seitenbühne 03.04 - Staatsoper Hannover
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KONZERT<br />
SWANTJE KÖHNECKE<br />
EIN SUBTILES NICHTS<br />
Claude Debussys letztes Orchesterwerk im 6. Sinfoniekonzert<br />
Die Szene zeigt einen nächtlichen Park. Ein<br />
Tennisball fällt auf die Bühne, ein junger<br />
Mann mit Tennisschläger in der Hand läuft<br />
hinterher und verschwindet. Zwei junge<br />
Frauen treten auf, werden von dem Mann<br />
aus dem Gebüsch beobachtet. Er verführt sie<br />
zum Tanz: zuerst die eine, doch die andere<br />
wird eifersüchtig. Es entwickelt sich ein leidenschaftlicher<br />
Tanz zu dritt, bis ein zweiter<br />
verirrter Tennisball das Geschehen unterbricht<br />
und beendet.<br />
Dieses Szenario des Choreographen Vaslaw<br />
Nijinsky wurde Claude Debussy vorgelegt:<br />
»geformt aus diesem subtilen Nichts, aus<br />
dem, wie ich glaube, eine Tanzdichtung bestehen<br />
muss«, wie der Komponist sich am<br />
15. Mai 1913, dem Tag der Uraufführung<br />
seines Balletts Jeux in einem Zeitungsartikel<br />
erinnert. Und zunächst war der arrivierte<br />
Komponist wohl eher abgeneigt gewesen,<br />
den Auftrag der Ballets Russes anzunehmen.<br />
Seit 1909 zeigte die junge Kompanie von<br />
Sergei Diagilew ihr neuartiges Programm in<br />
Paris, in enger Zusammenarbeit mit Komponisten<br />
und später auch bildenden Künstlern.<br />
In der dritten Saison hatte Nijinsky Debussys<br />
berühmtes Prélude à l’après-midi d’un faune<br />
von 1894 choreographiert, und schon hier<br />
hatte der Komponist nur widerstrebend seine<br />
Einwilligung dazu gegeben.<br />
Und doch folgte ein Jahr später Jeux,<br />
»Spiele«, Debussys einzige originäre Ballettmusik<br />
und seine letzte Partitur für Orchester<br />
– vermutlich aufgrund eines finanziell deutlich<br />
verbesserten Angebots von Diagilew.<br />
Anders als die Kompositionen von Igor Strawinsky<br />
für die Ballets Russes (Feuervogel<br />
1910, Petruschka 1911, Le Sacre du printemps<br />
1913) setzte sich Debussys Poème<br />
dansé jedoch nicht auf der Tanzbühne, sondern<br />
im Konzertsaal durch. Vielleicht machte<br />
sich die<br />
ironische Distanz bemerkbar,<br />
die der<br />
51-jährige Debussy gegenüber dem wesentlich<br />
jüngeren Nijinsky und seiner Kunst<br />
zum Ausdruck brachte: »Bevor ich ein Ballett<br />
schrieb, wusste ich nicht, was ein Choreograph<br />
ist; jetzt weiß ich es: Das ist ein Mann,<br />
der sehr viel von der Rechenkunst versteht.<br />
Zum Beispiel: 1, 2, 3 / 1, 2, 3 / 1, 2, 3, 4, 5 /<br />
1, 2, 3, 4, 5, 6 / 1, 2, 3 / 1, 2, 3; (ein bisschen<br />
schneller), dann das Ganze im Zusammenhang.<br />
Das sieht nach nichts aus, ist aber<br />
äußerst aufregend, vor allem, wenn der unvergleichliche<br />
Nijinsky diese Aufgabe stellt.«<br />
Auch wenn der Walzerrhythmus sein motivischer<br />
Kern ist, geht Jeux weit über das<br />
genannte »1, 2, 3« hinaus. Musikhistorisch<br />
wurde das Werk zwar zunächst durch den<br />
Uraufführungsskandal des Sacre du printemps<br />
überstrahlt, das nur zwei Wochen<br />
später am selben Ort durch dieselbe Kompanie<br />
herauskam. Doch heute erscheint uns<br />
die Partitur nicht weniger aufsehenerregend:<br />
mit ungehörten Schattierungen der<br />
Klangfarbe, aufregenden harmonischen Konstruktionen,<br />
rhythmischen Finessen und einer<br />
frei fließenden Form, »die sich von Augenblick<br />
zu Augenblick erneuert« (Pierre<br />
Boulez). Das konkrete Spiel der Handlung –<br />
Tennis, Tanz und Leidenschaft – wird zum<br />
abstrakten Spiel musikalischer Parameter.<br />
Doch ist Debussys Musik bei aller Komplexität<br />
von verführerischer Sinnlichkeit, Eleganz<br />
und scheinbarer Leichtigkeit. »Musik<br />
muss vom Ohr des Hörers spontan<br />
aufgenommen werden können,«<br />
schrieb Debussy 1909,<br />
»er darf nicht Mühe haben,<br />
in den Mäandern einer<br />
komplizierten Entwicklung<br />
die abstrakten Ideen<br />
zu erkennen.« Oder eben<br />
die Stimmung und Handlung<br />
des »subtilen Nichts«<br />
einer Tanzdichtung.<br />
6. SINFONIEKONZERT<br />
MAURICE RAVEL Ma Mère l'Oye (1908/1911)<br />
CLAUDE DEBUSSY Jeux (1912–13)<br />
ANTONÍN DVOŘÁK Sinfonie Nr. 8 G-Dur op. 88 (1889)<br />
DIRIGENT Jonathan Darlington<br />
Niedersächsisches Staatsorchester <strong>Hannover</strong><br />
Sonntag, 17. März 2013, 17 Uhr<br />
Montag, 18. März 2013, 19.30 Uhr<br />
Kurzeinführungen mit Jonathan Darlington<br />
jeweils 45 Minuten vor Beginn