf dem Hotelflur auf Englisch<br />

an: “Kennst Du Nika?”. Daraufhin Thomas:<br />

“Natürlich, er wird von mir in meinem Dojo<br />

in Duisburg trainiert.” Da er aber in Russland<br />

Heimweh hatte, folgte er einem ukrainischen<br />

Trainier nach Kiev, was nur 2000<br />

Kilometer entfernt von seiner Heimatstadt<br />

war.<br />

In Kiev musste er jeden Tag 3 Stunden zu<br />

Fuß gehen und mit der Bahn und dem Bus<br />

fahren, um zum Training zu kommen. Zurück<br />

natürlich die gleiche Zeit. Aber der Trainer<br />

war sehr unhöflich, nutzte Nikas Talent nur<br />

aus und Nika bekam nicht genug zu essen,<br />

obwohl er jeden Tag hart trainierte. Deshalb<br />

folgte Nika einem anderen ukrainischen<br />

Trainer, dem Afghanistan Veteranen Galan<br />

in <strong>des</strong>sen Dojo, nahe der polnischen<br />

Grenze. Von seinem Äußeren her wirkte<br />

sein neuer Trainer grimmig und bedrohlich,<br />

aber im innersten seines Herzens war er herzensgut.<br />

Angst schien Nika nicht zu kennen,<br />

denn das Grimmige bei Galan machte bei<br />

ihm keinen Eindruck. Später stellte er fest,<br />

dass der wortkarge Trainer seine<br />

Karateschüler über alles liebte. Hier ging es<br />

Nika gut, es war genug zu essen da und er<br />

hatte ein eigenes Zimmer. Er fuhr mit Galan<br />

zum erfolgreichen Kämpfen nach Belarussland,<br />

nach Russland und nach Georgien.<br />

Aber Nika wusste, wenn er Erfolg<br />

haben will, dann muss er in den Westen,<br />

<strong>des</strong>halb war sein Wunsch nach Deutschland<br />

zu kommen übermächtig.<br />

50 $ war sein Startkapital in die neue<br />

Karatezukunft. Er lernte einen Russen kennen,<br />

der ihn für 10 $ pro Nacht in seiner<br />

Wohnung schlafen ließ. Natürlich langte<br />

das Geld nicht. In seiner Not rief er eine<br />

Telefonnummer eines ukrainischen Geschäftsmannes<br />

in Süddeutschland an ( nennen<br />

wir ihn hier Roland ), welche er von<br />

einem Freund in der Ukraine zugesteckt bekommen<br />

hatte. Und jetzt trat wieder einer<br />

dieser glücklichen Zufälle in Nikas Leben.<br />

Für Nika waren diese Zufälle eine göttliche<br />

Fügung. Ohne dass Roland Nika kannte,<br />

schickte er Nika zu einem Freund in Stralsund,<br />

mit der Weisung, sich von diesem<br />

200,--Euro geben zu lassen, damit er nach<br />

Süddeutschland kommen kann. Dieser für<br />

ihn noch Fremde nahm Nika in <strong>des</strong>sen<br />

Familie wie einen Sohn auf und bot ihm an,<br />

bei ihm zu arbeiten. Jetzt zeigte sich wieder<br />

Nikas konsequente und unbestechliche aber<br />

höfliche Art, denn er gab seinem neuen<br />

Freund nach vier Wochen zu verstehen,<br />

dass er nicht zum illegal arbeiten nach<br />

Deutschland gekommen sei, sondern um<br />

Karate zu kämpfen. Jetzt zeigte sich wieder,<br />

wie sehr das Umfeld durch Nikas Auftreten<br />

von diesem geprägt ist. Alle die Freunde<br />

Nikas, die ich im Laufe der Zeit kennen<br />

gelernt habe, sind beeindruckt von seiner<br />

Aufrichtigkeit und seiner Liebe zu Karate.<br />

Aber das macht wohl auch einen starken<br />

Athleten aus. Deshalb zeigte auch sein<br />

Freund Roland Verständnis und brachte ihn<br />

zum Asylamt nach Karlsruhe, mit dem<br />

Angebot, dass er jederzeit zurückkommen<br />

kann.<br />

Die folgenden drei Asylstationen von Nika<br />

begannen auf dem Asylantencontainerschiff<br />

im Kölner Hafen. In einer kalten<br />

Oktobernacht kam Nika in Köln und er musste<br />

1 Stunde mutterseelenallein am Rheinufer<br />

das Asylantenschiff suchen. Hier müssen<br />

die Bewohner um 6.00 Uhr morgens das<br />

Schiff verlassen und dürfen erst um 14.00<br />

Uhr wieder in ihre Kabinen, die sie mit 4<br />

anderen Asylanten teilen mussten. Der<br />

Hunger war sein ständiger Begleiter, da er<br />

sich jeden Tag mit Training wie Joggen fit<br />

hielt, und das Essen für einen Heranwachsenden<br />

zu kärglich war. Deshalb stellte<br />

er sich immer wieder hinten in die<br />

Schlange der Wartenden bei der Essensausgabe,<br />

allerdings immer mit wechselnden<br />

Pullovern. Natürlich erkannten die Frauen,<br />

die das Essen ausgaben, den Trick. Aber<br />

Nika war der jüngste allein stehende Asylant<br />

auf dem Schiff und alle Bediensteten liebten<br />

Nika wegen seiner besonderen aber auch<br />

stolzen Art, die ihn von den anderen<br />

Schiffsbewohnern hervorhob. So bekam er<br />

immer eine extra Portion Fleisch heimlich<br />

auf den Teller. Und was machte Nika, er gab<br />

diese Extraportion den Kindern einer afrikanischen<br />

Asylantenfamilie. In der Woche

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