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BL&A | Berliner Leben & Arbeit Bundesweit

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<strong>Leben</strong><br />

will, dass sich schleimige Moderatoren<br />

und fette Polizisten gegen jugendliche<br />

Helden durchsetzen. „Slumdog<br />

Millionär“ hat in Indien zu heftigen<br />

Auseinandersetzungen geführt, und<br />

erst am vergangenen Wochenende hat<br />

der Schriftsteller Salman Rushdie in<br />

einem langen, etwas unbeholfenen<br />

Text in der FAZ sein Missfallen über<br />

diesen Film bekundet. Es gibt aber<br />

gute Gründe, sich auch in einem<br />

Land wie Deutschland über „Slumdog<br />

Millionär“ zu ärgern. Denn gerade das<br />

westliche Publikum wird hier doch<br />

recht unverhohlen für blöd verkauft<br />

(wie auch im Film die Touristen am Taj<br />

Mahal): Ganz so, als wäre die indische<br />

Kultur und zumal deren großartiges<br />

Kino eine eigene Beschäftigung nicht<br />

wert, setzt sich hier ein synthetisches<br />

Produkt, das in jeder Sekunde nach<br />

Effizienz und Effekt kalkuliert ist, an<br />

eine wichtige Nahtstelle im globalen<br />

Bildertausch.<br />

„Slumdog Millionär“ ist keine<br />

interessante kulturelle Mischform,<br />

kein „Hybrid“, sondern klassische<br />

Rohstoffwirtschaft - das arme Indien<br />

ist der Rohstoff, der bei uns als Ware<br />

ankommt, und zwar nicht gerade<br />

veredelt, ja nicht einmal verarbeitet,<br />

sondern atomisiert.<br />

•<br />

Die Selbstfindung läuft<br />

Wiederaufführung nach zwanzig Jahren: „Hans im Glück“ von Pankow<br />

Ulrich Seidler<br />

Die Hemdknöpfe spannen über dem<br />

Bauch, die Haare sind immer noch<br />

wuschelig, aber licht; am Anzug aus<br />

dem Volksbühnenfundus hängt ein<br />

Orden: André Herzberg, der Sänger<br />

von Pankow, ruft „ich bin authentisch“<br />

und lässt sich ins Sofa plumpsen,<br />

das junge, lustig kostümierte<br />

Volksbühnenschauspieler auf die Bühne<br />

geschleppt haben. Vor gut zwanzig<br />

Jahren ist das Rockmärchen „Hans<br />

im Glück“ entstanden. Damals, in der<br />

späten DDR, war Pankow nicht nur<br />

der Stadtbezirk, wo die politische und<br />

intellektuelle Elite residierte, sondern<br />

auch eine berühmte Band, die Platten<br />

aufnehmen und in den Westen reisen<br />

durfte - auch weil Jürgen Ehle, der<br />

Gitarrist und IM der Band, gut Wetter<br />

bei den Zuständigen machte. Auch er<br />

ist an diesem Abend im Babylon, der<br />

Exilspielstätte der Volksbühne.<br />

Am Schlagzeug sitzt, wie damals,<br />

Stefan Dohanetz. Hinzugekommen sind<br />

ein paar spielerisch-nostalgische Texte,<br />

die zwischen die Titel gebrüllt werden.<br />

Für die szenische Einrichtung zeichnet<br />

Andreas Merz verantwortlich, und der<br />

Intendant Frank Castorf lässt sich als<br />

Supervisor auf dem Programmzettel<br />

führen. Was in Dreivatersnamen ist<br />

das für eine Veranstaltung? Also<br />

wessen? Wo sind wir überhaupt? Und<br />

vor allem wann? Das Adoleszenten-<br />

Rockmärchen - eine realsozialistische<br />

Variante der Grimmschen Geschichte<br />

- handelt von Orientierungsproblemen<br />

eines Schulabgängers, der ins <strong>Leben</strong><br />

hinaustritt und keine Alternative<br />

findet: Er stresst sich in seine Karriere<br />

hinein, bis er in der Psychiatrie<br />

landet. Der zweite Anlaufversuch als<br />

Geschäftsmann endet im Gefängnis.<br />

Dann will er so spießig wie möglich<br />

als Familienpapa sein Dasein fristen -<br />

was ihn bald langweilt. Er geht fremd,<br />

lässt sich scheiden und säuft sich in<br />

die Trinkerheilanstalt. Mit diesen<br />

Erfahrungen kommt er zu dem Schluss:<br />

„Alles Scheiße! Ob in Nord, Ost, Süd<br />

oder West! Überall nur Terror! Und<br />

geistige Pest!“ Nun bleibt ihm nichts<br />

Eigenes mehr außer seinem Ego: „Ich<br />

bin die totale Alternative!“<br />

Die Zensur mäkelte an dem Werk herum<br />

und hatte im Großen und Ganzen recht:<br />

„Wir halten diese Texte für durchaus<br />

nicht geeignet, unsere Jugend im Sinne<br />

der sozialistischen ethisch-moralischen<br />

Wertvorstellungen zu beeinflussen.“ Es<br />

kam, wie es kommen musste: Ethischmoralisch<br />

desorientierte DDR-Bürger<br />

gingen auf die Straße, und das Land<br />

wurde der BRD angeschlossen.<br />

Das ist jetzt bekanntermaßen<br />

zwanzig Jahre her, die<br />

Selbstverwirklichungsprobleme von<br />

Schulabgängern aber blieben sich<br />

irgendwie ähnlich: Anpassen oder<br />

verweigern. Sie sind im Fall von André<br />

Herzberg offenbar noch dringlicher<br />

geworden. Als Rockstar jedenfalls<br />

funktioniert er schon lange nicht mehr.<br />

An diesem Abend versucht er sich als<br />

alternder Narr, der mit seiner Eitelkeit<br />

kokettiert - eine Rolle, die man auch<br />

nicht ewig spielen kann: „Es gibt nur<br />

Zweifel“, sagt er, „du kannst schreiben,<br />

auf der Bühne stehen, es ist wie Zähne<br />

putzen, Haare kämmen, wie Aufstehen,<br />

essen, vögeln, scheißen, du kannst es<br />

tun oder lassen, ich habe es mir nicht<br />

ausgesucht, ja, es quält mich, warum<br />

gerade ich?“<br />

Er hat den Mut und die<br />

Selbstgerechtigkeit, sich als ein von<br />

den Zeitläufen zurückgelassener,<br />

gekränkter Märtyrer, als gefallener<br />

Rockstar hinzustellen - und dies<br />

gleichzeitig ironisch zu reflektieren.<br />

Kein Wunder, dass Frank Castorf das<br />

gefällt. Auf dieses Gefühl kann man<br />

sich für die nächsten zwanzig Jahre<br />

eingrooven. „Als ich mal wieder auf<br />

die Fresse flog, als ich mich wieder mal<br />

selbst belog, stand ich wieder auf wie<br />

‚n Stehaufmann und fing wieder zu<br />

suchen an.“<br />

•<br />

BL&A Wirtschaft 13

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