Mathematisches Denken und Arbeiten
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<strong>Mathematisches</strong><br />
<strong>Denken</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeiten</strong><br />
Sönke Hansen<br />
Wintersemester 2011/12 ∗<br />
Einführung<br />
Der Übergang von der Schulmathematik zur (wissenschaftlichen) Mathematik bereitet erfahrungsgemäß<br />
Studierenden große Schwierigkeiten. Das klare Formulieren von Begriffen <strong>und</strong><br />
Aussagen <strong>und</strong> das korrekte Beweisen von Sätzen muss erst erlernt werden. Sinn <strong>und</strong> Reiz des<br />
Mathematikstudiums liegen gerade im Erwerb dieser Fähigkeiten.<br />
Die Vorlesungen Lineare Algebra <strong>und</strong> Analysis stehen am Beginn des Mathematikstudiums.<br />
In diesen wird auch in die Gr<strong>und</strong>lagen des mathematischen <strong>Arbeiten</strong>s eingeführt. Bedingt durch<br />
die zu behandelnde Stofffülle ist das Tempo der Einführung in diesen Vorlesungen hoch. Die<br />
Vorlesung „Einführung in das mathematische <strong>Denken</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeiten</strong>“ ist eine Pflichtveranstaltung<br />
des Bachelor-Studienganges für das Lehramt an Gymnasien, Gesamtschulen <strong>und</strong> Berufskollegs.<br />
Sie hat das Ziel, den Einstieg in das Mathematikstudium zu unterstützen. Die Bücher [SS09]<br />
<strong>und</strong> [Dei10] haben eine ähnliche Zielsetzung.<br />
1 Definition – Satz – Beweis<br />
Wir illustrieren die in Vorlesungen übliche Darstellung von Mathematik: Es werden wahre Aussagen<br />
gemacht mit vorher definierten Begriffen; die Wahrheit der Aussagen wird anschließend<br />
bewiesen. Dabei beruft man sich auf bereits bewiesene Sätze <strong>und</strong> akzeptierte Gr<strong>und</strong>tatsachen<br />
(Axiome).<br />
Unser unten zu behandelndes Beispiel betrifft eine Eigenschaft reellwertiger Funktionen<br />
f : D → R,<br />
x ↦→ f(x).<br />
Die reelle Zahlenachse wird mit R bezeichnet. Der Definitionsbereich D der Funktion f ist eine<br />
nichtleere Teilmenge von R. Manchmal schreibt man auch y = f(x) für eine Funktion f, um<br />
damit Namen für die unabhängige <strong>und</strong> die abhängige Variable festzulegen. In diesem Abschnitt<br />
∗ Fassung vom 24. September 2012<br />
1
werden Schulkenntnisse über den Umgang mit Zahlen <strong>und</strong> Funktionen vorausgesetzt. Außerdem<br />
wird elementare Mengennotation benutzt; auf den Umgang mit Mengen wird im Verlaufe der<br />
Vorlesung noch ausführlicher eingegangen.<br />
1.1 Definition. Eine Funktion f : D → R heißt streng monoton steigend, wenn für alle x 1 , x 2 ∈<br />
D mit x 1 < x 2 gilt: f(x 1 ) < f(x 2 ).<br />
Eine Funktion veranschaulicht man sich – falls möglich – durch seinen Graphen (Schaubild)<br />
in der xy-Koordinatenebene. Die Bedeutung der obigen Definition illustrieren Skizzen von Graphen<br />
einiger geeigneter Funktionen.<br />
1.2 Definition. Eine Teilmenge I ⊆ R heißt ein Intervall, wenn sie mindestens zwei Punkte<br />
enthält <strong>und</strong> wenn für a, b ∈ I <strong>und</strong> z ∈ R mit a < z < b folgt: z ∈ I.<br />
Für reelle Zahlen a < b hat man die Intervalle<br />
[a, b] := {x ∈ R | a ≤ x ≤ b},<br />
]a, b[ := {x ∈ R | a < x < b}.<br />
Das erste Intervall heißt abgeschlossen, das zweite offen. Es gibt noch weitere Intervalltypen; R<br />
ist auch ein Intervall. Teilmengen von R, die keine Intervalle sind, heißen unzusammenhängend.<br />
(Auch dies ist eine Definition.)<br />
Bei der Kurvendiskussion der Schulmathematik tritt u.A. die Aufgabe auf, die Monotoniebereiche<br />
einer gegebenen Funktion zu bestimmen. Meist untersucht man differenzierbare Funktionen.<br />
Dann kann man die Differentialrechnung verwenden, beispielsweise das folgende Resultat.<br />
1.3 Satz. Sei I ein Intervall. Sei f : I → R differenzierbar mit positiver Ableitung. Dann ist f<br />
streng monoton steigend.<br />
Wir setzen hier voraus, dass die Differenzierbarkeit <strong>und</strong> der Begriff der Ableitung bereits<br />
eingeführt wurden. Präzise Definitionen hierfür werden in der Analysis 1 gegeben. Uns sollen<br />
hier die aus der Schule bekannten Konzepte genügen.<br />
Für den Beweis des Satzes müssen wir uns auf Vorarbeiten abstützen, die in einer Vorlesung<br />
über Analysis erst nach mehreren Wochen erbracht sind.<br />
1.4 Satz (Mittelwertsatz). Sei f : [a, b] → R differenzierbar. Dann existiert ein z ∈]a, b[ mit<br />
f(b) − f(a)<br />
b − a<br />
= f ′ (z). (1.1)<br />
Der Mittelwertsatz wird geometrisch illustriert durch Sekanten <strong>und</strong> dazu parallele Tangenten<br />
an den Graphen der Funktion.<br />
Beweis von Satz 1.3. Seien x 1 , x 2 ∈ I mit x 1 < x 2 . Es ist zu zeigen, dass gilt: f(x 1 ) < f(x 2 ).<br />
Da I ein Intervall ist, gilt [x 1 , x 2 ] ⊆ I. Wir wenden den Mittelwertsatz an mit a = x 1 <strong>und</strong><br />
b = x 2 , <strong>und</strong> wir erhalten eine Zwischenstelle z wie in (1.1). Wegen f ′ (z) > 0 <strong>und</strong> x 1 < x 2<br />
haben wir<br />
f(x 2 ) − f(x 1 ) = f ′ (z)(x 2 − x 1 ) > 0.<br />
Somit ist f(x 1 ) < f(x 2 ).<br />
2
Zur Formulierung von Satz 1.3 <strong>und</strong> zu seinem Beweis bemerken wir Folgendes. Im Satz<br />
wurden Voraussetzungen <strong>und</strong> eine Behauptung formuliert:<br />
Voraussetzungen a) Gegeben: Ein Intervall I <strong>und</strong> eine differenzierbare Funktion f : I → R.<br />
b) Für alle x ∈ I gilt f ′ (x) > 0.<br />
Behauptung f ist streng monoton steigend.<br />
Der Satz sagt aus, dass die Behauptung wahr ist, wenn die Voraussetzungen dies sind.<br />
Im Beweis ist eine Aussage für alle x 1 <strong>und</strong> x 2 mit bestimmten Eigenschaften zu zeigen. Dazu<br />
geht man so vor, dass man Zahlen x 1 <strong>und</strong> x 2 mit diesen Eigenschaften fixiert <strong>und</strong> dafür den<br />
Beweis führt. Es ist wichtig, dass über x 1 <strong>und</strong> x 2 keine weiteren Eigenschaften vorausgesetzt<br />
werden; anderenfalls wäre der Beweis nicht allgemeingültig. Eine Formulierung wie „Seien x 1<br />
<strong>und</strong> x 2 mit . . . “ drückt aus, dass beliebige Zahlen x 1 <strong>und</strong> x 2 mit der Eigenschaft . . . vorliegen. Im<br />
weiteren Beweis werden keine zusätzlichen Annahmen über diese Zahlen gemacht. Der Beweis<br />
benutzt bereits bewiesene Sätze wie den Mittelwertsatz <strong>und</strong> Rechenregeln für Ungleichungen.<br />
Es ist üblich, das Ende eines Beweis zu markieren. Gängig ist dafür das Symbol ; ich benutze<br />
an der Tafel ⫽.<br />
Übungsaufgaben. Im Folgenden bezeichnet I ein Intervall <strong>und</strong> D eine nichtleere Teilmenge<br />
von R. Zum Beweis von Aussagen über differenzierbare Funktionen darf der Mittelwertsatz 1.4<br />
weiterhin als bewiesen vorausgesetzt werden.<br />
(i) Sei f : I → R differenzierbar. Zeige: (a) Ist f ′ = 0, dann ist f eine konstante Funktion;<br />
(b) ist f ′ konstant, dann existieren m, c ∈ R, sodass f(x) = mx + c für alle x ∈ I gilt.<br />
(ii) Sei f : R → R differenzierbar mit f(0) = 0. Für die Ableitung gelte f ′ (x) < −1 für alle<br />
x ∈ R. Zeige, dass f(x) + x > 0 für alle x < 0 gilt.<br />
(iii) Definiere für eine Funktion f : D ⊆ R → R die Begriffe Maximumstelle <strong>und</strong> Maximum.<br />
(iv) Sei I :=]a, b[ ein offenes Intervall. Sei f : I → R differenzierbar mit einer Maximumstelle<br />
x m ∈ I. Zeige, dass es Stellen x l , x r ∈ I gibt mit x l < x m < x r , sodass f ′ (x l ) ≥ 0 <strong>und</strong><br />
f ′ (x r ) ≤ 0 gelten.<br />
2 Beweise — richtige <strong>und</strong> falsche<br />
Ein Satz ist eine wahre Aussage, für die ein Beweis angegeben werden kann. Häufig trifft man<br />
Formulierungen folgender Art an.<br />
2.1 Satz. Wenn A wahr ist, dann gilt auch B.<br />
Beweis. Sei A wahr. Wir zeigen, dass B gilt: . . .<br />
Hier sind A <strong>und</strong> B Aussagen, die Voraussetzung bzw. die Behauptung des Satzes. Man beachte,<br />
dass nicht die Wahrheit von B zu zeigen ist, sondern nur die von „aus A folgt B“. Auf<br />
Aussagen <strong>und</strong> logische Schlüsse gehen wir später systematisch ein. In diesem Abschnitt betrachten<br />
wir Beispiele von Beweisen.<br />
Folgende Definition ist bekannt. Eine Zahl n heißt gerade genau dann, wenn es eine ganze<br />
Zahl k gibt mit n = 2k. Allgemeiner heißt n durch p ∈ N teilbar (in Zeichen: p|n), wenn es eine<br />
ganze Zahl k gibt mit pk = n.<br />
3
2.2 Satz. Sei n eine gerade Zahl. Dann ist n 2 eine gerade Zahl.<br />
Beweis (direkt). Nach Definition gibt es eine ganze Zahl k mit n = 2k. Die Rechnung n 2 =<br />
(2k) 2 = 2(2k 2 ) zeigt, dass n 2 = 2m gilt mit der ganzen Zahl m := 2k 2 . Somit ist n 2 gerade.<br />
Der obige Beweis wird ein direkter Beweis genannt, weil aus der Gültigkeit der Voraussetzung<br />
unter Verwendung bekannter Gesetze auf die Gültigkeit der Behauptung geschlossen<br />
wird. Umfangreichere direkte Beweise bestehen aus Argumentationsketten, in denen Zwischenbehauptungen<br />
bewiesen werden.<br />
2.3 Satz. Seien a, b ∈ R mit a < 0 <strong>und</strong> b > 0. Dann ist ab < 0.<br />
Der Beweis besteht aus einer kurzen direkten Argumentationskette. Diese benutzt einige<br />
Gr<strong>und</strong>regeln für das Rechnen mit reellen Zahlen, die wir erst im Anschluss an den Beweise<br />
herausstellen werden.<br />
Beweis. Die Zahlen (−a) <strong>und</strong> b sind positiv. Folglich gilt (−a)b > 0. Wir multiplizieren 0 =<br />
a − a mit b <strong>und</strong> erhalten<br />
0 = 0b = (a + (−a))b = ab + (−a)b.<br />
Es folgt ab = −((−a)b). Wegen (−a)b > 0 folgt ab < 0.<br />
Neben den Gr<strong>und</strong>rechenarten (Rechnen in einem Körper) haben wir einige Gr<strong>und</strong>regeln für<br />
das Rechnen mit Ungleichungen benutzt: Für x ∈ R, x ≠ 0, gilt entweder x > 0 (x ist positiv)<br />
oder −x > 0 (x ist negativ); das Produkt positiver Zahlen ist positiv.<br />
Ein Beweis durch Widerspruch beruht auf dem Prinzip, dass eine Behauptung wahr ist,<br />
wenn ihre Verneinung falsch ist. Von der Falschheit einer Aussage (hier: Verneinung der Behauptung)<br />
überzeugt man sich, indem man zeigt, dass sie im Widerspruch zu Sätzen steht, deren<br />
Korrektheit vorher bewiesen wurde.<br />
Jede positive reelle Zahl a besitzt eine eindeutige positive Quadratwurzel √ a. Reelle Zahlen<br />
heißen irrational, wenn sie nicht als Bruch ganzer Zahlen darstellbar sind.<br />
2.4 Satz. √ 2 ist irrational.<br />
Beweis (durch Widerspruch). Angenommen der Satz wäre falsch. Dann gäbe es positive ganze<br />
Zahlen m, n mit √ 2 = m/n, d.h., 2n 2 = m 2 . Wegen n 2 < m 2 <strong>und</strong> m 2 < (2n) 2 gelten n < m<br />
<strong>und</strong> m < 2n. Definiere<br />
m 1 := 2n − m, n 1 := m − n.<br />
Dies sind positive ganze Zahlen, für die m 1 < m <strong>und</strong> n 1 < n gilt. Wegen<br />
m 1 n = (2n − m)n = 2n 2 − mn = m 2 − mn = mn 1<br />
haben wir eine weitere Darstellung der Quadratwurzel aus 2 als Bruch: √ 2 = m 1 /n 1 . So fortfahrend<br />
erhalten wir für j = 2, 3, . . . natürliche Zahlen m j <strong>und</strong> n j mit √ 2 = m j /n j <strong>und</strong><br />
m j < m j−1 . Nach spätestens j = m Schritten haben wir 0 < m j < 1. Dies steht im Widerspruch<br />
dazu, dass es keine ganzen Zahlen k mit 0 < k < 1 gibt. Folglich ist die Annahme falsch.<br />
Daher ist die Negation der Annahme – also die Aussage des Satzes – wahr.<br />
4
Abbildung 1: Idee des Beweises von Satz 2.4<br />
Die Idee des Beweises erkennt man an einer Skizze. Die im Beweis gemachte Annahme<br />
bedeutet geometrisch, dass es ein Quadrat gibt, deren Seiten <strong>und</strong> Diagonale n bzw. m Längeneinheiten<br />
lang sind. Wir wählen das Quadrat kleinstmöglich. Mit einem Zirkel teilen wir die<br />
Diagonale in einen Teil der Länge n <strong>und</strong> einen Teil der Länge m − n. Das (kleinere) Teilstück<br />
der Länge n 1 := m − n wird zur Seite eines neuen Quadrates (in blau). Aus elementargeometrischen<br />
Überlegungen folgt, dass n 1 auch die Länge der hellblauen Strecke ist. Die Diagonale des<br />
neuen Quadrates liegt auf einer Seite des Ausgangsquadrates. Die Länge m 1 dieser Diagonale<br />
erfüllt die Gleichung n 1 + m 1 = n. Folglich ist m 1 = 2n − m. Damit hätten wir ein kleineres<br />
Quadrat gef<strong>und</strong>en mit ebenfalls ganzzahligen Seiten- <strong>und</strong> Diagonalenlängen. Dies ist nach Wahl<br />
des Ausgangsquadrates aber nicht möglich.<br />
Hier erhalten wir aus der geometrischen Anschauung eine Beweisidee; der formale Beweis<br />
des Satzes nimmt aber keinen expliziten Bezug auf diese Idee.<br />
Ein Beweis durch vollständige Induktion beruht auf folgender Eigenschaft der Menge N =<br />
{1, 2, 3, . . . } der natürlichen Zahlen: Ist A ⊆ N mit 1 ∈ N, sodass aus n ∈ N stets n + 1 ∈ N<br />
folgt, dann ist A = N.<br />
2.5 Satz. Für n = 1, 2, 3, . . . gilt 16 · 2 n > (n + 4) 2 .<br />
Beweis (durch vollständige Induktion). Wir haben für jedes n ∈ N zu zeigen, dass die Aussage<br />
A(n) : 16 · 2 n > (n + 4) 2<br />
5
wahr ist. Die Aussage A(1) ist gleichwertig mit 32 > 25; dies ist offenbar wahr. Falls A(n)<br />
wahr ist, dann gilt<br />
16 · 2 n+1 = 32 · 2 n > 2(n + 4) 2 > (n + 4) 2 + 2(n + 4) + 1 = ((n + 1) + 4) 2 ,<br />
d.h., es gilt A(n + 1). In der vorstehenden Rechnung folgt die erste Ungleichung aus A(n) <strong>und</strong><br />
die zweite aus<br />
2 < ((n + 4) − 1) 2 = (n + 4) 2 − 2(n + 4) + 1.<br />
Zusammenfassend wurde gezeigt, dass A(n + 1) wahr ist, wenn A(n) wahr ist. Aufgr<strong>und</strong> der<br />
unmittelbar vor dem Satz erwähnten Eigenschaft von N gilt daher A(n) für alle n ∈ N.<br />
Durch Umbenennung von n + 4 in n können wir die Aussage des Satzes auch so formulieren:<br />
2 n > n 2 für n ≥ 5. (2.1)<br />
Für n = 2, 3, 4 ist 2 n > n 2 falsch.<br />
Ein Beweis mittels vollständiger Induktion von A(n) für alle n ∈ N hat folgende Struktur:<br />
Induktionsanfang Beweise, dass A(1) wahr ist.<br />
Induktionsschritt Beweise: Wenn A(n) wahr ist, dann auch A(n + 1).<br />
Der erste Index einer Induktion muss nicht n = 1 sein; im Falle von (2.1) ist es natürlich, den<br />
Induktionsanfang bei n = 5 zu wählen.<br />
Die Aussage des folgenden „Satzes“ ist offenbar falsch; die Argumentation im „Beweis“ ist<br />
fehlerhaft.<br />
2.6 “Satz”. 1 ist die größte natürliche Zahl.<br />
„Beweis“. Sei N ∈ N die größte natürliche Zahl. Annahme: N ≠ 1. Dann ist N < N 2 . Da N 2<br />
auch eine natürliche Zahl ist, erhalten wir einen Widerspruch. Daher ist die Annahme falsch <strong>und</strong><br />
somit N = 1.<br />
Da N kein größtes Element besitzt, ist der „Beweis“ hinfällig.<br />
Übungsaufgaben.<br />
(i) Zeige, dass eine ganze Zahl, deren Quadrat gerade ist, selbst gerade ist.<br />
(ii) Beweise, dass es keine ganzen Zahlen n <strong>und</strong> m mit 28m + 42n = 100 gibt.<br />
(iii) Zeige, dass das Produkt zweier negativer reeller Zahlen positiv ist.<br />
(iv) Für welche n ∈ N gilt 3 n > n 3 ?<br />
(v) Zeige, dass folgende Aussage wahr ist: Wenn 0 = 1 ist, dann sind alle natürlichen Zahlen<br />
gleich.<br />
3 Junktoren <strong>und</strong> Quantoren<br />
<strong>Mathematisches</strong> Argumentieren basiert auf den Regeln der Aussagen- <strong>und</strong> Prädikatenlogik.<br />
Aussagen sind entweder wahr oder falsch; in Zeichen: w oder f. Beispielsweise ist die Aussage<br />
„3 ist gerade.“ falsch; die Aussage „5 ist eine Primzahl.“ ist dagegen wahr. (Es soll uns hier<br />
nicht interessieren, wie man dies einsieht.)<br />
6
Man verknüpft Aussagen mit Junktoren (logischen Verknüpfungen) zu neuen Aussagen. Die<br />
Regeln hierfür kodiert man am Einfachsten in einer Wahrheitstabelle. Für die gebräuchlichsten<br />
Junktoren (Standardjunktoren) gilt:<br />
Negation Konjunktion Disjunktion Implikation Äquivalenz<br />
A B ¬A A ∧ B A ∨ B A =⇒ B A ⇐⇒ B<br />
w w f w w w w<br />
w f f f w f f<br />
f w w f w w f<br />
f f w f f w w<br />
Der umgangssprachliche Gebrauch von „<strong>und</strong>“ (Konjunktion) <strong>und</strong> „oder“ (Disjunktion) ist nicht<br />
immer gleichbedeutend mit den logischen Regeln. So wird in der Alltagssprache ein „oder“ oft<br />
als ein „entweder-oder“ verstanden; in der Mathematik ist ein „oder“ dagegen auch wahr, wenn<br />
die dadurch verknüpften Teilaussagen beide wahr sind. Ein gutes Verständnis von Implikationen<br />
(„wenn–dann“) ist besonders wichtig; so beachte man, dass A =⇒ B wahr sein kann, ohne<br />
dass B wahr sein muss. Beispiel: (2|3) =⇒ (2|9), wobei p|n definiert ist als die Aussage: p<br />
teilt n.<br />
Liegen Aussagen A, B, . . . vor, dann kann man mit sinnvoll gebildeten Formeln neue Aussagen<br />
bilden, z.B.:<br />
((¬A) ∧ B) =⇒ C, ¬(A ∧ (B =⇒ C)), . . .<br />
Um eine eindeutige Interpretation zu gewährleisten, werden Klammern verwendet. Der Wahrheitswert<br />
solcher Aussagen hängt natürlich von den Wahrheitswerten der „Variablen“ A, B, C<br />
ab. Eine (zusammengesetzte) Aussage heißt eine Tautologie oder allgemeingültig, wenn sie für<br />
alle Wahrheitswerte der Aussagen, aus denen sie aufgebaut ist, wahr ist.<br />
Gesetze sind oft als Tautologien formuliert.<br />
3.1 Satz (Kontrapositionsgesetz). (A =⇒ B) ⇐⇒ ((¬B) =⇒ (¬A))<br />
Ein Satz stellt eine wahre Aussage dar, für die es einen Beweis gibt. Im Falle des vorstehenden<br />
Satzes genügt es für einen Beweis, die einschlägigen Wahrheitstafeln aufzustellen.<br />
Das Kontrapositionsgesetz liegt der Methode des indirekten Beweises zugr<strong>und</strong>e. Der Satz 2.2<br />
besagt für gegebenes n ∈ Z, dass Folgendes wahr ist: (2|n) =⇒ (2|n 2 ). Hierfür haben wir<br />
einen direkten Beweis gegeben. Für den Satz<br />
(2|n 2 ) =⇒ (2|n) (3.1)<br />
ist ein direkter Beweis nicht so leicht zu finden; es empfiehlt sich, einen indirekten Beweis zu<br />
wählen, d.h., die Kontraposition<br />
(¬2|n) =⇒ (¬2|n 2 )<br />
zu beweisen. Dies ist einfacher, denn ¬2|n heißt, dass n ungerade ist, also von der Form n =<br />
2k + 1 mit einer ganzen Zahl k. Man rechnet dann sofort nach, dass auch n 2 ungerade ist.<br />
Auch andere Tautologien (allgemeingültige Gesetze) kann man über Wahrheitstafeln beweisen.<br />
7
(a) Doppelte Verneinung: ¬¬A ⇐⇒ A<br />
(b) Die Implikation ist äquivalent durch eine Verneinung <strong>und</strong> ein Oder ausdrückt werden:<br />
(A =⇒ B) ⇐⇒ (¬A ∨ B).<br />
In Worten: Die Aussage „Aus A folgt B.“ ist wahr genau dann, wenn gilt „A ist falsch oder<br />
B ist wahr“.<br />
(c) de Morgan’sche Gesetze:<br />
¬(A ∧ B) ⇐⇒ ((¬A) ∨ (¬B)),<br />
¬(A ∨ B) ⇐⇒ ((¬A) ∧ (¬B)).<br />
(d) Aus den obigen Gesetzen folgt eine Formel für die Negation einer Implikation:<br />
(<br />
¬(A =⇒ B)<br />
)<br />
⇐⇒ (A ∧ ¬B). (3.2)<br />
Aus (3.2) ergibt sich die Vorgehensweise eines Widerspruchsbeweises für A =⇒ B. Setze A<br />
voraus <strong>und</strong> ¬B (Annahme). Zeige, dass dies auf einen Widerspruch zu einer Aussage führt, von<br />
der bekannt ist, dass sie wahr ist. Schließe daraus, dass A∧¬B falsch ist <strong>und</strong> folglich A =⇒ B<br />
wahr. Ein Beweis durch Widerspruch für (3.1) verläuft wie folgt: Setze voraus, dass n 2 gerade<br />
ist; nimm an, dass n nicht gerade ist, also n = 2k + 1 für ein k ∈ Z; folgere, dass n 2 ungerade<br />
ist; Widerspruch.<br />
Die Standardjunktoren sind red<strong>und</strong>ant. Man kann etwa aus der Negation <strong>und</strong> der Konjunktion<br />
alle anderen Junktoren gewinnen, beispielsweise kann A ∨ B gleichwertig ersetzt werden durch<br />
¬((¬A) ∧ (¬B)).<br />
Andererseits sind auch andere Junktoren als die oben betrachteten möglich <strong>und</strong> nützlich. Dies<br />
gilt beispielsweise für das negierte Und, welches in der Schaltungsalgebra als NAND bekannt<br />
ist. In der Schaltungsalgebra verwendet man statt der Wahrheitswerte w <strong>und</strong> f in der Regel die<br />
Schaltwerte 1 <strong>und</strong> 0 (für Ein <strong>und</strong> Aus). In diesem Gebiet ist auch die XOR-Schaltung wichtig;<br />
diese stellt ein „entweder–oder“ dar.<br />
Die Sprache der Aussagenlogik in der bisher vorgestellten Form ist für die Mathematik noch<br />
nicht ausreichend. Wir benötigen Aussagen, die von Variablen x abhängen. Solche heißen Aussageformen<br />
oder Prädikate A(x). Die Variablen gehören einem gegebenen Kontext an; meist ist<br />
x Element einer Menge.<br />
Um auszudrücken, dass ein Prädikat von allen x oder von mindestens einem x erfüllt wird,<br />
benutzt man den Allquantor ∀ (=„für alle“) <strong>und</strong> den Existenzquantor ∃ (=„es gibt ein“):<br />
∀x : A(x) <strong>und</strong> ∃x : B(x)<br />
sind genau dann wahr, wenn für alle x (aus einer gebenen Menge) die Aussage A(x) wahr ist,<br />
bzw., wenn es mindestens ein x gibt, für das B(x) wahr ist. Der Satz 2.2 kann hiermit wie folgt<br />
formuliert werden:<br />
∀n ∈ Z : (2|n) =⇒ (2|n 2 ).<br />
Ein Beispiel für eine Verwendung des Existenzquantors ist die Formulierung einer Aussage über<br />
die Existenz einer Quadratwurzel aus 2:<br />
∃x : x 2 = 2.<br />
8
In der Vorlesung Analysis 1 wird bewiesen, dass die Aussage im Kontext reeller Zahlen wahr<br />
ist, wohingegen Satz 2.4 besagt, dass sie im Kontext rationaler Zahlen falsch ist.<br />
Man schreibt ∃! statt nur ∃, wenn man „es gibt genau ein“ sagen will, z.B.<br />
∃!x ∈ R : x 2 = 2 ∧ x > 0.<br />
Durch Quantoren werden die entsprechenden Variablen geb<strong>und</strong>en; sie sind außerhalb des<br />
Konstrukts „unsichtbar“ <strong>und</strong> man kann ohne Weiteres andere Variablennamen einsetzen:<br />
(<br />
∃x ∈ R : x 2 = 2 ) ⇐⇒ ( ∃a ∈ R : a 2 = 2 )<br />
In einer Formel treten oft mehrere Quantoren hintereinander auf:<br />
Beispiel: Die Aussage<br />
∀x ∃y : A(x, y) bedeutet ∀x : ( ∃y : A(x, y) ) .<br />
∃x m ∈ D ∀x ∈ D : f(x) ≤ f(x m )<br />
besagt, wenn sie wahr ist, dass f : D → R eine Maximumstelle x m hat. Vertauscht man die<br />
Reihenfolge der beiden Quantoren, dann erhält man eine völlig andere Aussage. Ein noch einfacheres<br />
Beispiel dafür, dass ein Vertauschen eines Allquantors mit einem Existenzquantor zu<br />
inäquivalenten Aussagen führt, sind die Aussagen:<br />
∀x ∈ R ∃y ∈ R : x < y<br />
∃y ∈ R ∀x ∈ R : x < y<br />
In der Tat, die erste Aussage ist wahr, die zweite falsch.<br />
Zwei aufeinanderfolgende Allquantoren kann man dagegen vertauschen, ohne dabei die Aussage<br />
zu verändern. Beispiel: Die Definition 1.1 dafür, dass eine Funktion f : D → R streng<br />
monoton steigend heißt, kann mit Quantoren wie folgt geschrieben werden:<br />
Dies ist gleichwertig zu<br />
Man schreibt daher kürzer<br />
∀x 1 ∈ D ∀x 2 ∈ D : ( x 1 < x 2 =⇒ f(x 1 ) < f(x 2 ) ) .<br />
∀x 2 ∈ D ∀x 1 ∈ D : ( x 1 < x 2 =⇒ f(x 1 ) < f(x 2 ) ) .<br />
∀x 1 , x 2 ∈ D : x 1 < x 2 =⇒ f(x 1 ) < f(x 2 ).<br />
Entsprechend kann man auch aufeinanderfolgende Existenzquantoren vertauschen.<br />
Die Negation von Quantoren erfolgt nach einfachen Rechenregeln:<br />
(<br />
¬∀x : A(x)<br />
)<br />
⇐⇒<br />
(<br />
∃x : ¬A(x)<br />
)<br />
,<br />
(<br />
¬∃x : A(x)<br />
)<br />
⇐⇒<br />
(<br />
∀x : ¬A(x)<br />
)<br />
.<br />
Die Verneinung einer Existenzaussage ist eine Allaussage <strong>und</strong> umgekehrt.<br />
9
Eine Anwendung auf die obige Definition der strengen Monotonie liefert, dass eine Funktion<br />
f : D → R genau dann nicht streng monoton steigend ist, wenn gilt<br />
also, im Einklang mit der Intuition,<br />
∃x 1 , x 2 ∈ D : ¬(x 1 < x 2 =⇒ f(x 1 ) < f(x 2 )),<br />
∃x 1 , x 2 ∈ D : ¬(x 1 < x 2 ∧ f(x 1 ) ≥ f(x 2 )).<br />
Will man eine Aussage beweisen, in der ein Allquantor auftritt, z.B. ∀x ∈ X : A(x), dann hat<br />
sich folgendes Beweismuster bewährt.<br />
Beweis: Sei x ∈ X (beliebig). Wir beweisen, dass A(x) wahr ist. . . .<br />
Dieses Vorgehen haben wir bereits im Beweis des Satzes 1.3 kennengelernt. Wir illustrieren es<br />
mit einem weiteren Beispiel, welches nach dem Schema Definition–Satz–Beweis aufgebaut ist.<br />
3.2 Definition. Eine Funktion f : D → R, D ⊂ R, heißt nach oben beschränkt genau dann,<br />
wenn gilt<br />
∃M ∈ R ∀x ∈ D : f(x) ≤ M.<br />
Man nennt M dann eine obere Schranke für f.<br />
Durch Negation erhalten wir, dass f genau dann nicht nach oben beschränkt ist, wenn gilt:<br />
∀M ∈ R ∃x ∈ D : f(x) > M (3.3)<br />
3.3 Satz. Die Funktion f : [0, ∞[→ R, f(x) = √ x, ist nicht nach oben beschränkt.<br />
Beweis. Sei M ∈ R beliebig. Wähle eine reelle Zahl y ≥ 0 mit M < y. Setze x = y 2 . Dann ist<br />
x ∈ [0, ∞[ <strong>und</strong> es gilt M < y = f(x). Wir haben gezeigt, dass (3.3) gilt.<br />
3.4 Bemerkung. Man beachte, dass hier vollständige deutsche Sätze ausgeschrieben wurden.<br />
Dabei wurden mathematische Symbole sinnvoll in die Sprache integriert. Es ist sehr wichtig <strong>und</strong><br />
nützlich, diesem bewährten Vorgehen zu folgen. Oberste Priorität hat in der Mathematik (<strong>und</strong><br />
oft auch anderswo), dass das Gesagte <strong>und</strong> Geschriebene klar <strong>und</strong> übersichtlich ist. Der Leser ist<br />
der Richter darüber, ob das im Einzelfall gelungen ist.<br />
Übungsaufgaben.<br />
(i) Definiere alle (Standard-)Junktoren mit Hilfe der Negation <strong>und</strong> der Disjunktion.<br />
(ii) Seien A, B <strong>und</strong> C beliebige Aussagen. Welche der folgenden Aussagen sind Tautologien?<br />
a) ((C =⇒ A) ∧ ¬A) =⇒ ¬C,<br />
b) (B ∨ (B =⇒ A)) =⇒ A,<br />
c) ((A =⇒ B) ∧ ¬B) ⇐⇒ (¬(¬A ∨ B) ∧ ¬B).<br />
(iii) Formuliere Satz 2.4 mit Quantoren.<br />
(iv) Ist die folgende Aussage eine Tautologie?<br />
((A =⇒ B) =⇒ A) =⇒ A<br />
10
(v) Beweise die Quantorenregeln:<br />
((∀x : A(x)) ∨ (∀x : B(x))) =⇒ (∀x : A(x) ∨ B(x))<br />
(∃x : A(x) ∧ B(x)) =⇒ ((∃x : A(x)) ∧ (∃x : B(x)))<br />
Sind die Implikationen sogar Äquivalenzen?<br />
(vi) Formuliere folgende Aussagen nur mit Hilfe der Standardjunktoren <strong>und</strong> der Quantoren ∀<br />
<strong>und</strong> ∃:<br />
a) Es gibt genau ein x mit der Eigenschaft A(x).<br />
b) Es gibt mindestens zwei x mit der Eigenschaft A(x).<br />
4 Mengen<br />
Der Schöpfer der Mengenlehre ist Georg Cantor. Er umschreibt Mengen als Zusammenfassungen<br />
von Objekten zu einem Ganzen. Die Objekte heißen Elemente der betreffenden Menge.<br />
In der Mathematik interessieren uns nur mathematische Objekte, keine Äpfel <strong>und</strong> Birnen. Alle<br />
Konzepte der modernen Mathematik werden auf den Begrif der Menge zurückgeführt. Es zeigte<br />
sich früh in der Entwicklung der Mengenlehre, dass unlimitierte Mengenbildungen wie „die<br />
Menge aller Mengen“ zu Widersprüchen führen. Dies führte nachfolgend zur Herausbildung<br />
der axiomatischen Mengenlehre. Das Axiomensystem von Zermelo <strong>und</strong> Fraenkel ist die heute<br />
allgemein akzeptierte <strong>und</strong> bewährte Gr<strong>und</strong>lage. Wir werden die Axiome nicht systematisch behandeln,<br />
sondern wollen den praktischen Gebrauch der Mengenlehre in den Vordergr<strong>und</strong> stellen.<br />
Ist x ein Element der Menge M, so schreibt man x ∈ M, anderenfalls x ∉ M. Konkrete<br />
Mengen gibt man manchmal durch Aufzählung ihrer Elemente an, beispielsweise<br />
M 1 = {2, −3, √ 2, π}<br />
für eine endliche Menge bestimmter Zahlen, in der Regel aber über das sogenannte Aussonderungsprinzip<br />
durch eine definierende Eigenschaft, z.B.<br />
M 2 = {x ∈ R | x 3 − x > 0}.<br />
Durch Auflösen der Ungleichung x 3 − x > 0 sieht man ein, dass M 2 auch wie folgt angegeben<br />
werden kann:<br />
M 2 =] − 1, 0[∪]1, ∞[.<br />
Hier haben wir die Definitionen<br />
für ein (offenes) Intervall <strong>und</strong><br />
für eine Vereinigungsmenge benutzt.<br />
]a, b[:= {x ∈ R | (a < x) ∧ (x < b)}<br />
A ∪ B := {x | (x ∈ A) ∨ (x ∈ B)}<br />
11
Wir haben oben ein gr<strong>und</strong>legendes Prinzip der Mengenlehre verwendet, nämlich das Extensionalitätsprinzip:<br />
Zwei Mengen sind genau dann gleich, wenn sie dieselben Elemente haben.<br />
In Quantorensprache:<br />
∀x, y, z : ((z ∈ x) ⇐⇒ (z ∈ y)) ⇐⇒ (x = y) (4.1)<br />
Hier sind x, y <strong>und</strong> z Mengen, denn wir argumentieren stets im Kontext der Mengenlehre. (Auch<br />
Elemente von Mengen sind Mengen; dazu später mehr.) Das Extensionalitätsprinzip bringt zum<br />
Ausdruck, dass eine Menge vollständig durch ihre Elemente bestimmt ist <strong>und</strong> keine weiteren<br />
verborgenen Eigenschaften hat. Dieses Prinzip impliziert auch, dass keine Anordnung oder Reihung<br />
der Elemente einer Menge vorliegt; eine Menge ist keine Liste ihrer Elemente. Außerdem<br />
tritt kein Element mehrfach auf.<br />
Die leere Menge ist durch<br />
∅ := {x | x ≠ x}<br />
definiert. Sie hat keine Elemente, d.h. x ∈ ∅ ist für alle x falsch. Aus dem Extensionalitätsprinzip<br />
(4.1) folgt, dass es nur eine leere Menge gibt.<br />
4.1 Definition. Seien A <strong>und</strong> B Mengen. Dann heißt A eine Teilmenge von B, in Zeichen:<br />
A ⊆ B, genau dann, wenn gilt: ∀a ∈ A : a ∈ B. Gilt (A ⊆ B) ∧ (A ≠ B), dann heißt A eine<br />
echte Teilmenge von B <strong>und</strong> man schreibt dafür A ⊂ B. Man nennt B in dieser Situation eine<br />
(echte) Obermenge von A.<br />
4.2 Satz. Für alle Mengen A, B <strong>und</strong> C gelten:<br />
(i) (Reflexivität) A ⊆ A<br />
(ii) (A ⊆ B) ∧ (B ⊆ A) ⇐⇒ (A = B)<br />
(iii) (Transitivität) (A ⊆ B) ∧ (B ⊆ C) =⇒ (A ⊆ C)<br />
Beweis. Wir beweisen nur (ii). Dies ist eine Äquivalenzaussage. Wir beweisen die beiden Implikationsrichtungen<br />
separat. Zuerst die Richtung von links nach rechts: Es gelte A ⊆ B <strong>und</strong><br />
B ⊆ A. Es ist A = B zu zeigen. Für alle z gilt nach Voraussetzung z ∈ A =⇒ z ∈ B <strong>und</strong><br />
z ∈ B =⇒ z ∈ A, folglich z ∈ A ⇐⇒ z ∈ B. Nach (4.1) bedeutet dies, dass A = B gilt.<br />
Nun zur anderen Richtung: Wir setzen A = B voraus, also ∀z : z ∈ A ⇐⇒ z ∈ B. Dann gilt<br />
aber insbesondere ∀z : z ∈ A =⇒ z ∈ B, also A ⊆ B. Genauso folgt B ⊆ A.<br />
Besonders wichtig sind in der Mathematik die Mengen der natürlichen, ganzen, rationalen,<br />
reellen <strong>und</strong> komplexen Zahlen. Sie erfüllen die Inklusionen (Teilmengenbeziehungen)<br />
N ⊂ Z ⊂ Q ⊂ R ⊂ C.<br />
Der Zahlbegriff kann auf den einer Menge zurückgeführt werden. Wie dies geht soll erst später<br />
in der Vorlesung skizziert werden.<br />
Teilmengen der Koordinatenebene<br />
R 2 = {(x, y) | x ∈ R ∧ y ∈ R}<br />
12
lassen sich oft durch Skizzen veranschaulichen. Die Punkte des R 2 sind geordnete Koordinatenpaare<br />
(x, y). Es gilt<br />
(x 0 , y 0 ) = (x 1 , y 1 ) ⇐⇒ (x 0 = x 1 ∧ y 0 = y 1 ).<br />
Ein wichtiges Beispiel einer echten Teilmenge der Ebene ist die (offene) Einheitskreisscheibe<br />
K := {(x, y) ∈ R 2 | x 2 + y 2 < 1}.<br />
Geordnete Paare <strong>und</strong> das kartesische Produkt betrachten wir im nächsten Abschnitt genauer aus<br />
mengentheoretischer Sicht.<br />
In der Linearen Algebra wird R 2 mit einer natürlichen Vektorraumstruktur versehen; die Addition<br />
<strong>und</strong> Skalarmultiplikation sind komponentenweise definiert. Wir benutzen dies im Folgenden.<br />
Eine Teilmenge G ⊂ R 2 heißt eine affine Gerade, wenn es Punkte p, q ∈ R 2 mit p ≠ q<br />
gibt, sodass gilt<br />
G = {tq + (1 − t)p | t ∈ R}.<br />
Dies ist die durch die Punkte p <strong>und</strong> q verlaufende Gerade. Setzen wir v := q − p ∈ R 2 , dann ist<br />
v ≠ 0 <strong>und</strong> wir erhalten folgende Darstellung dieser Geraden:<br />
G = {p + tv | t ∈ R}.<br />
Man nennt diese Darstellung eine (die?) Punktrichtungsform der Geraden G. Man kann G auch<br />
mit geigneten a, b, d ∈ R, a 2 + b 2 = 1 in sogenannter Hesse’scher Normalform angeben:<br />
(Wie hängen a, b, d mit p <strong>und</strong> q zusammen?)<br />
G = {(x, y) ∈ R 2 | ax + by = d}.<br />
Übungsaufgaben.<br />
(i) Sind die Mengen ∅ <strong>und</strong> {∅} gleich?<br />
(ii) Die leere Menge ist Teilmenge jeder Menge. Warum?<br />
(iii) Beweise die Transitivität der Teilmengenbeziehung für Mengen A, B, C:<br />
(iv) Für welche a ∈ R gilt M a ⊆ [0, ∞[, wenn<br />
(v) Welche Mengen sind gleich?<br />
(A ⊆ B) ∧ (B ⊆ C) =⇒ (A ⊆ C)<br />
M a := {x ∈ R | x 3 − x > a}.<br />
{a}, {a, a}, {a, b}, {b, a}, {a, a, b}, {a, {a, b}}<br />
13
5 Operationen mit Mengen<br />
Es gibt Regeln für die Bildung neuer Mengen aus gegebenen Mengen. Sind A <strong>und</strong> B Mengen,<br />
dann hat man folgende elementaren Mengenbildungen:<br />
A ∪ B = {x | x ∈ A ∨ x ∈ B}<br />
A ∩ B = {x | x ∈ A ∧ x ∈ B}<br />
A \ B = {x | x ∈ A ∧ x ∉ B}<br />
(Vereinigung)<br />
(Durchschnitt)<br />
(Differenz)<br />
Aus den Rechenregeln für Junktoren folgende entsprechende Gesetze für diese Mengenbildungen,<br />
z.B.<br />
A ∩ (B ∪ C) = (A ∩ B) ∪ (A ∩ C), A ∪ ∅ = A, . . .<br />
Die Komplementbildung A c einer Menge A ist oft nützlich. Ihre Bildung setzt voraus, dass eine<br />
Gr<strong>und</strong>menge M vorliegt, in der A enthalten ist. Man definiert dann A c = M \ A. Hier sind<br />
einige einfache Beispiele:<br />
5.1 Beispiele.<br />
(i) {1, 3, 6} ∩ {2, 6} = {6}<br />
(ii) {1, 3, 6} ∪ {2, 6} = {1, 2, 3, 6}<br />
(iii) {1, 2, 5, 8, 9} \ {2, 3, 5, 7, 9} = {1, 8}<br />
(iv) {n 2 | n ∈ N} ∩ {2 n | n ∈ N} = {4 n | n ∈ N}<br />
(v) Die Teilmengen<br />
Q = {(x, y) | x > 0 ∧ y < 0}, K = {(x, y) | x 2 + y 2 < 1}<br />
der Gr<strong>und</strong>menge R 2 kann man gut skizzieren. Das Gleiche gilt für Q ∪ K, Q ∩ K, Q \ K<br />
<strong>und</strong> die Komplemente Q c <strong>und</strong> K c .<br />
5.2 Definition. Für eine Menge A heißt<br />
die Potenzmenge von A.<br />
P(A) = {B | B ⊆ A}<br />
Es gilt also B ∈ P(A) ⇐⇒ B ⊆ A. Das Potenzmengenaxiom der (axiomatischen) Mengenlehre<br />
fordert, dass für jede Menge ihre Potenzmenge existiert. Dies ist ein sehr starkes Mengenbildungsaxiom.<br />
Ein einfaches Beispiel ist<br />
Es gilt stets ∅, A ∈ P(A).<br />
P({a, b}) = {∅, {a}, {b}, {a, b}}.<br />
5.3 Beispiel. Affine Geraden sind nichtleere Teilmengen von R 2 . Die Menge aller Geraden, die<br />
den Nullpunkt enthalten, ist folgende Teilmenge von P(R 2 ):<br />
RP 1 = {G | G ist eine Gerade G ⊂ R 2 , 0 ∈ G}.<br />
14
Sie liegt dem eindimensionalen reellen projektiven Raum zugr<strong>und</strong>e; über diese wichtige mathematische<br />
Objekt werden hier nichts weiter sagen. In der mathematischen Theorie der Computertomografie<br />
(CT) spielt die Menge Γ aller affinen Geraden – ebenfalls eine Teilmenge von P(R 2 )<br />
– eine zentrale Rolle. Jeder Geraden G ∈ Γ ist ein Messwert zugeordnet, nämlich die Absorption<br />
der Röntgenstrahlung längs des durch die Gerade spezifizierten Strahles. (Die einzelnen<br />
Messwerte sind Integrale.)<br />
Spätestens die Potenzmenge macht deutlich, dass Mengen Elemente von Mengen sein können.<br />
Tatsächlich ist es so, dass Elemente von Mengen stets Mengen sind; es ist aber oft im jeweiligen<br />
Kontext unwichtig, aus welchen Elementen sie bestehen.<br />
Der Durchschnitt <strong>und</strong> die Vereinigung von Mengen kann nicht nur für zwei Mengen, sondern<br />
auch für endliche viele definiert werden. Mehr noch: Dank der Existenz von Potenzmengen kann<br />
man „große“ Durchschnitte <strong>und</strong> Vereinigungen gilden. Ein Mengensystem auf einer Menge A<br />
ist eine Teilmenge A ⊆ P(A). Man definiert zu einem solchen Mengensystem<br />
∪A = {x | ∃B ∈ A : x ∈ B},<br />
∩A = {x | ∀B ∈ A : x ∈ B}.<br />
(große Vereinigung)<br />
(großer Durchschnitt)<br />
Was versteht man unter einem geordneten Paar (a, b)?<br />
5.4 Satz. Für a, b, a ′ , b ′ gilt:<br />
{{a}, {a, b}} = {{a ′ }, {a ′ , b ′ }} ⇐⇒ a = a ′ ∧ b = b ′ .<br />
Beweis. Wir beweisen nur die Implikation „ =⇒ “. Dazu setzen wir voraus, dass<br />
{{a}, {a, b}} = {{a ′ }, {a ′ , b ′ }} (5.1)<br />
gilt. Im Beweis von a = a ′ ∧ b = b ′ unterscheiden wir die Fälle a ≠ b <strong>und</strong> a = b.<br />
Fall a ≠ b: Dann gilt {a} ⊂ {a, b} (echte Teilmenge). Dann ist auch die Menge auf der rechten<br />
Seite von (5.1) zweielementig, d.h. {a ′ } ≠ {a ′ , b ′ }, <strong>und</strong> weiter {a ′ } ⊂ {a ′ , b ′ }. Wäre {a} =<br />
{a ′ , b ′ }, dann erhielte man den Widerspruch<br />
{a ′ , b ′ } = {a} ⊂ {a, b} = {a ′ }.<br />
Somit muss gelten: {a} = {a ′ } <strong>und</strong> {a, b} = {a ′ , b ′ }. Aus der ersten Gleichung folgt a = a ′ ;<br />
wegen a ≠ b folgt aus der zweiten b = b ′ .<br />
Fall a = b: Dann gilt {a} = {a, b} = {a ′ } = {a ′ , b ′ }. Hieraus schließt man a = b = b ′ =<br />
a ′ .<br />
Das geordnete Paar zweier Elemente a <strong>und</strong> b definiert man mengentheoretisch wie folgt:<br />
(a, b) := {{a}, {a, b}}<br />
Aus dem Satz 5.4 folgt, dass diese Definition geordneter Paare die gewünschten Eigenschaften<br />
hat: (a, b) = (a ′ , b ′ ) gilt genau dann, wenn die Komponenten gleich sind; für a ≠ b ist auch<br />
15
(a, b) ≠ (b, a). Ein naiver Versuch einer Paardefinition als (a, b) = {a, b} hätte diese Eigenschaften<br />
nicht. Sind A <strong>und</strong> B nichtleere Mengen, dann ist ihr kartesisches Produkt die Menge<br />
A × B := {(a, b) | a ∈ A ∧ b ∈ B}.<br />
Allgemeiner definiert man kartesische Produkte mit mehreren Faktoren. Man schreibt A n für<br />
das kartesische Produkt n hgleicher Faktoren A.<br />
5.5 Beispiel. Sei K ⊂ R 2 die Einheitskreisscheibe. Das Produkt mit einem Intervall, z.B.<br />
ist ein Zylinder im dreidimensionalen Raum.<br />
K × [0, 1] ⊂ R 3 ,<br />
Übungsaufgaben.<br />
(i) Für Mengen A <strong>und</strong> B definiert man die symmetrische Differenz<br />
A∆B := (A \ B) ∪ (B \ A).<br />
Zeige oder widerlege, dass für alle Mengen A, B, C gilt:<br />
(i) A∆B = B∆A = (A ∪ B) \ (A ∩ B)<br />
(ii) (A∆B)∆C = A∆(B∆C)<br />
(iii) (A∆B) ∩ C = (A ∩ C)∆(B ∩ C)<br />
(ii) Bestimme A × B <strong>und</strong> A 2 für<br />
A = {1, 2},<br />
B = {a, b, c}.<br />
(iii) Gib alle Elemente der Menge P(P({3})) an.<br />
6 Relationen<br />
In der Mathematik tragen Mengen in der Regel zusätzliche Struktur. Strukturen werden oft<br />
durch Mengensysteme (Teilmengen der Potenzmenge) oder Relationen gegeben.<br />
6.1 Definition. Eine Relation auf einer Menge A ist eine Teilmenge R ⊆ A 2 . Man schreibt kurz<br />
xRy für (x, y) ∈ R.<br />
6.2 Beispiele. Hier sind Beispiele für Relationen auf Zahlbereichen.<br />
(i) Die Relation („Kleiner-Gleich“-Relation)<br />
≤= {(x, y) ∈ R 2 | x ≤ y}<br />
ist die Anordnung der reellen Zahlen.<br />
(ii) Die Relation {(n, n + 1) | n ∈ N} ⊂ N 2 ist die Relation zwischen einer natürlichen Zahl<br />
<strong>und</strong> ihrem Nachfolger.<br />
(iii) Für R = {(x, y) ∈ R 2 | |x − y| ≤ 1} drückt xRy aus, dass x <strong>und</strong> y voneinander einen<br />
Abstand ≤ 1 haben.<br />
16
(iv) Die Beziehung xRy mit<br />
R = {(x, y) ∈ R 2 | ∃k ∈ Z : y − x = 2πk}<br />
drückt aus, dass sich die Zahlen x <strong>und</strong> y nur durch ganzzahlige Vielfache von 2π unterscheiden.<br />
Diese Relation hat unter anderem die Eigenschaft der Transitivität, d.h. aus xRy<br />
<strong>und</strong> yRz folgt xRz.<br />
(v) Ist f : D → R, D ⊆ R eine Funktion, dann ist sein Graph<br />
G(f) := {(x, y) | x ∈ D ∧ y = f(x)}<br />
eine Relation.<br />
(vi) Auf der Menge der Menschen gibt es die Eltern-Kind-Relation.<br />
Folgende Struktureigenschaften von Relationen unterscheidet man: Eine Relation R auf A<br />
heißt<br />
(i) reflexiv, falls ∀x ∈ A : (x, x) ∈ R,<br />
(ii) symmetrisch, falls ∀x, y ∈ A : xRy =⇒ yRx,<br />
(iii) antisymmetrisch, falls ∀x, y ∈ A : xRy ∧ yRx =⇒ x = y,<br />
(iv) transitiv, falls ∀x, y, z ∈ A : xRy ∧ yRz =⇒ xRz.<br />
Ist R eine Relation auf A, dann auch ihre inverse Relation<br />
R −1 := {(x, y) | (y, x) ∈ R}.<br />
Offenbar ist R genau dann symmetrisch, wenn R −1 = R gilt <strong>und</strong> reflexiv genau dann, wenn sie<br />
∆(A) := {(x, x) | x ∈ A},<br />
die Diagonale von A, enthält. Die durch ∆(A) definierte Relation ist die Gleichheit auf A. Ist<br />
R ′ eine weitere Relation auf A, dann ist die Komposition von R mit R ′ die Relation<br />
R ◦ R ′ := {(x, z) ∈ A 2 | ∃y ∈ A : ((x, y) ∈ R) ∧ ((y, z) ∈ R ′ )}.<br />
6.3 Satz. Eine Relation R ist genau dann transitiv, wenn R ◦ R ⊆ R gilt.<br />
Beweis. Sei R transitiv. Wir zeigen: R ◦ R ⊆ R. Sei (x, y) ∈ R ◦ R. Nach Definition der<br />
Komposition existiert z mit (x, z), (z, y) ∈ R. Aus der Transitivität von R folgt (x, y) ∈ R.<br />
Zum Beweis der anderen Richtung setzen wir R ◦ R ⊆ R voraus. Wir zeigen, dass R transitiv<br />
ist. Seien (x, z), (z, y) ∈ R. Dann ist (x, y) ∈ R ◦ R ⊆ R.<br />
Die wichtigsten Typen von Relationen sind die Äquivalenzrelationen, die Ordnungen <strong>und</strong> die<br />
Funktionen.<br />
6.4 Definition. Eine Relation R auf einer Menge A heißt<br />
(i) eine Äquivalenzrelation, wenn sie reflexiv, symmetrisch and transitiv ist,<br />
(ii) eine (partielle) Ordnung, wenn sie reflexiv, antisymmetrisch and transitiv ist.<br />
17
Wir befassen uns zunächst mit Äquivalenzrelationen. Ein Beispiel einer solchen ist in 6.2(iv)<br />
gegeben. Man verwendet Äquivalenzrelationen, um Objekte als gleich anzusehen, falls sie sich<br />
nur in unwesentlichen Aspekten unterscheiden. Äquivalenzrelationen werden oft mit ∼, ∼ = oder<br />
≡ bezeichnet. Eine Äquivalenzrelation ∼⊆ A 2 auf A zerlegt A in disjunkte Teilmengen, die<br />
Äquivalenzklassen<br />
C a = {x ∈ A | x ∼ a}, a ∈ A.<br />
(In [Dei10] wird C a mit a/ ∼ bezeichnet.) Wegen der Reflexivität ist C a ≠ ∅ für jedes a ∈ A.<br />
6.5 Satz. Aus C a ∩ C b ≠ ∅ folgt C a = C b .<br />
Beweis. Es gelte C a ∩ C b ≠ ∅. Wähle ein Element c ∈ C a ∩ C b .<br />
Wir haben zu zeigen: C a = C b . Wir zeigen zuerst, dass C a ⊆ C b gilt. Sei dazu x ∈ C a , also<br />
x ∼ a. Da c ∈ C a ist, gilt c ∼ a. Wegen der Symmetrie von ∼ folgt a ∼ c. Mit der Transitivität<br />
erhält man weiter x ∼ c. Wegen c ∈ C b gilt c ∼ b. Mit der Transitivität erhalten wir schließlic<br />
x ∼ b, also x ∈ C b .<br />
Die Inklusion C b ⊆ C a beweist man genauso. Aus C a ⊆ C b <strong>und</strong> C b ⊆ C a folgt C a = C b .<br />
6.6 Folgerung. Es gilt C a ∩ C b ≠ ∅ ⇐⇒ C a = C b .<br />
Eine Äquivalenzrelation zerlegt eine Menge in nichtleere, disjunkte Teilmengen, die Äquivalenzklassen:<br />
A = ⋃ {C a | a ∈ A}.<br />
6.7 Definition. Eine Zerlegung (oder Partition) einer Menge A ist ein Mengensystem Z ⊂<br />
P(A), für das gilt:<br />
(i) ∅ ∉ Z,<br />
(ii) ∀Z 1 , Z 2 ∈ Z : Z 1 ∩ Z 2 ≠ ∅ =⇒ Z 1 = Z 2 ,<br />
(iii) A = ⋃ Z.<br />
Umgekehrt definiert eine Zerlegung eine Äquivalenzrelation.<br />
6.8 Satz. Sei Z ⊆ P(A) eine Zerlegung einer gegebenen Menge A. Dann ist<br />
∼:= {(x, y) ∈ A 2 | ∃Z ∈ Z : x, y ∈ Z}<br />
eine Äquivalenzrelation auf A. Die Äquivalenzklassen von ∼ sind genau die Elemente der Zerlegung<br />
Z.<br />
Beweis. Reflexivität: Sei x ∈ A = ∪Z. Es gibt also ein Z ∈ Z mit x ∈ Z; folglich ist x ∼ x.<br />
Symmetrie: Es gelte x ∼ y, d.h. es gibt ein Z ∈ Z mit x, y ∈ Z. Nach Definition von ∼ (<strong>und</strong><br />
der Kommutativität des Junktors ∧) gilt dann auch y ∼ x. Transitivität: Es gelte x ∼ y <strong>und</strong><br />
y ∼ z; d.h. es gibt Z 1 , Z 2 ∈ Z, sodass x, y ∈ Z 1 <strong>und</strong> y, z ∈ Z 2 gilt. Wegen y ∈ Z 1 ∩ Z 1 ist<br />
Z 1 ∩ Z 1 ≠ ∅, folglich Z 1 = Z 2 nach Definition von Zerlegungen. Somit ist x, z ∈ Z 1 , also<br />
x ∼ z.<br />
Sei Z ∈ Z. Da Z nichtleer ist existiert ein a ∈ Z. Nach Definition von Äquivalenzklassen ist<br />
Z = C a .<br />
18
Die Menge aller Äquivalenzklassen ist eine neue Menge, die Faktormenge (oder der Faktorraum)<br />
von A modulo ∼:<br />
A/ ∼:= {C a | a ∈ A} = {a/ ∼| a ∈ A}.<br />
Für das durch ein Element a ∈ A definierte Element in A/ ∼ sind außer C a oder a/ ∼ auch<br />
Bezeichnungen wie [a] oder ȧ gebräuchlich. Wie schreiben meist [a] ∈ A/ ∼.<br />
6.9 Beispiele. Hier sind Beispiele für Äquivalenzrelationen, ihre Äquivalenzklassen <strong>und</strong> Faktormengen.<br />
(i) Die im Beispiel 6.2(iv) definierte Relation<br />
x ∼ y ⇐⇒ ∃k ∈ Z : y − x = 2πk<br />
ist eine Äquivalenzrelation. Markiert man auf dem Umfang eines kreisförmigen Rades mit<br />
Radius 1 einen Punkt <strong>und</strong> rollt dann das Rad die reelle Achse entlang, dann berührt der<br />
Punkt jeden Punkt einer (durch die Lage des Punktes ausgewählten) Äquivalenzklasse<br />
C a = {a + 2πk | k ∈ Z} =: {a} + 2πZ.<br />
Den Faktorraum kann man mit der Kreislinie S 1 (gleich Umfangskreis des Rades) identifizieren.<br />
Dieser rein mengentheoretisch definierten Kreislinie S 1 fehlt noch eine Zuordnung<br />
ihrer geometrischen Eigenschaften.<br />
(ii) Sei 1 < q ∈ Z. Auf Z erhalten wir eine Äquivalenzrelation durch<br />
x ∼ q y ⇐⇒ ∃k ∈ Z : y − x = kq.<br />
Man sagt auch, dass x congruent y modulo q ist. Die zu x ∈ Z gehörige Äquivalenzklasse<br />
ist<br />
[x] = {x + kq ∈ Z | k ∈ Z} ∈ Z q .<br />
Dabei schreiben wir, wie es üblich ist, Z q für den Faktorraum Z/ ∼ q . Wir können auf Z q<br />
auf folgende Weise eine Multiplikation definieren<br />
[x] · [y] := [xy].<br />
Diese Multiplikation können wir aber erst dann als sinnvoll anerkennen, wenn Folgendes<br />
– die Wohldefiniertheit – gezeigt wurde:<br />
(<br />
([x] = [x ′ ]) ∧ ([y] = [y ′ ]) ) =⇒ ([xy] = [x ′ y ′ ])<br />
Dass dies gilt, folgt aus<br />
(<br />
(x ′ = x + kq) ∧ (y ′ = y + jq) ) =⇒ (x ′ y ′ = xy + lq),<br />
wobei l = xj + yk + kjq ∈ Z. Analog definiert man die Addition.<br />
(iii) Auf der Menge aller Dreiecke in der Ebene hat man mit der Kongruenz <strong>und</strong> der Ähnlichkeit<br />
zwei verschiedene Äquivalenzrelationen.<br />
19
Im Umgang mit Faktormengen ist es sinnvoll, Repräsentanten auszuwählen, d.h. aus jeder<br />
Äquivalenzklasse genau ein Element herauszugreifen. Im Falle von ∼ q repräsentieren die Elemente<br />
0, 1, . . . , q − 1 alle Äquivalenzklassen:<br />
Z q = {[0], [1], . . . , [q − 1]}<br />
Man sagt, dass 0, 1, . . . , q − 1 ein vollständiges Repräsentantensystem bilden.<br />
Wir befassen uns jetzt mit Ordnungen, d.h. Relationen, die reflexiv, transitiv <strong>und</strong> antisymmetrisch<br />
sind. Eine durch ≤ geordnete Menge A heißt linear geordnet, wenn gilt:<br />
∀x, y ∈ A : (x ≤ y) ∨ (y ≤ x).<br />
Man fordert von einer Ordnung allgemein nicht, dass sie linear ist; dies betont man dadurch,<br />
dass man Ordnungen auch partielle Ordnungen nennt.<br />
6.10 Beispiele. Hier sind Beispiele für (partielle) Ordnungen auf Mengen.<br />
(i) Die Menge R der reellen Zahlen mit ≤. Diese Ordnung ist linear, d.h. für x, y ∈ R gilt<br />
x ≤ y oder y ≤ x.<br />
(ii) Die Potenzmenge P = P(M) einer Menge M mit der durch die Teilmengenbeziehung<br />
gegebenen Ordnung ⊆. Reflexivität, Antisymmetrie <strong>und</strong> Transitivität gelten: A ⊆ A; aus<br />
A ⊆ B <strong>und</strong> B ⊆ A folgt A = B; aus A ⊆ B <strong>und</strong> B ⊆ C folgt A ⊆ C. Die Ordnung ist<br />
i.A. nicht linear, denn für zwei Mengen A <strong>und</strong> B muss weder A ⊆ B noch B ⊆ A gelten.<br />
(iii) Wörter ordnet man meist lexikographisch.<br />
Man schreibt a < b für a ≤ b ∧ a ≠ b. Außerdem schreibt man a ≥ b <strong>und</strong> a > b statt b ≤ a<br />
bzw. b < a.<br />
Die lexikographische Ordnung leitet sich her aus folgender Ordnung eines kartesischen Produktes<br />
C = A × B zu gegebenen Ordnungen auf den Faktoren A <strong>und</strong> B:<br />
(a, b) ≤ C (a ′ , b ′ ) : ⇐⇒ a < A a ′ ∨ (a = a ′ ∧ b ≤ B b ′ )<br />
Ordnungen von (kleinen endlichen) Mengen kann sich durch Diagramme mit Pfeilen veranschaulichen.<br />
Die bisher betrachten Relationen R sind zweistellige Relationen auf einer gegebenen Menge<br />
A, d.h. R ⊆ A 2 . Ein m-stellige Relation auf A ist eine Teilmenge R ⊆ A m , m ∈ N. Allgemeiner<br />
betrachtet man Relationen zwischen Mengen A 1 , . . . , A m , die nicht notwendig gleich sein<br />
müssen: R ⊆ A 1 × · · · × A m . Setzt man A = A 1 ∪ · · · ∪ A m , dann sieht man, dass so tatsächlich<br />
keine größere Allgemeinheit erzielt wird. Elemente eines m-fachen kartesischen Produktes,<br />
insbesondere Elemente<br />
(a 1 , . . . , a m ) ∈ R ⊆ A 1 × · · · × A m<br />
einer m-stelligen Relation nennt man m-Tupel.<br />
Relationale Datenbanksysteme sind praktische Anwendungen des mathematischen Konzepts<br />
Relation. Man spricht in diesem Zusammenhang statt von Relationen auch von Tabellen.<br />
Übungsaufgaben.<br />
(i) Gibt es Relationen, die sowohl Äquivalenzrelationen als auch Ordnungen sind?<br />
20
(ii) Sei A eine Menge. Sei P ⊂ A, P ≠ ∅. Setze Q = A \ P . Zeige, dass<br />
(P × P ) ∪ (Q × Q)<br />
eine Äquivalenzrelation auf A ist.<br />
(iii) Sei q ∈ N, q > 1. Definiere Z q = Z/ ∼ q wie im Beispiel 6.9(ii). Dort wurde eine die<br />
Multiplikation [x] · [y] := [xy] eingeführt, <strong>und</strong> es wurde gezeigt, dass diese wohldefiniert<br />
ist.<br />
(a) Zeige, dass für [x], [y] ∈ Z q folgende Addition sinnvoll definiert ist:<br />
[x] + [y] := [x + y] ∈ Z q .<br />
(b) Für welche x <strong>und</strong> y gilt [x] + [y] = [0]?<br />
(c) Aus der linearen Algebra ist der Begriff des Körpers bekannt. Unter welchen Voraussetzungen<br />
an q ist Z q mit obiger Addition <strong>und</strong> Multiplikation ein Körper?<br />
(d) Wie könnte man die Schreibweise im Umgang mit Elementen von Z q vereinfachen?<br />
(iv) Für einen Punkt (x, y) ∈ R 2 der Koordinatenebene bezeichnet<br />
‖(x, y)‖ := √ x 2 + 4y 2<br />
einen Abstand vom Koordinatenursprung (0, 0), wobei die Koordinatenachsen unterschiedlich<br />
skaliert sind.<br />
(a) Zeige, dass durch<br />
(x, y) ∼ (x ′ , y ′ ) : ⇐⇒ ‖(x, y)‖ = ‖(x ′ , y ′ )‖<br />
auf R 2 eine Äquivalenzrelation gegeben ist.<br />
(b) Skizziere die Äquivalenzklassen.<br />
(c) Die Faktormenge R 2 / ∼ kann man mit dem Intervall [0, ∞[ identifizieren. Wie?<br />
(d) Ist durch<br />
(x, y) ≤ (x ′ , y ′ ) : ⇐⇒ ‖(x, y)‖ ≤ ‖(x ′ , y ′ )‖<br />
eine partielle Ordnung auf R 2 gegeben?<br />
7 Funktionen<br />
Funktionen oder Abbildungen gehören zu den wichtigsten Objekten der Mathematik. Eine Funktion<br />
f von einer Menge A in eine Menge B ordnet jedem Element aus A genau ein Element aus<br />
B zu. Man schreibt:<br />
f : A → B, x ↦→ f(x).<br />
Man nennt A den Definitionsbereich <strong>und</strong> B den Bildbereich von f. Sind A, B ⊆ R, dann<br />
veranschaulicht man f in vielen Fällen durch seinen Graphen.<br />
7.1 Beispiele. Wir betrachten einige Beispiele für Abbildungen.<br />
(i) Die Quadratfunktion f : R → R, x ↦→ x 2 . Sein Graph ist die durch y = x 2 gegebene<br />
Normalparabel in der xy-Ebene.<br />
21
(ii) Die positive Wurzel aus einer positiven Zahl ergibt eine Funktion g :]0, ∞[→]0, ∞[, x ↦→<br />
√ x. Durch x ↦→ ±<br />
√ x ist keine Funktion definiert, da die Funktionswerte nicht eindeutig<br />
bestimmt sind.<br />
(iii) Die Sinusfunktion sin : R → R.<br />
(iv) f : R → R,<br />
f(x) =<br />
{<br />
sin x<br />
x<br />
, falls x ≠ 0,<br />
1, falls x = 0.<br />
(v) Eine Funktion f : R → R, deren Graphen man nicht skizzieren kann: f(x) = 1 n falls<br />
x eine rationale Zahl ungleich Null ist, die als vollständig gekürzter Bruch x = m n<br />
mit<br />
m, n ∈ Z, n > 0 darstellbar ist.<br />
(vi) Sei q ∈ N, q > 1. Definiere Z q wie im Beispiel 6.9(ii). Durch f : Z → Z q , x ↦→ [x] ist<br />
eine Funktion definiert.<br />
(vii) Die Addition reeller Zahlen ist eine Abbildung: R 2 → R, (x, y) ↦→ x + y.<br />
(viii) Bezeichne F die Menge aller Funktionen f : R → R <strong>und</strong><br />
D = {f ∈ F | f ist differenzierbar}<br />
die Menge aller differenzierbaren Funktionen. Dann ist die Ableitung d : D → F , f ↦→ f ′<br />
eine Abbildung.<br />
Die Begriffe Abbildung <strong>und</strong> Funktion sind zwar synonym; es ist aber oft so, dass der Begriff<br />
der Funktion bevorzugt verwendet wird, wenn der Bildbereich ein Körper ist. Ist der Definitionsbereich<br />
die Menge der natürlichen Zahlen, dann spricht man meist von einer Folge statt einer<br />
Abbildung.<br />
Wir haben Funktionen in traditioneller Weise als Zuordnungen eingeführt. Mit dem Begriff<br />
Zuordnung verbindet man eine Anschauung; er ist aber als Begriff von vornherein genauso wenig<br />
definiert wie der der Funktion. Dank der Mengenlehre kann man Abbildungen <strong>und</strong> Funktionen<br />
als gewisse Relationen definieren.<br />
7.2 Definition. Eine Abbildung (oder Funktion) von einer Menge A in eine Menge B ist eine<br />
nichtleere Relation f ⊆ A × B, welche rechtseindeutig ist, d.h. es gilt:<br />
∀(x 1 , y 1 ), (x 2 , y 2 ) ∈ f : x 1 = x 2 =⇒ y 1 = y 2<br />
Man nennt D f = {x ∈ A | ∃y ∈ B : (x, y) ∈ f} den Definitionsbereich von f. Ist D f = A,<br />
dann heißt f eine auf A definierte Abbildung. Man schreibt f : A → B <strong>und</strong> y = f(x) bedeutet<br />
(x, y) ∈ f.<br />
Die mengentheoretische Definition einer Funktion macht also keinen Unterschied zwischen<br />
einer Funktion <strong>und</strong> ihrem Graphen (= Teilmenge von A × B).<br />
7.3 Beispiele. Die folgenden Abbildungen sind f<strong>und</strong>amental.<br />
(i) Die identische Abbildung id A : A → A, x ↦→ x ist durch die Diagonale id A = {(x, x) |<br />
x ∈ A} gegeben.<br />
22
(ii) Die Projektion p 1 : A × B → B, (a, b) ↦→ a auf den ersten Faktor eines kartesischen<br />
Produktes ist wie folgt gegeben:<br />
p 1 = {((a, b), a) | a ∈ A, b ∈ B} ⊆ (A × B) × A.<br />
Analog ist die Projektion auf den zweiten Faktor definiert.<br />
Für Abbildungen f : A → B sind folgende Fragen von Interesse. Wir ein Wert höchstens<br />
einmal angenommen? Ist jedes Element in B Wert von fß<br />
7.4 Definition. Eine Abbildung f : A → B heißt injektiv, wenn sie linkseindeutig ist, d.h.,<br />
wenn gilt<br />
∀x 1 , x 2 ∈ A : f(x 1 ) = f(x 2 ) =⇒ x 1 = x 2 .<br />
Sie heißt surjektiv, wenn gilt<br />
∀b ∈ B∃a ∈ A : b = f(a).<br />
Sie heißt bijektiv, wenn sie injektiv <strong>und</strong> surjektiv ist.<br />
Man nennt f(A) := {f(x) | x ∈ A} den Wertebereich von f : A → B. Hiermit gilt: f ist<br />
genau dann surjektiv, wenn f(A) = B gilt.<br />
7.5 Beispiele. (i) Projektionen sind surjektiv. Die Projektion p A : A × B → A, (a, b) ↦→ a<br />
ist genau dann injektiv, wenn B einelementig ist.<br />
(ii) Die Identität ist bijektiv.<br />
(iii) Die Funktion f : N → N, n ↦→ n 2 ist injektiv, aber nicht surjektiv.<br />
(iv) Die Funktion f : Z → Z, n ↦→ n 2 ist weder injektiv noch surjektiv.<br />
(v) Die Funktion f : [0, 2] → [0, 4], x ↦→ x 2 ist bijektiv. Die Surjektivität folgt aus der<br />
Tatsache, dass man aus jeder positiven reellen Zahl eine Wurzel ziehen kann.<br />
Für reellwertige Funktionen stellt die Analysis Hilfsmittel bereit für die Untersuchung von<br />
Funktionen.<br />
7.6 Satz. Streng monoton steigende (oder fallende) Funktionen sind injektiv.<br />
Beweis. Sei f : D ⊆ R → R streng monoton steigend. Seien x 1 , x 2 ∈ D mit f(x 1 ) = f(x 2 ).<br />
Zu zeigen ist: x 1 = x 2 . Annahme x 1 ≠ x 2 . Dann ist x 1 < x 2 oder x 2 < x 1 . Ist x 1 < x 2 ,<br />
dann ist f(x 1 ) < f(x 2 ) wegender strengen Monotonie. Dies widerspricht der Voraussetzung<br />
f(x 1 ) = f(x 2 ). Ebenso führt x 2 < x 1 auf einen Widerspruch. Somit ist die Annahme falsch,<br />
<strong>und</strong> der Satz ist bewiesen.<br />
Zusammen mit dem Satz 1.3 erhalten wir:<br />
7.7 Folgerung. Sei I ein Intervall. Sei f : I → R differenzierbar mit (überall) positiver Ableitung.<br />
Dann ist f injektiv.<br />
7.8 Beispiele. (i) Die Exponentialfunktion exp : R → R, x ↦→ e x ist injektiv, denn (e x ) ′ =<br />
e x > 0.<br />
23
(ii) Die kubische Parabel f : R → R, x ↦→ x 3 ist injektiv; denn f ′ (x) = 3x 2 > 0 für x ≠ 0<br />
<strong>und</strong> f(−x) < f(0) < f(x) für alle x > 0.<br />
Die Surjektivität reeller Funktionen beweist man oft mit Hilfe des Zwischenwertsatzes der<br />
Analysis. Intervalle sind bekanntlich jene Teilmengen von R die mit zwei Punkten auch alle<br />
Zwischenpunkte enthalten.<br />
7.9 Satz (Zwischenwertsatz). Sei f : I → R stetig auf einem Intervall. Dann ist der Wertebereich<br />
f(I) ebenfalls ein Intervall.<br />
Die Definition stetiger Funktionen <strong>und</strong> ein Beweis des Zwischenwertsatzes werden in der<br />
Vorlesung Analysis 1 gegeben.<br />
Viele Funktionen f : R → R sind offensichtlich nicht surjektiv. Beispielsweise liegt der<br />
Wertebereich der Exponentialfunktion in der Menge der positiven reellen Zahlen, <strong>und</strong> wegen<br />
cos 2 x + sin 2 x = 1 sind die Wertebereich der Sinus- <strong>und</strong> der Kosinusfunktion im Intervall<br />
[−1, 1] enthalten. Die Frage nach der Sujektivität ist dann erst dann sinnvoll, wenn man den<br />
Bildbereich geeignet einschränkt.<br />
7.10 Beispiel. Die Sinusfunktion sin : R → [−1, 1] ist surjektiv, denn sie ist stetig <strong>und</strong> es gelten<br />
sin(−π/2) = −1 <strong>und</strong> sin(π/2) = 1.<br />
7.11 Beispiel. Die Exponentialfunktion exp : R → R + , x ↦→ e x ist surjektiv; hier ist R + :=<br />
]0, ∞[. Man zeigt zunächst, dass es zu gegebenem y > 0 ein n ∈ N gibt mit e −n < y < e n . Der<br />
Zwischenwertsatz impliziert, dass es ein x ∈] − n, n[ gibt mit exp(x) = y.<br />
Es ist hier – <strong>und</strong> generell in der Analysis – wichtig, mit den reellen Zahlen zu arbeiten. Beispielsweise<br />
besitzt die Gleichung sin x = 1/2 keine rationale Lösung.<br />
7.12 Definition. Seien f : A → B <strong>und</strong> g : B → C Abbildungen. Die durch<br />
g ◦ f : A → C,<br />
x ↦→ g(f(x))<br />
definierte Abbildung heißt die Verkettung von f <strong>und</strong> g. Um die Reihenfolge in der Verkettung<br />
zu betonen, liest man „g nach f“.<br />
Fasst man die Abbildungen als Relationen auf, dann kann man die Verkettung auch wie folgt<br />
schreiben:<br />
g ◦ f = {(x, y) | ∃z ∈ B : (x, z) ∈ f ∧ (z, y) ∈ g}<br />
(Leider ist die Verkettung nicht identisch mit der früher eingeführten Verkettung von Relationen.)<br />
Sind f j : A → B j Abbildungen für j = 1, 2, dann ist<br />
f 1 × f 2 : A → B 1 × B 2 ,<br />
x ↦→ (f 1 (x), f 2 (x))<br />
auch eine Abbildung, das kartesische Produkt von f 1 <strong>und</strong> f 2 .<br />
24
7.13 Beispiel. Die Addition zweier reellwertiger Funktionen f, g : R → R kann man als eine<br />
Verkettung schreiben:<br />
(f + g)(x) = (a ◦ (f × g)(x) = f(x) + g(x),<br />
wobei a : R 2 → R, (x, y) → x + y die Addition von Zahlen ist.<br />
Injektivität <strong>und</strong> Surjektivität einer Funktion kann man als Aussagen über die Lösbarkeit von<br />
Gleichungen interpretieren. Sie sind andererseits notwendige Voraussetzungen für die Existenz<br />
von Umkehrfunktionen.<br />
7.14 Satz. Seien f : A → B <strong>und</strong> g : B → A mit g ◦f = id A . Dann ist f injektiv <strong>und</strong> g surjektiv.<br />
Beweis. Injektivität von f: Seien x 1 , x 2 ∈ A mit f(x 1 ) = f(x 2 ). Dann folgt x 1 = x 2 aus:<br />
x 1 = id A (x 1 ) = (g ◦ f)(x 1 ) = g(f(x 1 )) = g(f(x 2 )) = · · · = x 2 .<br />
Surjektivität von g: Sei a ∈ A. Setze b = f(a) ∈ B. Dann ist a = g(b), denn g(b) = (g◦f)(a) =<br />
a.<br />
7.15 Definition. Sei f : A → B eine Abbildung. Ist g : B → A eine Abbildung mit g ◦f = id A<br />
<strong>und</strong> f ◦ g = id B , dann heißt g eine Umkehrabbildung von f.<br />
7.16 Beispiel. Der natürliche Logarithmus ln : R + → R ist die Umkehrfunktion der Exponentialfunktion.<br />
7.17 Satz. Eine Abbildung f : A → B besitzt genau dann eine Umkehrabbildung wenn f<br />
bijektiv ist. Die Umkehrabbildung ist eindeutig <strong>und</strong> wird mit f −1 bezeichnet.<br />
Beweis. Aus Satz 7.14 folgt die Bijektivität von f, falls f eine Umkehrabbildung besitzt. Zum<br />
Beweis der anderen Richtung der Äquivalenz sei f bijektiv. Die Relation<br />
f −1 := {(y, x) ∈ B × A | (x, y) ∈ f}<br />
ist rechtseindeutig, da f linkseindeutig (injektiv) ist. Da f surjektiv ist, existiert zu jedem y ∈ B<br />
ein x ∈A mit y = f(x), also (y, x) ∈ f −1 . Es folgt, dass f −1 eine auf B definierte Abbildung<br />
ist. Weiter gilt<br />
denn f ist injektiv. Schließlich gilt noch<br />
da f surjektiv <strong>und</strong> rechtseindeutig ist.<br />
f −1 ◦ f = {(x, y) | ∃z ∈ B : (x, z) ∈ f ∧ (y, z) ∈ f}<br />
= {(x, x) | x ∈ A} = id A ,<br />
f ◦ f −1 = {(x, y) | ∃z ∈ B : (z, x) ∈ f ∧ (z, y) ∈ f}<br />
= {(y, y) | y ∈ C} = id B ,<br />
25
8 Vollständige Induktion<br />
Auf Seite 5 wurde die vollständige Induktion bereits eingeführt. Wir wiederholen <strong>und</strong> vertiefen<br />
nachfolgend dieses wichtige Beweisprinzip.<br />
Das Zählen führt auf die Menge der natürlichen Zahlen<br />
N = {1, 2, 3, . . . }.<br />
Man kann natürliche Zahlen addieren, multiplizieren, potenzieren <strong>und</strong> (der Größe nach) vergleichen.<br />
Subtraktion führt zu der Menge Z der ganzen Zahlen. Für m, n ∈ Z mit m ≤ n schreiben<br />
wir<br />
{m, . . . , n} := {k ∈ Z | m ≤ k ∧ k ≤ n}.<br />
Eine Menge A heißt n-elementig, n ∈ N, wenn es eine bijektive Abbildung f : {1, . . . , n} → A<br />
gibt; man schreibt dann |A| := n für die Anzahl der Elemente von A. Hier werden natürliche<br />
Zahlen als Kardinalzahlen benutzt, um die Mächtigkeit einer Menge anzugeben: „A ist eine<br />
Menge mit fünf Elementen.“. Demgegenüber steht die Verwendung natürlicher Zahlen als Ordinalzahlen:<br />
"Das fünfte Element ist x.“.<br />
Man kann N axiomatisch charakterisieren durch die Peano’schen Axiome. Hier spielt die<br />
Nachfolgerabbildung S : n ↦→ n + 1 eine zentrale Rolle. Sie ist injektiv. Die wichtigste Axiom<br />
für N ist das Induktionsaxiom.<br />
8.1 Induktionsaxiom. Sei N ⊆ N. Es gelte 1 ∈ N. Aus n ∈ N folge, dass n + 1 ∈ N ist. Dann<br />
ist N = N.<br />
Die Existenz von N begründen wir später rein mengentheoterisch.<br />
Aus dem Induktionsaxiom leitet man das Beweisprinzip der vollständigen Induktion her: Für<br />
jedes n ∈ N liege eine Aussage A(n) vor. Diese Aussagen A(n) sind für alle n ∈ N wahr, wenn<br />
Folgendes gezeigt wird:<br />
Induktionsanfang A(1) ist wahr.<br />
Induktionsschritt Wenn A(n) wahr ist, dann auch A(n + 1).<br />
Im Induktionsschritt nennt man A(n) die Induktionsvoraussetzung <strong>und</strong> A(n + 1) die Induktionsbehauptung.<br />
Wir behandeln Beispiele für Beweise durch vollständige Induktion.<br />
8.2 Satz. Für alle n ∈ N ist 10 n − 1 durch 9 teilbar.<br />
Beweis. Wegen 10 1 − 1 = 9 ist der Induktionsanfang richtig. Wir haben noch den Induktionsschritt<br />
zu beweisen. Induktionsvoraussetzung: 10 n − 1 sei durch 9 teilbar, d.h. es gibt k ∈ N mit<br />
9k = 10 n − 1. Wir haben die folgende Induktionsbehauptung zu zeigen: 9 teilt auch 10 n+1 − 1.<br />
Wegen<br />
10 n+1 − 1 = 10(10 n − 1) + (10 − 1) = 91k<br />
ist diese wahr.<br />
Aus diesem Satz folgen die bekannten Quersummenregeln für die Teilbarkeit durch 3 oder 9;<br />
beispielsweise ist 12345678 durch 9 teilbar, weil ihre Quersumme 1+2+3+4+5+6+7+8 = 36<br />
durch 9 teilbar ist.<br />
26
Die leere Menge <strong>und</strong> die n-elementigen Mengen (n ∈ N) heißen endliche Mengen. Die leere<br />
Menge hat keine Elemente; man setzt daher |∅| = 0.<br />
8.3 Satz. Sei A eine endliche Menge. Dann gilt |P(A)| = 2 |A| .<br />
Beweis. Wegen P(∅) = {∅} gilt |P(∅)| = 1 = 2 0 . Ist f : A → B bijektiv, dann ist auch<br />
F : P(A) → P(B),<br />
M ↦→ f(M)<br />
eine bijektive Abbildung; denn durch N ↦→ f −1 (N) ist die Umkehrabbildung von F gegeben.<br />
(Wir setzen f(∅) = ∅.) Da die Verkettung bijektiver Abbildungen wieder bijektiv ist, genügt es<br />
zu zeigen, dass für alle n ∈ N gilt:<br />
E(n) : |P({1, . . . , n})| = 2 n .<br />
Induktionsanfang: P({1}) = {∅, {1}} ist 2-elementig. Somit ist E(1) wahr.<br />
Induktionsschritt: Setze voraus, dass E(n) wahr ist. Dann gibt es eine bijektive Abbildung<br />
f : {1, . . . , 2 n } → P({1, . . . , n}).<br />
Wir haben folgende Induktionsbehauptung zu zeigen:<br />
E(n + 1) : |P({1, . . . , n + 1})| = 2 n+1 .<br />
Zur Abkürzung setzen wir N m := {1, . . . , m}. Sei M ∈ P(N n+1 ), d.h. M ⊆ N n+1 . Falls<br />
n + 1 /∈ M, dann ist M ∈ P(N n ). Falls n + 1 ∈ M, dann ist M = M ′ ∪ {n + 1} mit<br />
M ′ := M \ {n + 1} ∈ P(N n ). Durch<br />
g(2k) = f(k),<br />
g(2k − 1) = f(k) ∪ {n + 1},<br />
k ∈ {1, . . . , 2 n }, wird eine Abbildung g : N 2 n+1 → P(N n+1 ) definiert. Nach obigen Überlegungen,<br />
<strong>und</strong> weil f surjektiv ist, ist g surjektiv. Da f injektiv ist, ist auch g injektiv. Damit ist<br />
die Induktionsbehauptung bewiesen <strong>und</strong> der Induktionsbeweis komplett.<br />
Endliche Summen von reellen Zahlen a j ∈ R führt man auf die Addition von je zwei Zahlen<br />
zurück:<br />
a 1 + a 2 + a 3 := (a 1 + a 2 ) + a 3 ,<br />
a 1 + a 2 + a 3 + a 4 := (a 1 + a 2 + a 3 ) + a 4 = ((a 1 + a 2 ) + a 3 ) + a 4 ,<br />
a 1 + a 2 + · · · + a n := (a 1 + · · · + a n−1 ) + a n .<br />
Man verwendet meist das Summensymbol:<br />
n∑<br />
a j := ( n−1 ∑ )<br />
a j + an ,<br />
j=1 j=1<br />
1∑<br />
a j := a 1 .<br />
j=1<br />
27
Man spricht hier von einer rekursiven Definition der Summe; diese basiert auch auf dem Induktionsaxiom.<br />
Mit einer Induktion über n beweist man das Kommutativgesetz für endliche<br />
Summen:<br />
n∑ n∑<br />
a j = a ϕ(k) , wenn ϕ : N n → N n bijektiv ist.<br />
j=1<br />
k=1<br />
Man nennt ϕ eine Permutation der n-elementigen Menge N n = {1, . . . , n}. Die untere Summationsgrenze<br />
kann von 1 verschieden sein. Beim Rechnen mit endlichen Summen sind Indexverschiebungen<br />
nützlich, z.B.<br />
15∑<br />
j=3<br />
(j + 2) 2 =<br />
Aussagen über endliche Summen beweist man oft mittels vollständiger Induktion.<br />
8.4 Satz. Für alle n ∈ N gilt ∑ n<br />
j=1 j = 1 2n(n + 1).<br />
Beweis. Für n = 1 gilt die Gleichung offenbar. Der Induktionsschritt lautet<br />
n+1<br />
∑<br />
j = ( ∑<br />
n j) + (n + 1) = 1 2 n(n + 1) + (n + 1) = 1 (n + 1)(n + 2).<br />
2<br />
j=1<br />
j=1<br />
In der mittleren Gleichung wurde die Induktionsvoraussetzung benutzt.<br />
17∑<br />
j=5<br />
j 2 .<br />
9 Zahlen sind Mengen<br />
Teilmengen von N oder R zu betrachten ist uns vertraut. Aber einzelne Zahlen wie 13 oder π<br />
versteht man auch als Mengen. Wie geht das?<br />
Die Idee der mengentheoretischen Konstruktion der natürlichen Zahlen ist Folgende:<br />
0 := ∅, 1 := 0 ∪ {0}, 2 := 1 ∪ {1}, . . .<br />
Die Nachfolgerabbildung S : n ↦→ n + 1 := n ∪ {n} ist für beliebige Mengen x definiert:<br />
S(x) := x ∪ {x}. Eine wichtige Eigenschaft der Nachfolgerabbildung ist ihre Injektivität.<br />
9.1 Satz. Für beliebige Mengen x <strong>und</strong> y gilt: Aus S(x) = S(y) folgt x = y.<br />
Im nachfolgenden Beweis benutzen wir folgendes Axiom der Mengenlehre, das wir voraussetzen<br />
wollen; es schließt widersprüchliche Mengenbildungen aus.<br />
9.2 F<strong>und</strong>ierungsaxiom. Ist x ≠ ∅, so existiert ein y ∈ x mit x ∩ y = ∅.<br />
Beweis. Seien x <strong>und</strong> y Mengen mit S(x) = S(y), d.h. es gilt<br />
x ∪ {x} = y ∪ {y}.<br />
Wir zeigen, dass x ⊆ y gilt. Sei z ∈ x. Dann ist z ∈ y ∪ {y}; also ist z ∈ y oder, da {y}<br />
einelementig ist, z = y. Angenommen, es wäre z = y. Dann wäre x ∈ z ∪ {z}, folglich z = x<br />
28
oder x ∈ z. Im Falle z = x widerspricht die Menge M := {x} = {z} dem F<strong>und</strong>ierungsaxiom,<br />
denn z ∈ x ∩ M. Im Falle x ∈ z widerspricht die Menge M := {x, z} dem F<strong>und</strong>ierungsaxiom,<br />
denn z ∈ x ∩ M <strong>und</strong> x ∈ z ∩ M. Daher ist die Annahme falsch, <strong>und</strong> es gilt z ∈ y. Entsprechend<br />
folgt y ⊆ x. Somit gilt schließlich x = y.<br />
Wegen x ∈ S(x) gibt es keine Menge x, für die S(x) = ∅ gilt.<br />
Ganze Zahlen definiert man als Äquivalenzklassen von Paaren natürlicher Zahlen <strong>und</strong> rationale<br />
Zahlen als Äquivalenzklassen gewisser Paare ganzer Zahlen. Die mengentheoretische<br />
Konstruktion der reellen Zahlen ist subtiler.<br />
10 <strong>Mathematisches</strong> <strong>Denken</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeiten</strong><br />
Schreibt man mathematische Gedanken <strong>und</strong> Resultate auf, so ist es unabdingbar, dass man sich<br />
klar ausdrückt. So klar, dass ein Leser die Argumentation nachvollziehen kann. Dies bedeutet,<br />
dass die verwendeten Begriffe erklärt werden <strong>und</strong> dass die Argumentationskette logisch aufgebaut<br />
ist.<br />
Standardbegriffe <strong>und</strong> Notationen, die häufig vorkommen, müssen in aller Regel nicht erklärt<br />
werden. Dies gilt z.B. für die Zahlbereiche Z, Q, R <strong>und</strong> C; im Falle der natürlichen Zahlen, muss<br />
man allerdings sagen ob 0 ∈ N gelten soll oder nicht; der Gebrauch ist hier nicht einheitlich.<br />
Die Notation<br />
f : M → N, x ↦→ f(x)<br />
für eine Funktion (oder Abbildung) ist auch allgemein üblich <strong>und</strong> Bedarf keiner Erklärung. Wir<br />
haben (andeutungsweise) gesehen, wie Zahlen <strong>und</strong> Funktionen mengentheoretisch verstanden<br />
werden. Für den alltäglichen Umgang mit diesen Konzepten spielt dies keine Rolle; aber es<br />
illustriert die Tatsache, dass die Mengenlehre Gr<strong>und</strong>lage der modernen Mathematik ist.<br />
Neue oder weniger geläufige Begriffe müssen explizit definiert werden. Beispielsweise haben<br />
wir in den Definitionen 1.1 <strong>und</strong> 3.2 Eigenschaften von Funktionen eingeführt, nämlich streng<br />
monoton steigend bzw. nach oben beschränkt. Diese Definitionen sind durch Anschauung motiviert.<br />
Eine geometrische Eigenschaft einer Funktion ist ihre Krümmung. Wie definiert man die<br />
Krümmung? Anschaulich ist dies klar: Liegt jede Sekante des Graphen oberhalb des Graphen,<br />
dann heißt die Funktion nach links gekrümmt oder konvex. Die Sekante zwischen zwei Punkten<br />
P 0 = (x 0 , y 0 ) <strong>und</strong> P 1 = (x 1 , y 1 ) des Graphen ist die Verbindungsstrecke zwischen diesen<br />
Punkten:<br />
[P 0 , P 1 ] = {(x, y) | x 0 ≤ x ≤ x 1 ∧ y = x − x 0<br />
x 1 − x 0<br />
y 1 + y 0 }<br />
= {(1 − t)P 0 + tP 1 ∈ R 2 | 0 ≤ t ≤ 1}<br />
Jetzt können wir eine präzise Definition aussprechen.<br />
10.1 Definition. Sei f : I → R eine auf einem Intervall I ⊆ R definierte Funktion. Dann heißt<br />
f nach strikt konvex, wenn für alle x 0 , x 1 ∈ I mit x 0 < x 1 gilt:<br />
∀0 < t < 1 : f((1 − t)x 0 + tx 1 ) < (1 − t)f(x 0 ) + tf(x 1 ).<br />
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10.2 Satz. Sei f : I → R eine auf einem Intervall I ⊆ R 2-mal differenzierbare Funktion. Wenn<br />
f ′′ > 0 ist, dann ist f strikt konvex.<br />
Nach Berechnung der zweiten Ableitungen schließt man sofort, dass die Funktionen f(x) =<br />
x 2 , f(x) = e x <strong>und</strong> f(x) = cosh x strikt konvex sind.<br />
Beweis. Es gelte f ′′ (x) > 0 für alle x ∈ I. Dann ist f ′ streng monoton steigend nach Satz 1.3.<br />
Seien x 0 < x 1 aus I <strong>und</strong> 0 < t < 1. Setze x m = (1−t)x 0 +tx 1 <strong>und</strong> P j = (x j , y j ), y j = f(x j ).<br />
Es gelten<br />
Wir haben Folgendes zu zeigen:<br />
t = x m − x 0<br />
x 1 − x 0<br />
,<br />
1 − t = x 1 − x m<br />
x 1 − x 0<br />
.<br />
y m < (1 − t)y 0 + ty 1 .<br />
Für die Steigungen m 0 <strong>und</strong> m 1 der Sekanten [P 0 , P m ] <strong>und</strong> [P m , P 1 ] gilt nach dem Mittelwertsatz<br />
1.4 <strong>und</strong> wegen der Monotonie von f<br />
m 0 = y m − y 0<br />
x m − x 0<br />
= f ′ (z 0 ) < f ′ (z 1 ) = y 1 − y m<br />
x 1 − x m<br />
= m 1<br />
mit gewissen Zwischenstellen x 0 < z 0 < x m < z 1 < x 1 . Die Steigung der Sekante [P 0 , P 1 ] ist<br />
m = y 1 − y 0<br />
x 1 − x 0<br />
= tm 0 + (1 − t)m 1 .<br />
Wegen m 0 < m 1 folgt m 0 < m < m 1 . Damit folgt<br />
y m = m 0 (x m − x 0 ) + y 0 < m(x m − x 0 ) + y 0 = mt(x 1 − x 0 ) + y 0 = t(y 1 − y 0 ) + y 0 .<br />
Dies war zu zeigen.<br />
Literatur<br />
[Dei10] O. Deiser, Gr<strong>und</strong>begriffe der wissenschaftlichen Mathematik, Springer, Heidelberg,<br />
2010.<br />
[SS09]<br />
H. Schichl <strong>und</strong> R. Steinbauer, Einführung in das mathematische <strong>Arbeiten</strong>, Springer,<br />
Heidelberg, 2009.<br />
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