seitenbühne 03.04 - Staatsoper Hannover
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04. 05 OPER<br />
MIRIAM KONERT<br />
DAS VERFLIXTE JAHR 1877<br />
Zur Premiere von Tschaikowskys Eugen Onegin<br />
Peter Iljitsch Tschaikowsky war fieberhaft<br />
auf der Suche nach einem neuen Opernstoff,<br />
als Elisabeth Andrejewna Lawroskaja, Sängerin<br />
und Lehrerin am Konservatorium, ihn<br />
auf Puschkins Eugen Onegin aufmerksam<br />
machte. Für eine Oper war der berühmte<br />
Versroman völlig ungeeignet, da er keinerlei<br />
Bühneneffekte versprach und damit gänzlich<br />
im Widerspruch stand zum ästhetischen<br />
Gebot der Zeit. »Du glaubst gar nicht, wie<br />
wild ich auf dieses Sujet bin«, schrieb der<br />
Komponist am 18. Mai 1877 seinem Bruder<br />
Modest. »Wie froh bin ich, den üblichen Pharaos,<br />
Prinzessinnen, Vergiftungen und dergleichen<br />
Puppengeschichten aus dem Wege<br />
gegangen zu sein! Welche Fülle von Poesie<br />
Onegin birgt«.<br />
Tschaikowsky war klar, dass er mit Puschkins<br />
Werk den »Pöbel« nicht ansprechen<br />
würde. Danach stand ihm auch nicht der<br />
Sinn. Er wollte Musik »von Herzen« schreiben<br />
und vertraute darauf, dass man auch<br />
mit »einfachen, alltäglichen und allgemeinmenschlichen<br />
Gefühlen« sein Publikum gewinnen<br />
konnte. In der Tat ist Eugen Onegin<br />
eher ein facettenreicher Ausdruck von Liebessehnsucht<br />
als differenzierte Handlung.<br />
Aus vielen verschiedenen Perspektiven erkundet<br />
das Werk, was Liebe sein kann, woher<br />
sie kommt, und wie sie sich verflüchtigt,<br />
bei Jung und Alt, bei Arm und Reich. Ein<br />
zärtliches Kammerspiel, ein schmerzhaftes<br />
auch, weil die Liebe sich in keinem der Beispiele<br />
erfüllt.<br />
Bereits im Frühjahr hatte Tschaikowsky die<br />
Briefszene der Tatjana, das Herzstück der<br />
Oper, fertiggestellt, im Sommer 1877 das<br />
gesamte Werk skizziert, 1878 fertig komponiert:<br />
Der reiche und bornierte Städter Eugen<br />
Onegin besucht mit seinem Freund,<br />
dem Dichter Lenski, die Larins auf dem<br />
Land. Die zwei Töchter der Larina, Tatjana<br />
und Olga, sind im heiratsfähigen Alter. Olga<br />
ist Lenski versprochen, Tatjana ist noch frei,<br />
genau wie Eugen. Doch beide sind kaum<br />
vermittelbar: Tatjana ist schweigsam und<br />
ernst und vergräbt sich in ihren Büchern<br />
und Liebesromanen. Auch Onegin gilt als<br />
sonderbar. Er ist des Lebens überdrüssig,<br />
hochmütig, und nichts kann ihm die Langeweile<br />
austreiben. Bereits bei ihrer ersten<br />
Begegnung trifft Tatjana der Blitz: Das ist der<br />
Mann, der für sie bestimmt ist, den sie sich<br />
erträumt hat. In blindem Eifer schreibt sie<br />
ihm – undenkbar für eine Frau in der Zeit –<br />
einen Liebesbrief, welcher Eugen eher amüsiert<br />
als entflammt. Er hält ihr eine Predigt,<br />
er sei für die Ehe nicht gemacht, und lässt<br />
sie abblitzen. Erst als er von einer längeren<br />
Reise zurückkehrt und Tatjana mit dem reichen<br />
Fürsten Gremin verheiratet ist, erkennt<br />
er, dass er sie liebt. Diesmal ist es Tatjana,<br />
die Onegin die kalte Schulter zeigt.<br />
Für den Komponisten wurde das Jahr 1877<br />
in vielerlei Hinsicht ein besonderes, aber<br />
auch schicksalhaftes Jahr: Parallel zu Eugen<br />
Onegin entstand Tschaikowskys 4. Sinfonie,<br />
die er seiner Bewunderin Nadeshda von<br />
Meck widmete: »Meinem besten Freund«.<br />
Ein reger Briefwechsel kam in Gang, und<br />
über 14 Jahre lang unterstützte die Mäzenin<br />
den Komponisten finanziell, ohne dass die<br />
beiden sich je persönlich getroffen haben.<br />
Wenig später trat eine weitere Frau in das<br />
Leben des Komponisten, und auf seltsame<br />
Weise vermischte sich der Onegin-Stoff mit<br />
dessen Lebensumständen: Antonia Miljukowa,<br />
eine ehemalige Schülerin des Moskauer<br />
Konservatoriums, hatte ihm mehrere Liebesbriefe<br />
geschrieben, und obwohl er die junge<br />
Frau weder kannte, noch besonders gut leiden<br />
konnte, heiratete er sie überstürzt. Er<br />
wollte wohl kein Onegin sein, und außerdem<br />
hatte er sich das Heiraten schon etwa<br />
ein Jahr vorher in den Kopf gesetzt, ohne<br />
auch nur ansatzweise eine geeignete Kandidatin<br />
im Blick zu haben: »Ich hab viel an<br />
Dich gedacht und auch an mich: An meine<br />
Zukunft«, vertraute er am 10. September<br />
1876 seinem Bruder Modest an. »Das Resultat<br />
meines Denkens ist der feste Entschluss,<br />
in den Stand der Ehe zu treten, mit wem es<br />
auch sei«. Wohl um sich von seinem »Fatum«,<br />
seiner Homosexualität zu befreien, wohl<br />
aber auch aus der Sehnsucht heraus, ein gesellschaftlich<br />
anerkanntes Leben zu führen,<br />
traf er die schwerwiegendste Entscheidung<br />
seines Lebens. Das geht aus einem Brief<br />
hervor, den er am 8. November 1876 an<br />
Anna Dawidowa schrieb: »In der Tat lebe ich<br />
ein Leben, das keinem einen besonderen<br />
Nutzen bringt. Ich lebe ein egoistisches<br />
Junggesellenleben. Ich arbeite nur für mich<br />
allein, sorge nur um mich allein. Das ist allerdings<br />
sehr bequem, aber trocken, tot,<br />
engherzig«. Es gibt viele nachvollziehbare<br />
Motive, die ihn dazu gebracht haben mögen,<br />
sich dieser unglücklichen Verbindung auszusetzen,<br />
die ihn fast das Leben kostete.<br />
Wenige Wochen nach der Hochzeit, über die<br />
sich Freunde und Familie gleichermaßen<br />
wunderten, wurde er schwer depressiv. Er<br />
floh vor seiner Frau und unternahm einen<br />
Selbstmordversuch. Zwei Monate später<br />
trennte er sich endgültig von Antonina,<br />
ohne sich aber jemals von ihr scheiden zu<br />
lassen. Tschaikowsky ist kein Onegin, das<br />
ist gewiss. Vielleicht ist ihm Tatjana näher,<br />
die Sehnende, Melancholische, der die Kraft<br />
zu wirklichem Leben fehlt. Sie erlangt diese<br />
Kraft erst, als sie sich gegen Onegin für ihren<br />
liebenden Gatten entscheidet. Tschaikowsky<br />
bleibt dieser Wendepunkt im privaten<br />
Leben verwehrt. Er stirbt am 25.<br />
Oktober 1893 in Sankt Petersburg. Ob es die<br />
Cholera war oder Selbstmord, ist bis heute<br />
ungewiss.