Programmheft herunterladen - Münchner Philharmoniker
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Lorin Maazel<br />
Samstag, 6. April 2013, 19 Uhr<br />
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Ludwig van Beethoven<br />
Ouvertüre zu Heinrich Joseph von Collins Trauer spiel „Coriolan“ op. 62<br />
Ludwig van Beethoven<br />
Symphonie Nr. 4 B-Dur op. 60<br />
1. Adagio – Allegro vivace – 2. Adagio<br />
3. Allegro vivace – 4. Allegro ma non troppo<br />
Igor Strawinsky<br />
„Le Sacre du Printemps“<br />
Tableaux de la Russie païenne en deux parties<br />
Premier tableau: „L’adoration de la terre“<br />
Second tableau: „Le sacrifice“<br />
Lorin Maazel, Dirigent<br />
Samstag, 6. April 2013, 19 Uhr<br />
5. Abonnementkonzert h5<br />
Spielzeit 2012/2013<br />
115. Spielzeit seit der Gründung 1893<br />
Lorin Maazel, Chefdirigent<br />
Paul Müller, Intendant
2 Ludwig van Beethoven: „Coriolan“-Ouvertüre<br />
„Beethovens Energie auf engem Raum“<br />
Gabriele E. Meyer<br />
Ludwig van Beethoven<br />
(1770–1827)<br />
Ouvertüre zu Heinrich Joseph von Collins<br />
Trauer spiel „Coriolan“ op. 62<br />
Jahres 1807 entstanden sein. Für den raschen<br />
Entstehungsprozess spricht, dass keinerlei Skizzen<br />
existieren, auch keine schriftlichen Zeugnisse,<br />
und die erste Aufführung schon im März<br />
1807 stattfand.<br />
Widmung<br />
Beethoven widmete die „Ouverture componiert<br />
für das Trauerspiel Coriolan von H. Collin“ dem<br />
mit ihm befreundeten österreichischen Theaterdichter<br />
Heinrich Joseph von Collin (1771–1811).<br />
Beider künstlerische Zusammenarbeit begann<br />
wohl mit einem Oratorienprojekt (möglicherweise<br />
„Die Befreyung von Jerusalem“), das<br />
aber kaum über Anfänge hinausgelangte. Überlegungen<br />
zu Opern folgten, so u. a. zu „Macbeth“<br />
und „Bradamante“, kamen aber ebenso wenig<br />
zur Ausführung.<br />
Lebensdaten des Komponisten<br />
Geburtsdatum unbekannt; geboren am 15. oder<br />
16. Dezember 1770 in Bonn; dort Eintragung<br />
ins Taufregister am 17. Dezember; gestorben am<br />
26. März 1827 in Wien.<br />
Entstehung<br />
Den Angaben im Autograph zufolge muss Beethovens<br />
Ouvertüre zu Heinrich Joseph von Collins<br />
Schauspiel „Coriolan“ in den ersten Wochen des<br />
Uraufführung<br />
Im März 1807 in Wien im Palais Lobkowitz (in<br />
einem von zwei Konzerten, die ausschließlich<br />
Werke Beethovens unter Mitwirkung bzw. Leitung<br />
des Komponisten enthielten); vor „einer<br />
sehr gewählten Gesellschaft, welche zum Besten<br />
des Verfassers sehr ansehnliche Beiträge<br />
subskribiert hat“, kamen außer „Coriolan“ die<br />
Symphonien Nr. 1 bis 3, Auszüge aus der Oper<br />
„Leonore“ sowie, als Uraufführungen, die 4.<br />
Symphonie op. 60 und das 4. Klavierkonzert op.<br />
58 zu Gehör.
3<br />
Mphil_18_Piollet_Z0.indd Isidor Neugass: Ludwig 5 van Beethoven (1806)<br />
04.03.2008 8:33:22 Uhr
4 Ludwig van Beethoven: „Coriolan“-Ouvertüre<br />
Collins Trauerspiel „Coriolan“<br />
Anders als lange vermutet, fußt Heinrich Joseph<br />
von Collins Trauerspiel keineswegs auf dem um<br />
1602 verfassten Drama William Shakespeares;<br />
die Übersetzungen Schlegels und Tiecks, die<br />
die Werke Shakespeares im deutschen Sprachraum<br />
bekannt machten, sind ohnehin jüngeren<br />
Datums. Wie die Aufzeichnungen seines Bruders<br />
Matthias belegen, beruht Collins Drama<br />
auf einer Darstellung des griechischen Schriftstellers<br />
und Philosophen Plutarch, dessen Werke<br />
im Übrigen auch Beethoven sehr schätzte.<br />
Inhaltlich geht es um eine Gestalt aus der frühen<br />
römischen Geschichte. Der ehemals ob seines<br />
Sieges gegen die Volsker umjubelte, inzwischen<br />
aber wegen seiner Willkür und Selbstherrlichkeit<br />
beim Volk von Rom verhasste Coriolan wird<br />
in die Verbannung geschickt. Er schwört Rache.<br />
Trotzig läuft er zu den Volskern über und führt<br />
sie zum Kampf gegen seine Vaterstadt. Erst<br />
seiner Mutter und seiner Frau gelingt es, den<br />
Abtrünnigen zur Aufgabe seines Vorhabens zu<br />
bewegen. Coriolans Gegner bei den Volskern<br />
trachten ihm daraufhin nach dem Leben. Coriolan<br />
weiß, dass er den persönlichen Konflikt zwischen<br />
der Familientradition und dem den Volskern<br />
gegebenen Treueschwur nur durch den eigenen<br />
Tod lösen kann. Er stürzt sich in sein Schwert<br />
und bleibt somit einer höheren Moral treu, indem<br />
er weder Rom noch die Volsker verrät.<br />
Begeisterung für die klassische<br />
Antike<br />
Warum Beethoven sich für das Thema entschieden<br />
hat, kann nur vermutet werden. Vielleicht<br />
benötigte er eine Konzerteinleitung, vielleicht<br />
wollte er sich dem Dichter gefällig zeigen, sollte<br />
dessen 1802 in Wien uraufgeführtes, aber<br />
seit 1805 abgesetztes Drama doch noch einmal<br />
ins Repertoire des k. k. Hoftheaters zurückkehren.<br />
Überdies war Collin als Hofsekretär bei der Hofkammer<br />
in Diensten, was Beethoven bei seinen<br />
damaligen Bemüh ungen um eine Anstellung<br />
bei Hofe gewiss nicht ganz ungelegen kam.<br />
Vielleicht auch wünschte Beethoven dem fürstlichen<br />
Direktorium des Theaters sein Können<br />
als Komponist für die Bühne erneut zu demonstrieren.<br />
All die genannten Gründe mögen mitgespielt<br />
haben. Den Ausschlag aber, sich dem<br />
„Coriolan“-Thema zu stellen, gab sicherlich Beethovens<br />
Begeisterung für die klassische Antike,<br />
eine Vorliebe, die er mit vielen seiner Zeitgenossen<br />
teilte. Der in Collins „Coriolan“ innewohnende<br />
„moralische Appell“, dass der Mensch<br />
als Einzelwesen der Vernichtung preisgegeben<br />
ist, wenn er, wie es Paul Bekker in seinem berühmten<br />
Beethoven-Buch (1911) darlegte, „die<br />
eigene Persönlichkeit nicht in Einklang mit den<br />
höchsten Gesetzen der Menschlichkeit zu bringen<br />
vermag“, dürfte den Komponisten zusätzlich<br />
bestärkt haben.<br />
Themendualismus der Sonatensatzform<br />
Der allgemeinen Praxis seit Christoph Willibald<br />
Gluck folgend steht auch Beethovens „Coriolan“-<br />
Ouvertüre in Sonatensatzform. Ohnehin Ort<br />
konfliktreichen Geschehens, geprägt durch gegensätzliche<br />
Thematik bzw. Themenkomplexe<br />
und deren manchmal geradezu exzessive Verarbeitung<br />
in der Durchführung und teilweise<br />
sogar Coda, erscheint sie wie keine andere Form<br />
prädestiniert, die extremen Charakterzüge des
Ludwig van Beethoven: „Coriolan“-Ouvertüre<br />
5<br />
Der Beginn der Ouvertüre in Beethovens Handschrift<br />
Titelhelden einerseits und den Bittgesang der<br />
beiden Frauen andererseits nachzuzeichnen.<br />
Das Stück, in der düsteren Tonart c-Moll, beginnt<br />
mit einem harten Fortissimo-Streicher-<br />
Unisono, gefolgt von einem aggressiv-herrischen<br />
Tutti-Schlag – dreimal, dazwischen bedrohliches<br />
Schweigen. Dann erklingt fast störrisch sich<br />
wiederholend das „Coriolan“-Thema (1. Thema),<br />
verdichtet sich zu insistierenden Floskeln, immer<br />
wieder durch scharfkantige Schläge unterbrochen,<br />
bis die strömende Gesangslinie (2. Thema)<br />
Einhalt gebietet.<br />
Psychogramm einer gespaltenen<br />
Seele ?<br />
Der gesamte Verlauf ist gekennzeichnet durch<br />
schroffe Akzente, unruhig treibende Sforzati,<br />
rastlos jagende Achtelfiguren, gehetzte Seufzermotivik,<br />
grelle Akkorde, beklemmende Generalpausen,<br />
einzig aufgehellt durch die zu Herzen<br />
gehende Dur-Kantilene. Bedeutsam ist deren<br />
Moll-Eintrübung bei ihrem letztmaligen Auftreten.<br />
Spätestens hier stellt sich die Frage,<br />
ob die Ouvertüre nicht eher ein Gleichnis für den<br />
Kampf ist, der sich in Coriolans Herz abspielt.<br />
Psychogramm eines Menschen im seelischen<br />
Zwiespalt ? Hat Beethoven mit seinem „Coriolan“,<br />
wie es schon E. T. A. Hoffmann in seiner<br />
Rezension von 1812 empfand, nicht vielmehr ein<br />
von der äußeren Handlung unabhängiges Charakterbild<br />
schaffen wollen, als das „Negativ des<br />
ersten Eroica-Satzes“ (Paul Bekker) ? „Der Held<br />
scheitert“, meint Wolfram Steinbeck, „der Musik<br />
aber ist ein neues Terrain eröffnet: die programmatische<br />
Konzertouvertüre...“
6 Ludwig van Beethoven: 4. Symphonie B-Dur<br />
„Griechisch schlanke Maid“<br />
Gabriele E. Meyer<br />
Ludwig van Beethoven<br />
(1770–1827)<br />
Symphonie Nr. 4 B-Dur op. 60<br />
1. Adagio – Allegro vivace<br />
2. Adagio<br />
3. Allegro vivace<br />
4. Allegro ma non troppo<br />
Lebensdaten des Komponisten<br />
Geburtsdatum unbekannt: geboren am 15. oder<br />
16. Dezember 1770 in Bonn, dort Eintragung<br />
ins Taufregister am 17. Dezember 1770; gestorben<br />
am 26. März 1827 in Wien.<br />
Entstehung<br />
Am 3. September 1806 bot Beethoven in einem<br />
Brief aus Grätz bei Troppau dem Verleger<br />
Breitkopf & Härtel „3 Violin quartette [op. 59],<br />
ein neues Klawierkonzert [op. 58], eine neue sinfonie<br />
[op. 60], die Partitur meiner oper [Fidelio]<br />
und mein Oratorium [Christus am Ölberge]“ an.<br />
Bei der neuen Symphonie handelt es sich zweifelsfrei<br />
um die „Vierte“. Die Entstehungszeit<br />
kann nur ungefähr erschlossen werden, weil<br />
kaum Skizzen überliefert sind. Die eigentliche<br />
Niederschrift scheint vergleichsweise rasch vonstatten<br />
gegangen zu sein und umfasst in etwa<br />
den Zeitraum von August bis November 1806.<br />
Widmung<br />
In einem weiteren Brief an Breitkopf & Härtel<br />
vom 18. November 1806 machte Beethoven den<br />
Verleger darauf aufmerksam, dass er ihm die<br />
versprochene Symphonie noch nicht geben kann,<br />
„weil ein vornehmer Herr sie von mir genommen,<br />
wo ich aber die Freyheit habe, sie in einem<br />
halben Jahr heraus zu geben“. Mit dem vornehmen<br />
Herrn war Franz Joachim Reichsgraf von<br />
Oppersdorff (1778-1818), Majoratsherr von Oberglogau<br />
in Schlesien, gemeint. Die Widmung an<br />
den Grafen und die damit verbundene befristete<br />
Überlassung zum Privatgebrauch hatte die verzögerte<br />
Drucklegung zur Folge.<br />
Uraufführung<br />
Im März 1807 in Wien im Palais Lobkowitz. Die<br />
erste öffentliche Aufführung fand am 15. November<br />
1807 im (alten) Wiener Hofburgtheater<br />
unter Leitung von Ludwig van Beethoven statt.<br />
Eine weitere Aufführung kam „um Neujahr 1808“<br />
anlässlich eines „Liebhaber-Concerts“ in der<br />
Aula der Univer sität Wien zustande.
7<br />
Titelblatt der im „Bureau des arts et d’industrie“ in Wien erschienenen Erstausgabe
8 Ludwig van Beethoven: 4. Symphonie B-Dur<br />
Frühes Urteil eines Zeitgenossen<br />
Es ist immer wieder erstaunlich, mit welcher<br />
gedanklichen Schärfe und ästhetischem Differenzierungsvermögen<br />
zeitgenössische Rezensenten<br />
Beethovens Musik beurteilten, die sie<br />
meist unter unzulänglichen Aufführungsbedingungen<br />
– und ohne die Partitur zu kennen ! –<br />
erstmals zu Gehör bekamen. Der auch in diesem<br />
Falle unbekannte Autor der Leipziger „Allgemeinen<br />
musikalischen Zeitung“ trifft in seiner Besprechung<br />
einer Aufführung der 4. Symphonie<br />
im Jahr 1811 trotz aller Knappheit in der Charakterisierung<br />
der einzelnen Sätze durchaus Essentielles.<br />
Selbst heute, nach bald 200 Jahren,<br />
lohnt sich die Lektüre, weil es zum damaligen<br />
Zeitpunkt um ein brandneues Werk eines zwar<br />
berühmten, aber nicht unumstrittenen Komponisten<br />
ging.<br />
„Dies, wie es scheint, noch wenig bekannte,<br />
geistreiche Werk [...] enthält, nach einer feyerlichen,<br />
herrlichen Einleitung, ein feuriges, glanzund<br />
kraftvolles Allegro, ein kunstreich und sehr<br />
anmuthig durchgeführtes Andante [sic], ein ganz<br />
originelles, wunderbar anziehendes Scherzando,<br />
und ein seltsam gemischtes, aber wirksames<br />
Finale. Im Ganzen ist das Werk heiter, verständlich<br />
und sehr einnehmend gehalten, und nähert<br />
sich den mit Recht so beliebten Symphonien<br />
dieses Meisters No. 1 und 2 mehr, als denen<br />
No. 5 u. 6. Im Schwung der Begeisterung möchten<br />
wir es am meisten mit No. 2 zusammenstellen;<br />
von dem Wunderlichen und die Wirkung<br />
mehr Hindernden als Fördernden in einzelnen<br />
Wendungen, wodurch Beethoven in der letzten<br />
Zeit manche Ausführende scheu, und manche<br />
Zuhörer irre macht, findet sich hier nicht allzuviel.“<br />
„Griechisch schlanke“ oder nur<br />
„kalte Musik“ ?<br />
„Heiter, verständlich und sehr einnehmend“<br />
empfand der unbekannte Kritiker Beethovens<br />
4. Symphonie. Robert Schumann beschrieb sie<br />
einmal als eine „griechisch schlanke Maid“. Und<br />
in der Tat ist ihr Tonfall ein anderer, vergleichbar<br />
dem des 4. Klavierkonzerts, der Rasumowsky-<br />
Quartette, des Violinkonzerts. Das soll nun nicht<br />
zu der Annahme verführen, dass die genannten<br />
Opera leichter fasslich seien. Sie äußern sich<br />
nur zurückhaltender. Ihre dramatischen Zuspitzungen<br />
resultieren vielmehr aus dem musikalischen<br />
Geschehen selbst. „Griechisch“ steht<br />
für Vollkommenheit, klassische Schönheit, Ausgewogenheit.<br />
Mit „schlank“ charakterisiert<br />
Schumann die Position der namenlosen „Vierten“,<br />
stehend zwischen der heroischen „Eroica“<br />
und der pathetischen „Schicksals“-Symphonie.<br />
„Schlank“ beschreibt aber auch die ungemein<br />
sorgfältige Instrumentierung bei gleichzeitig<br />
höchstem Anspruch an die technischen Möglichkeiten.<br />
Es hieße Beethovens Phantasie unangemessen<br />
zu verkleinern, wollte man sie auf den Gestus<br />
der beiden anderen Symphonien – der „Dritten“<br />
und der „Fünften“ – reduzieren, als gäbe es für<br />
ihn keine andere Möglichkeit der kompositorischen<br />
Vorstellung ! Dennoch ist die „Vierte“<br />
neben der „Achten“ die am wenigsten populä
Johann Joseph Neidl: Portrait Ludwig van Beethovens nach einer verschollenen Zeichnung<br />
von Gundolf Stainhauser-Treuberg (1801)<br />
9<br />
9
10<br />
Ludwig van Beethoven: 4. Symphonie B-Dur<br />
re geblieben – vielleicht auch ausgelöst durch<br />
Richard Wagners Bemerkung, bei Beethovens<br />
„Vierter“ handle es sich um eher „kalte Musik“...<br />
Verzögerung der Grundtonart<br />
Da die 4. Symphonie allenthalben von melodischen,<br />
harmonischen, rhythmischen und metrischen<br />
Gegensätzlichkeiten bzw. Irritationen<br />
geprägt ist, sei die Beschränkung auf zwei besonders<br />
signifikante Aspekte gestattet: die<br />
verzögerte Bestätigung der Grundtonart in der<br />
Introduktion und die thematische Konfiguration<br />
im 2. Satz.<br />
In der Einleitung wird der musikalische Widerspruch<br />
bereits im ersten, vier Oktaven umspannenden<br />
Akkord ausgelöst. Jedoch handelt es<br />
sich nicht um einen Akkord im engeren Sinne,<br />
klingt er doch seltsam hohl. Dem vielfachen B<br />
fehlt insbesondere die die Tonart bestimmende<br />
Terz. Beethoven stellt hier nur den Raum<br />
vor, in dem sich alles weitere Geschehen abspielt.<br />
Tastende Motive suchen nun ihren Weg,<br />
aber schon der Ton „ges“ verunsichert, kommt<br />
er doch in B-Dur gar nicht vor. Das insistierende<br />
Suchen mit der emphatischen Exponierung<br />
des „ges“ geht weiter, einer seltsamen Vertiefung<br />
ins laby rinthisch Geheimnisvolle Platz machend.<br />
Nun scheint jeder Ton zu stören. Immer<br />
wieder entgleitet das eigentlich Gemeinte: die<br />
Setzung der Haupttonart. Nichts jedoch geschieht<br />
ohne konstruktive Absicht, denn der<br />
Zwang zur Vermeidung des Definitiven enthält<br />
ein ebenso strenges Formgesetz. Selbst der<br />
grandiose Eintritt in das „Allegro vivace“ geschieht<br />
noch auf der Dominante, bevor, endlich,<br />
B-Dur „ins Freie stürmt“.<br />
Paukenmotiv und Kantabilität<br />
Der Gegensatz im System, in der langsamen Einleitung<br />
programmatisch exponiert, beherrscht<br />
auch den Adagio-Satz. Der pointierte Rhythmus<br />
des von den 2. Violinen (!) angestimmten „Paukenmotivs“<br />
erweist sich sogleich als essentiell für<br />
die Kantabilität der Adagio-Melodie. Erst aus<br />
dem Zusammenspiel der beiden Elemente, dem<br />
Paukenmotiv (auf der Achtelbasis) und der<br />
Adagio Melodie (auf der Viertelbasis) erwächst<br />
die Themen einheit. Einem Vexierspiel gleich<br />
durchlaufen Paukenmotiv und Kantilene die verschiedensten<br />
Konfigurationen. Mehrfach kommen<br />
die Spannungsverhältnisse zwischen Kantabilität<br />
und Rhythmus zum Ausbruch, führen<br />
sogar zu einem Auseinanderbrechen der beiden<br />
Ebenen. Am Ende ist es die Pauke, die ihr Motiv,<br />
nun allerdings verspätet und damit verkürzt,<br />
aufgreift, dafür aber in einen emphatischen Triller<br />
münden lässt. Das sich verströmende Seitensatzthema<br />
gehört zu den schönsten melodischen<br />
Eingebungen Beethovens überhaupt und<br />
widerlegt einmal mehr das Vorurteil, dass der<br />
Komponist kaum kantable Einfälle gehabt habe.<br />
Auch die formale Disposition trägt zu der beabsichtigten<br />
Mehrdeutigkeit bei. Im allgemeinen<br />
steht der langsame Satz im klassischen Sonatenkontext<br />
in der Liedform. Jedoch sind trotz des<br />
kantablen Satzcharakters auch die Umrisse der<br />
Sonatensatzform präsent, wobei die Diskussion,
Christian Horneman: Miniaturportrait Ludwig van Beethovens auf Elfenbein (1802)<br />
11
12 34<br />
Ludwig van Claude Beethoven: Debussy: 4. „La Symphonie Mer“ B-Dur<br />
ob im Sinne es sich der hier Gattungsnorm um ein so genanntes bezeichnen. „Sonatenrondo“<br />
Gegenzug handelt, ist Debussy nicht unbedingt keinem seiner relevant Orchester-<br />
ist. Da<br />
Aber im<br />
werke die knappe der Symphonie Durchführung so nahe nur gekommen mit Not als wie eine<br />
„La solche Mer“. bezeichnet werden kann – fehlt doch die<br />
für Beethoven typische „Auseinandersetzung“ –<br />
kommt Absage man an mit die den genannten Programmmusik<br />
Formkategorien<br />
nicht weiter. Wesentlich plausibler erscheint<br />
es Zahlreiche daher, formal Aussagen gesehen des von Komponisten einer „Reihung belegen, in<br />
vier wie sehr Durchgängen“ er von Naturphänomenen zu sprechen. jeder Art fasziniert<br />
war. In seiner Frühzeit bildeten öfters stilisierte<br />
Auf der (Literatur-) Suche nach Landschaften einer poetischen<br />
die Vorlage für<br />
Werke; Idee im Falle von „La Mer“ wollte er jedoch ausdrücklich<br />
der Gefahr entgehen, wie ein Maler „im<br />
Atelier Hauptkriterium entstandene für Landschaftsbilder“ die 4. Symphonie zu ist, produzieren.<br />
schon gesagt, Er begann die zwar vielfältige die Komposition Exponierung in gegen<br />
burgun-<br />
wie<br />
dischen sätzlicher Weinbergen Gedanken, fernab seien sie des melodischer, Meers, berief harmonischer,<br />
ausdrücklich rhythmischer auf seine oder metrischer präzisen „Erinne-<br />
Natur.<br />
sich<br />
jedoch<br />
rungen“ Da die zur ans symphonischen Meer, und die Einheit seien seiner beitragenden Meinung<br />
nach kompositionstechnischen „mehr wert als eine Merkmale Realität, deren immer Zauber auch<br />
in ästhetisch der Regel begründet die Gedanken sind, zu stellt schwer sich die belastet“. Frage<br />
nach einer poetischen Idee auch hier fast zwangsläufig.<br />
die Aber ganz anders unmittelbare als in der Erfahrung „Eroica“ der oder Meeres- der<br />
Auf<br />
„Realität“ „Schicksals“-Symphonie – die er im übrigen muss zur man Zeit diese der Instrumentierung<br />
wohl im absolut von „La musikalischen Mer“ im Sommer Bereich 1904 suchen; auf der<br />
Idee<br />
Kanalinsel der bereits Jersey in der und Adagio an der Einleitung normannischen des 1. Satzes<br />
so eigentümlich konnte – kam herausgestellte es Debussy um Ton so weniger „ges“<br />
Küste<br />
machen<br />
an, scheint als er Indiz eine dafür Konzeption zu sein, jenseits denn auch aller in Programmmusigesätzen<br />
im Sinne zeigt hatte, er sich die im er Kontext als bloße quer Zeiterschei-<br />
stehend.<br />
den Folnung<br />
oder gar „Mode“ verachtete. Er wollte „Bilder“<br />
Konkrete des Meers programmatische geben, die empfangenen Überlegungen Eindrücke zu verfolgen,<br />
musikalische würde hier Gestalten nicht weiterführen. „übersetzen“, nicht Beetho<br />
aber<br />
in<br />
ven ein „Abbild“ selbst hat mit nur den ganz bekannten selten inhaltliche Mitteln der Erklärungen<br />
abgegeben, Diese Absage wobei bedeutet man sich zwar des keinen Eindrucks gänz-<br />
Tonmalereilichen<br />
nicht erwehren Verzicht kann, auf illustrative dass er den Mittel lästigen wie Frager etwa<br />
Wellenbewegungen einfach loshaben wollte. in „Jeux Er wusste, de vagues“; nach aber Carl sie<br />
sind Czerny, eben dass nur ein Nebenprodukte „bestimmt ausgesprochener<br />
bei Debussys Versuch<br />
Zweck“ der dem Transkription Hörer die von Unbefangenheit Farben und Bewegun-<br />
nimmt.<br />
gen „Wahre in Klangfarben Kunst ist eigensinnig und Rhythmen, [...], läßt die sich die nicht Musik<br />
selbst in schmeichelnde zu einem Naturphänomen Formen zwängen.“ erheben. Nach dem<br />
Wesen seines Komponierens gefragt, verwies<br />
Stilistischer Beethoven aber doch Neubeginn einmal darauf, dass er<br />
stets von zwei divergierenden Prinzipien ausgehe.<br />
Auch die ist 4. Symphonie, beim Beginn so des klar 1. und Satzes über<br />
zu<br />
Beispielsweise<br />
beobachten, sichtlich sie wie sich vom gebärdet, Einzelton ist aus „eigensinnig“ Motive und<br />
Klänge wie die entfaltet anderen werden, Symphonien also der Beethovens Gang der Natur<br />
„eigensinnig“ vom Amorphen in dem zu Sinne, konzisen dass Gestalten auch sie den nach-<br />
–<br />
gezeichnet Charakter des wird. „Einzigartigen“ Vor diesem Hintergrund annimmt. legitimieren<br />
sich die ständigen Modifikationen von Ton -<br />
folgen Wirkung und Klangkombinationen auf die Nachwelt und nicht zuletzt<br />
auch die zukunftsweisenden komplexen Rhythmusüberlagerungen<br />
Die „idealische“ Grundhaltung (Satz 1) der klanglichen 4. Symphonie Aufsplitterungen<br />
hat, auch wenn (Satz man 2). es kaum glauben mag, Auswirkungen<br />
auf die Nachwelt gezeitigt. Die geistige<br />
stilistische Flucht in eine Neubeginn „schönere“ von nuancenreicher Welt klingt bei An-<br />
Der<br />
deutung Schumann, zu klaren, noch mehr prägnanten vielleicht Linien bei Mendelssohn<br />
das an. Aber Premierenpublikum, schon Schubert darunter hatte Beethovens zahlreiche<br />
verstörte<br />
noch<br />
Anhänger Werk im Ohr, Debussys, von der die Gewichtung eine Fortsetzung eines Einzeltones<br />
„Pelléas bis hin et zur Mélisande“ virtuosen erwarteten. Motorik des Bezeich-<br />
Final<br />
des Stils<br />
von<br />
nend satzes. für Dass das Missverständnis Johannes Brahms war vor die Beethoven- vielfach geäußerte<br />
Reminiszenzen, Kritik, in auch Debussys solchen, „La die Mer“ „jeder könne Esel man<br />
das merkt“, Meer keineswegs weder hören zurückschreckte, noch sehen. ist Erst bekannt. mit der<br />
zweiten Und die Aufführung Ähnlichkeit am eines 19. Januar Gedankens 1908 aus unter dem der<br />
Stabführung Adagio des d-Moll-Klavierkonzerts des Komponisten erlebte von das Brahms Werk<br />
einen mit dem durchschlagenden „Nachgesang“ Erfolg, zum Seiten der ihm thema bis heute des<br />
treu langsamen geblieben Satzes ist. der 4. Symphonie von Beethoven<br />
wäre kaum erwähnenswert, wenn nicht<br />
– wie Carl Dahlhaus formulierte – „die motivische<br />
Verwandtschaft mit einer funktionalen<br />
Analogie verbunden wäre“.
Igor Strawinsky: „Le Sacre du Printemps“<br />
13<br />
Das frische Blut der Barbaren<br />
Wolfgang Aschenbrenner<br />
Igor Strawinsky<br />
(1882–1971)<br />
„Le Sacre du Printemps“<br />
(Die Frühlingsweihe)<br />
Tableaux de la Russie païenne en deux parties<br />
(Bilder aus dem heidnischen Russland in zwei<br />
Teilen)<br />
Premier Tableau: „L’Adoration de la Terre“<br />
(Die Anbetung der Erde)<br />
1. „Introduction“ (Einleitung)<br />
2. „Les Augures printaniers – Danses des<br />
Adolescentes“<br />
(Die Vorboten des Frühlings – Tänze der<br />
jungen Mädchen)<br />
3. „Jeu du Rapt“ (Spiel der Entführung)<br />
4. „Rondes printanières“ (Frühlingsreigen)<br />
5. „Jeu des Cités rivales“<br />
(Kampfspiel der rivalisierenden Stämme)<br />
6. „Cortège du Sage“<br />
(Feierlicher Umzug des Weisen)<br />
7. „L’Adoration de la Terre – Le Sage“<br />
(Die Anbetung der Erde – Der Weise)<br />
8. „Danse de la Terre“ (Tanz der Erde)<br />
Second Tableau: „Le Sacrifice“ (Das Opfer)<br />
1. „Introduction“ (Einleitung)<br />
2. „Cercles mystérieux des Adolescentes“<br />
(Geheimnisvolle Rundtänze der jungen<br />
Mädchen)<br />
3. „Glorification de l’Élue“<br />
(Verherrlichung der Auserwählten)<br />
4. „Évocation des Ancêtres“<br />
(Anrufung der Ahnen)<br />
5. „Action rituelle des Ancêtres“<br />
(Ritualtanz der Ahnen)<br />
6. „Danse sacrale – L’Élue“<br />
(Opfertanz – Die Auserwählte)<br />
Lebensdaten des Komponisten<br />
Geboren am 5. (17.) Juni 1882 in Oranienbaum<br />
(Lomonosow) bei St. Petersburg / Russland;<br />
gestorben am 6. April 1971 in New York / USA.<br />
Entstehung<br />
Erste Ideen im Frühjahr 1910 während der Abschlussarbeiten<br />
am Ballett „L’Oiseau de Feu“<br />
(Der Feuervogel); im gleichen Jahr Entwurf des<br />
BallettLibrettos zu „Le Sacre du Printemps“<br />
(Die Frühlingsweihe), das Strawinsky zusammen<br />
mit dem russischen Theosophen, Archäologen<br />
und Maler Nicolas Roerich (1874–1947) ausarbeitete.<br />
Unterbrechung durch das eingeschobene<br />
BallettProjekt „Pétrouchka“; Wiederaufnahme
14 Igor Strawinsky: „Le Sacre du Printemps“<br />
der Arbeit an „Le Sacre“ nach der „Pétrouchka“<br />
Premiere im Juni 1911. 1912 Beendigung der<br />
Komposition und Partiturreinschrift; 1947 Revision,<br />
1967 Neuedition der Partitur.<br />
Uraufführung<br />
Am 29. Mai 1913 in Paris im Théâtre des Champs<br />
Élysées durch die Compagnie von Sergej Diaghilews<br />
„Ballets russes“ (Dirigent: Pierre Monteux;<br />
Choreographie: Waslaw Nijinsky; Bühnenbild<br />
und Kostüme: Nicolas Roerich).<br />
Der Skandal<br />
„Ich habe den Zuschauerraum verlassen, als bei<br />
den ersten Takten des Vorspiels sogleich Gelächter<br />
und spöttische Zurufe erschallten. Ich war<br />
maßlos empört. Die Kundgebungen, am Anfang<br />
noch vereinzelt, wurden bald allgemein. Sie riefen<br />
Gegenkundgebungen hervor, und so entstand<br />
sehr schnell ein fürchterlicher Lärm. Während<br />
der ganzen Vorstellung hielt ich mich in den Kulissen<br />
neben Nijinskij auf. Er stand auf einem<br />
Stuhl und schrie, so laut er nur konnte, seinen<br />
Tänzern zu: ‚Sechzehn, Siebzehn, Achtzehn‘ –<br />
das war die Art, wie man beim Russischen Ballett<br />
den Takt kommandierte. Natürlich konnten<br />
die armen Tänzer ihn nicht hören, infolge des<br />
Tumults im Zuschauerraum und wegen des Lärms,<br />
den ihre Füße beim Tanzen auf den Bühnenbrettern<br />
machten. Diaghilew wollte dem Toben ein<br />
Ende bereiten und befahl dem Beleuchter, bald<br />
im Zuschauerraum Licht zu machen, bald ihn<br />
wieder zu verdunkeln. Das ist alles, was ich<br />
von dieser Premiere behalten habe...“<br />
Seltsamerweise war die Generalprobe völlig<br />
ruhig verlaufen. „Bei ihr waren, wie gewöhnlich,<br />
zahlreiche Künstler, Maler, Musiker, Schriftsteller<br />
und überhaupt die kultiviertesten Mitglieder<br />
der Gesellschaft zugegen. Ich war daher meilenweit<br />
davon entfernt, den Wutausbruch vorauszusehen,<br />
den die Aufführung auslöste“, versichert<br />
Strawinsky in seinen „Lebenserinnerungen“. Das<br />
Spektakel forderte laut Polizeibericht die in der<br />
Theatergeschichte wohl einmalige Zahl von 27<br />
Verletzten. Was hatte das Premierenpublikum<br />
so erregt ? Was war so neu am „Sacre du Printemps“,<br />
so ungewohnt ? Das Bühnengeschehen ?<br />
Der Tanz ? Die Musik ?<br />
Die Fabel<br />
„,Le Sacre du Printemps‘ ist ein musikalischchoreographisches<br />
Werk. Es sind ‚Bilder aus<br />
dem heidnischen Russland‘, innerlich zusammengehalten<br />
von einer Hauptidee: dem Geheimnis<br />
des großen Impulses der schöpferischen Kräfte<br />
des Frühlings“ – so hat Strawinsky sein Werk<br />
selbst charakterisiert. Des russischen Frühlings,<br />
so muss man ergänzen, der „in einer Stunde zu<br />
beginnen schien und wie ein Aufbrechen der<br />
ganzen Erde war. Das war das wunderbarste Erlebnis<br />
in jedem Jahr meiner Kindheit.“ Aus der<br />
ursprünglichen Idee zum „Sacre“ – Strawinsky<br />
selbst spricht von einer „Vision“, die er während<br />
der Niederschrift des „Feuervogels“ im Jahr 1910<br />
hatte – entwickelte er zusammen mit dem Mythenforscher<br />
und Maler Nicolas Roerich (1874–1947)<br />
eine Fabel, an der er sich bei der Komposition<br />
orientierte, von deren Existenz in der endgültigen<br />
Partitur allerdings nur noch die Satzüberschriften<br />
zeugen.
Igor Strawinsky (1920)<br />
15
16 Igor Strawinsky: „Le Sacre du Printemps“<br />
Die Vision zum „Sacre“ kam Strawinsky angeblich<br />
im Traum. Tatsächlich aber wurde sie ihm<br />
durch ein Gedicht mit dem Titel „Jarilo“ vermittelt,<br />
in dem der panslawische Frühlingsgott und<br />
ihm dargebrachte blutrünstige Opferrituale besungen<br />
werden. Es stammte aus der Feder des<br />
symbolistischen Lyrikers Sergej Gorodetskij<br />
(1884–1967), von dem Strawinsky zuvor schon<br />
zwei Texte vertont hatte. Nicolas Roerich, der<br />
ein Spezialist für archaische Volkskunst und vorchristliche<br />
slawische Geschichte war, erzählt<br />
die Fabel in einem Brief an Diaghilew so: „Die<br />
erste Szene sollte uns an den Fuß eines heiligen<br />
Hügels versetzen, in einer üppigen Ebene, wo<br />
slawische Stämme versammelt sind, um die<br />
Frühlingsfeierlichkeiten zu begehen. In dieser<br />
Szene erscheint eine alte Hexe, die die Zukunft<br />
voraussagt: hier gibt es (Braut) Entführung<br />
und Hochzeit, Reigentänze. Dann folgt der feierlichste<br />
Augenblick. Der weise Alte wird aus dem<br />
Dorf gebracht, um seinen heiligen Kuss der neu<br />
blühenden Erde aufzudrücken; während dieser<br />
feierlichen Handlung wird die Menge von einem<br />
mystischen Schauer ergriffen. Nach dem Aufrauschen<br />
irdischer Freude führt uns die zweite<br />
Szene in ein himmlisches Mysterium. Jungfrauen<br />
tanzen im Kreise auf einem Hügel zwischen verzauberten<br />
Felsen, ehe sie das Opfer wählen, das<br />
sie darzubringen gedenken und das sogleich seinen<br />
letzten Tanz vor den uralten, in Bärenfell<br />
gekleideten Männern tanzen wird. Dann weihen<br />
die Graubärte das Opfer dem Gott Jarilo.“<br />
Der Tanz<br />
Dieses Szenario mag von einem Teil des Publikums<br />
als anstößig empfunden worden sein, als<br />
obszön, primitiv, blasphemisch; es war aber sicher<br />
nicht der einzige Grund für einen derartigen<br />
Skandal, wie er sich bei der Uraufführung<br />
ereignete. Zu den Bildern, die entgegen der Gewohnheit<br />
auch noch einer Handlung entbehrten,<br />
kam die Neuartigkeit des Tanzes: Es gab keine<br />
klassischen Schritte mehr, keinen Wechsel traditioneller<br />
Solo und EnsemblePartien. „Ich<br />
möchte“, sagte Strawinsky, „der ganzen Komposition<br />
das Gefühl der Verbundenheit des Menschen<br />
mit der Erde geben, und das versuche ich<br />
in lapidaren Rhythmen auszudrücken. Die ganze<br />
Sache muss von Anfang bis Ende im Tanz ausgedrückt<br />
werden; kein Takt pantomimische<br />
Darstellung.“<br />
In seinen Memoiren mokierte sich Strawinsky,<br />
entgegen anfänglich enthusiastischer Äußerungen,<br />
über die Fähigkeiten Waslaw Nijinskys als<br />
Choreograph und zeichnete ihn als naiven, unmusikalischen<br />
Günstling Diaghilews. Unausgesprochen<br />
unterstellte er Nijinskys Choreographie,<br />
deren Hauptfehler er – wie Jean Cocteau – im<br />
„Parallelismus von Musik und Gebärde, dem Fehlen<br />
des Spielmoments oder Kontrapunkts zwischen<br />
beiden“ sah, zumindest eine gewisse Mitschuld<br />
am Desaster der Pariser Uraufführung:<br />
„Die Tänzer übersetzten Dauer, Akzente, Volumen<br />
und Timbre der Töne in Gebärden und drückten<br />
Accelerando und Ritardando des musikalischen<br />
Pulsschlages durch eine Reihe wohlüber <br />
legter gymnastischer Bewegungen, Beugen und<br />
Strecken der Knie, Heben und Senken der Fersen<br />
oder Stampfen aus, wobei jeder Akzent gewissenhaft<br />
herausgearbeitet wurde.“ Nijinskys<br />
Choreographie wirkte nach den Worten Strawinskys<br />
„wie eine mühvolle Arbeit ohne Zweck und
Aus dem handschriftlichen Particell: „Glorification de l'Élue“<br />
17
18<br />
Igor Strawinsky: „Le Sacre du Printemps“<br />
Ziel und nicht wie eine bildhafte Darstellung, die<br />
klar und natürlich den Vorschriften folgt, die<br />
sich aus der Musik ergeben.“<br />
Musik als Choreographie<br />
Anders als auf der Bühne setzte sich der „Sacre“<br />
auf dem Konzertpodium rasch durch – weshalb<br />
Strawinsky später gern den rein musikalischen<br />
Aspekt des Balletts herausstellte. Bereits die erste<br />
konzertante Aufführung im April 1914 brachte<br />
eine Wende in der Publikumsgunst: „Das Publikum,<br />
das nun nicht mehr durch szenische Bilder abgelenkt<br />
wurde, hörte mein Werk mit konzentriertester<br />
Aufmerksamkeit an und nahm es mit einer<br />
Begeisterung auf, die mich sehr rührte und<br />
die ich nicht im entferntesten erwartet hatte.<br />
Einige Kritiker, die den ‚Sacre‘ ein Jahr zuvor<br />
abgelehnt hatten, bekannten freimütig, dass sie<br />
sich geirrt hatten. Ich hatte das Publikum gewonnen,<br />
was mir damals begreiflicherweise<br />
tiefe und nachhaltige Befriedigung schuf.“<br />
Dennoch: Ohne die BallettHandlung gäbe es keinen<br />
„Sacre“, jedenfalls nicht in der vorliegenden<br />
Form. Das Stück ist ganz und gar aus der Bewegung<br />
heraus gedacht, auch wenn sich manche<br />
tradierte Form der absoluten Musik darin wiederfindet.<br />
Mehr noch: Strawinskys Musik ist ihrem<br />
Wesen nach immer – auch dort, wo er nicht<br />
fürs Ballett geschrieben hat – tänzerisch, d. h. sie<br />
arbeitet mit gestischen Elementen, kurzen Bewegungseinheiten<br />
und deren Verbindung. Er selbst<br />
hat die Frage, ob Musik fähig sei, etwas Bestimmtes<br />
auszudrücken, strikt verneint: Seine Partituren<br />
seien nie programmatische Schilderung, nie<br />
Psychogramm, Drama oder Rhetorik, sondern<br />
stets Choreographie.<br />
Melodie und Rhythmus<br />
Nicht minder als Sujet und Choreographie dürfte<br />
das Publikum am 29. Mai 1913 im Théâtre des<br />
ChampsÉlysées die Musik verstört haben. „Es<br />
war das frische Blut der ‚Barbaren‘, eine Art von<br />
elektrischem Schock, der ohne Vorbereitung<br />
bleichsüchtigen Organismen verabreicht wurde“,<br />
schrieb Pierre Boulez: „Harmonische Beziehungen<br />
und melodische Bildungen sind auf schlagkräftige,<br />
leicht zu behaltende Formeln gebracht,<br />
die eigentlich fast nur dazu dienen, eine rhythmische<br />
Erfindungskraft zu lancieren, wie sie die<br />
westliche Musik bis dahin nicht gekannt hatte.“<br />
Berühmt geworden sind im „Sacre“ vor allem<br />
zwei Stellen: das einleitende FagottSolo und<br />
die Akkordrepetitionen der „Frühlingsauguren“.<br />
Das FagottSolo basiert auf einer litauischen<br />
Volksmelodie und repetiert mehrmals (mit einigen<br />
Ausweichungen) ein höchst einfaches Motiv.<br />
Man hat Strawinsky aufgrund solcher „primitiver“<br />
Bildungen oft einen Mangel an melodi <br />
schen Einfällen nachgesagt. Interessanter aber<br />
ist, dass das Kernmotiv der FagottMelodie jedes<br />
Mal anders rhythmisiert ist. Wenige melodische<br />
Bewegung bei gleichzeitiger rhythmischer<br />
Vielfalt – auf diese einfache Formel lassen sich<br />
weite Teile des „Sacre“ zurückführen.<br />
Die Stelle, die gleichsam zum Synonym für seine<br />
Kompositionstechnik geworden ist, ist der zweite<br />
Abschnitt („Les Augures printaniers. Danses<br />
des Adolescentes“) mit seinen Akkordrepetitionen.<br />
Diese Akkorde sind die Keimzelle der Komposition<br />
und tauchen schon auf Seite 1 von Strawinskys<br />
Skizzen zum „Sacre“ auf. Sie sind aus<br />
zwei verschiedenen Tonarten zusammengesetzt,<br />
wirken aber nicht so sehr dissonant, als vielmehr
Igor Strawinsky: „Le Sacre du Printemps“<br />
19<br />
geräuschhaft. Die Dissonanzen werden nicht im<br />
Sinn der traditionellen Harmonielehre aufgelöst,<br />
sondern einfach nur repetiert und verschieden<br />
akzentuiert. Man kann immer wieder lesen, dass<br />
in der Partitur des „Sacre“ das Schlagzeug als<br />
vierte Gruppe zu den Holzbläsern, Blechbläsern<br />
und Streichern hinzugetreten sei. Die archaische,<br />
rhythmische Kraft geht aber gerade nicht vom<br />
Schlagzeug aus, sondern von den Streichern und<br />
Hörnern, ja es kommt während vieler Repetitionspassagen<br />
kein einziges traditionelles Schlaginstrument<br />
zum Einsatz. Die schlagzeugähnliche<br />
Wirkung beruht auf einer für Streicher untypischen<br />
Spielweise: staccato auf Abstrich. Das<br />
Pariser Premierenpublikum war wohl nicht zuletzt<br />
von dieser „Respektlosigkeit“ gegenüber<br />
dem sakrosankten Klangkörper „Orchester“ geschockt<br />
– die freilich Ausdruck einer konsequenten<br />
Umsetzung des künstlerischen Sujets war.<br />
zukunftsweisend dieses Werk war und wie aktuell<br />
es auch heute noch ist, zeigt etwa die Tatsache,<br />
dass das immer wieder andersartige Gestalten<br />
eines begrenzten, überschaubaren Mate <br />
rials – man denke an die FagottMelodie vom<br />
Anfang des Werks – in den 80er Jahren des 20.<br />
Jahrhunderts für Luigi Nono und viele andere<br />
Komponisten überaus wichtig wurde, unabhängig<br />
davon, ob sie sich in der Tradition Strawinskys<br />
sahen oder nicht. „Wir wollen nicht übersehen,<br />
dass es in der Musikgeschichte nur wenige<br />
Werke gibt, die sich des Privilegs rühmen können,<br />
noch nach 40 Jahren nichts von ihrer erneuernden<br />
Kraft eingebüßt zu haben“, schrieb Pierre<br />
Boulez 1951. Dieser Satz ist auch im zweiten Jahrzehnt<br />
des 21. Jahrhunderts noch unvermindert<br />
gültig.<br />
„Sacre“ und kein Ende<br />
„Hätte nicht der von Strawinsky so sehr verehrte<br />
Tschaikowsky“, fragt Wolfgang Burde in seiner<br />
StrawinskyBiographie, „angesichts des ‚Sacre‘<br />
zu einem Klagelied ausholen müssen: über die<br />
gänzliche Abschaffung des Prinzips der Entwicklung,<br />
über die Eliminierung der Wertigkeit von<br />
Akkordfunktionen, über die Gestaltung von Sätzen<br />
auf der Basis von MotivVariationen und<br />
über die Ablösung der homophonen und polyphonen<br />
Anlage von Satzstrukturen durch das<br />
Prinzip der Schichtung mehrerer Material und<br />
Gestaltungsebenen ?“<br />
In der Tat verstellt die Emanzipation des Rhythmus<br />
bis heute den Blick auf andere kompositionstechnische<br />
Neuheiten des „Sacre“. Wie neu und
20<br />
Essay<br />
Über Strawinskys „Le Sacre du Printemps“<br />
Pierre Boulez<br />
Der „Sacre“ dient als Angelpunkt bei jedem Versuch,<br />
die Anfänge der Neuen Musik zu fixieren.<br />
Es ist ein künstlerisches Manifest und hat – ähnlich<br />
wie Picassos „Demoiselles d’ Avignon“ und<br />
wohl auch aus denselben Gründen – nicht aufgehört,<br />
starke Impulse und Reaktionen auszulösen:<br />
erst Polemik, dann begeisterte Zustimmung,<br />
schließlich die notwendigen Klärungen. Er hat<br />
seine Aktualität über die Jahre unvermindert<br />
bewahrt. Dabei ist er seltsamerweise, sieht man<br />
einmal von der jüngsten Vergangenheit ab, als<br />
quasi symphonisches Werk weit erfolgreicher<br />
gewesen als als Ballett. Und auch heute noch<br />
übertrifft – trotz einiger bemerkenswerter und<br />
vieldiskutierter Choreographien – die Zahl der<br />
konzertanten Aufführungen die der getanzten<br />
bei weitem.<br />
Gerade weil die historische Landschaft heute<br />
vielfältiger und die Persönlichkeit Strawinskys<br />
komplexer erscheinen, kann sich niemand der<br />
geradezu physischen Erregung entziehen, die<br />
die Spannung und rhythmische Vitalität mancher<br />
Abschnitte des „Sacre“ immer noch auslösen.<br />
Es fällt nicht schwer, sich zu vergegenwärtigen,<br />
welche Bestürzung diese Partien ein <br />
mal in einer Welt verursacht haben müssen, in<br />
der eine „zivilisierte“ Ästhetik sich in absterbenden<br />
Konventionen erschöpfte. Es war das frische<br />
Blut der „Barbaren“, eine Art von elektrischem<br />
Schock, der ohne Vorbereitung bleich <br />
süchtigen Organismen verabreicht wurde.<br />
In der Algebra kennt man den Begriff und die<br />
Me thode des „Kürzens“ der verschiedenen Glieder<br />
einer Gleichung, die damit auf ihre einfachsten<br />
Verhältnisse gebracht werden. In diesem<br />
Sinne mag man auch beim „Sacre“ von einer<br />
Konzentration auf die Grundelemente sprechen;<br />
sie reduziert die Begriffe einer hochentwickelten<br />
Sprache und setzt einen Neubeginn. Diese<br />
Vereinfachung der bisher gebräuchlichen Sprache<br />
erlaubt den Rückgriff auf ein lange vernachlässigtes<br />
Element, dessen Berechtigung im „Sacre“<br />
von Anfang an und in den wichtigsten Episo <br />
den aggressiv bekundet wird. Harmonische Beziehungen<br />
und melodische Bildungen sind auf<br />
schlagkräftige, leicht zu behaltende Formeln gebracht,<br />
die eigentlich fast nur dazu dienen, eine<br />
rhythmische Erfindungskraft zu lancieren, wie<br />
sie die westliche Musik bis dahin nicht gekannt<br />
hatte.<br />
Die neue, überragende Bedeutung des Rhythmus<br />
schlägt sich nieder in der Reduktion von Polyphonie<br />
und Harmonik auf untergeordnete Funktionen.<br />
Das extremste und charakteristischste<br />
Beispiel für diesen neuen Stand der Entwicklung<br />
liefern die „Danses des Adolescentes“, wo ein<br />
Akkord die Grundlage des Einfalls bildet. Das<br />
harmonische Element dient als Material für die<br />
rhythmische Ausarbeitung, die sich in Akzentbildungen<br />
äußert. Die Orchestrierung mit den „bellenden“<br />
Einwürfen der Hörner über dem Gleichmaß<br />
der Streicher dient dazu, die Akzente deut
Igor Strawinsky und Pierre Boulez in Paris (1962)<br />
21
22<br />
Essay<br />
licher hören zu lassen. Deshalb hören wir die<br />
Musik so, wie sie konzipiert ist, kümmern uns<br />
nicht um die Struktur des Akkords, sondern erfahren<br />
nur seinen (Im) Puls. „Glorification de<br />
l’Élue“ und „Danse sacrale“ arbeiten zwar mit<br />
weniger einfachen Mitteln, faszinieren uns jedoch<br />
in gleicher Weise. Denn über die melodischen<br />
Fragmente hinaus bleibt das entscheidend<br />
Wirksame doch der rhythmische Impuls in seiner<br />
reinen Gestalt.<br />
Mit dem „Sacre“ hat Strawinsky die Richtung des<br />
rhythmischen Impulses geändert. Bis dahin beruhte<br />
Musik wesentlich auf einem GrundMetrum.<br />
Innerhalb dieses gleichförmigen Ablaufs wurden<br />
„Konfl ikte“ produziert: Überschneidungen, Überlagerungen<br />
und Verschiebungen rhythmischer<br />
Formeln, die meist untrennbar mit melodischen<br />
Einfällen und harmonischen Funktionen zusammenhingen.<br />
So ergab sich eine Art von Ordnung<br />
und Regelmäßigkeit, die durch momentan auftretende<br />
Fremdkörper gestört wurde. Bei Strawinsky<br />
hingegen, und besonders im „Sacre“,<br />
existiert zunächst nur ein fast körperlich wahrnehmbarer<br />
Puls. Dieser Puls, der einer vorgegebenen<br />
Zähleinheit entspricht, wird nun vervielfältigt,<br />
teils regelmäßig, teil unregelmäßig. Da bei<br />
entstehen natürlich die erregendsten Wirkungen<br />
durch die Unregelmäßigkeit, das Phänomen<br />
des Unvorhersehbaren innerhalb eines vorhersehbaren<br />
Zusammenhangs.<br />
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Die Komposition des „Sacre“ ist nicht von Handlung<br />
und Choreographie eines Balletts abhängig.<br />
Folglich bedarf es auch keiner Modifi kation, überträgt<br />
man sie aus dem Theater in den Konzertsaal.<br />
Denn man kann sagen, dass sich die literarische<br />
Vorlage des „Sacre“ mit seiner musikalischen<br />
Form zu einer vollständigen Einheit ver <br />
bindet; die Idee des Balletts ist in die Partitur<br />
selbst eingegangen. Die Suche nach einer Übereinstimmung<br />
von Form und Inhalt hat Strawinsky<br />
in späteren Jahren immer wieder beschäftigt.<br />
Hier, in „Le Sacre du Printemps“, ist er fast<br />
unbewusst auf die Lösung gestoßen, und so<br />
wurde dieses Werk zum Ritual – und zum Mythos<br />
– der modernen Musik.
22 Der Die Künstler<br />
23<br />
Lorin Maazel<br />
Dirigent<br />
Der in Paris geborene Amerikaner erhielt mit fünf<br />
Jahren Violin und mit sieben Jahren Dirigierunterricht.<br />
Bereits als Jugendlicher stand Lorin Maazel<br />
am Pult aller großen amerikanischen Orchester.<br />
1953 gab er sein europäisches Debüt als Dirigent<br />
am Teatro Massimo Bellini in Catania / Sizilien.<br />
Rasch entwickelte er sich zu einem der führenden<br />
Dirigenten, trat 1960 als erster Amerikaner<br />
in Bayreuth auf, debütierte 1961 beim Boston<br />
Symphony Orchestra und 1963 bei den Salzburger<br />
Festspielen.<br />
Seit über einem halben Jahrhundert ist Lorin<br />
Maazel einer der am meisten geschätzten Dirigenten<br />
der Welt. Zuletzt leitete er als Musikdirektor<br />
das Opernhaus in Valencia / Spanien<br />
sowie von 2002 bis 2009 die New Yorker <strong>Philharmoniker</strong>.<br />
Außerdem ist er Gründer und Künstlerischer<br />
Leiter des viel beachteten Castleton<br />
Festivals in USA. Im September 2012 trat Lorin<br />
Maazel seine Amtszeit als Chefdirigent der<br />
Münchner <strong>Philharmoniker</strong> an.<br />
Seither hat Lorin Maazel mehr als 150 Orchester<br />
in über 5000 Opern und Konzertaufführungen<br />
dirigiert, darunter zahlreiche Uraufführungen.<br />
Lorin Maazel war Chefdirigent des Symphonieorchesters<br />
des Bayerischen Rundfunks (1993–<br />
2002), Music Director des Pittsburgh Symphony<br />
Orchestra (1988–1996), als erster Amerikaner<br />
Direktor und Chefdirigent der Wiener Staatsoper<br />
(1982–1984), Music Director des Cleveland<br />
Orchestra (1972–1982) und künstlerischer Leiter<br />
und Chefdirigent der Deutschen Oper Berlin<br />
(1965–1971).<br />
1985 ernannte das Israel Philharmonic Orchestra<br />
Lorin Maazel zum Ehrenmitglied, außerdem<br />
ist er Ehrenmitglied der Wiener <strong>Philharmoniker</strong><br />
und erhielt die Hans von BülowMedaille der<br />
Berliner <strong>Philharmoniker</strong>.
24<br />
Philharmonische<br />
Blätter<br />
Auftakt<br />
Kammermusik<br />
Die Kolumne von Elke Heidenreich<br />
Was genau ist Kammermusik?<br />
Man darf<br />
ruhig zur genauen<br />
Begriffsbestimmung<br />
auch mal das Lexikon<br />
fragen: Kammermusik<br />
fand im Gegensatz<br />
zur kirchlichen Musik in privaten, zunächst<br />
fürstlichen Räumen statt, also in einem intimeren<br />
Rahmen. Seit dem 18. Jahrhundert gehört die Kammermusik<br />
zur bürgerlichen Musikkultur und ist aus<br />
den Konzertsälen nicht mehr wegzudenken. Die<br />
Münchner <strong>Philharmoniker</strong> bieten in den nächsten<br />
Wochen ein Programm an, das von der Klassik bis<br />
in die Moderne reicht und alle Formen kammermusikalischen<br />
Schaffens umfasst von Mendelssohn<br />
und Brahms, Chausson und Prokofjew, Sibelius,<br />
Schnittke und Roussell, Bekanntes und Unbekanntes,<br />
und man möchte im Grunde Matinee für Matinee<br />
dabei sein. Ich persönlich habe immer Spaß<br />
daran, mehr über das Leben der Komponisten zu<br />
wissen. Natürlich spricht die Musik für sich, aber<br />
mich interessiert, wie sie waren, wie sie gelebt haben,<br />
wie leicht oder wie schwer es ihnen fi el, diese<br />
Musik zu schreiben, die die Jahrhunderte überdauert<br />
hat. Ich liebe Musikeranekdoten – kennen Sie die<br />
von Jean Sibelius, der tagelang im Hinterzimmer<br />
eines Hotels zum Kartenspielen verschwand? Seine<br />
Frau Aino schrieb einen Zettel: Wann gedenkst du<br />
nachhause zu kommen? Er schickte ihn durch den<br />
Hoteldiener zurück: Liebste, wie soll ich das wissen,<br />
ich bin ja Komponist, nicht Hellseher. Der Mann<br />
hat Witz – fi ndet man den auch in seiner Musik?<br />
So etwas fasziniert mich.<br />
Wussten Sie, dass Beethoven furchtbar schlampig<br />
war? Seine Wohnungen müssen desaströs gewesen<br />
sein Essensreste, ein Nachttopf unter dem Klavier,<br />
herumliegende Kleider, und wenn ihm beim Komponieren<br />
zu heiß wurde, schüttete er sich einen Topf<br />
kaltes Wasser über den Kopf. Und misstrauisch war<br />
er, weil er doch kaum noch hörte, was wollten diese<br />
gestikulierenden Vermieterinnen von ihm? Er warf<br />
Eier nach ihnen, er warf auch im Lokal das Essen<br />
nach den Kellnern, wenn es ihm nicht schmeckte.<br />
Aber so unordentlich er war: sein Kaffee, den er in<br />
großen Mengen trank, musste exakt 60 Kaffeebohnen<br />
pro Tasse enthalten, abgezählte 60, gemahlen<br />
und aufgebrüht. Ein Verrückter? Vielleicht, aber<br />
was für eine Musik hat er uns geschrieben! Gustav<br />
Mahler sagte in einem Gespräch: „Du fragst, ob sie<br />
Beethoven heute verstehen? Was fällt dir ein? Weil<br />
sie mit seinen Werken aufgewachsen sind, weil er<br />
anerkannt ist, hören, spielen und lieben sie ihn vielleicht,<br />
aber nicht, weil sie seinem Fluge zu folgen<br />
vermöchten. Die können mit ihren Triefaugen nie in<br />
die Sonne schauen.“<br />
Da bleibt uns nur, unsere Triefaugen zu schließen,<br />
die Beethoven’sche Sonne strahlen und uns<br />
wärmen zu lassen, dankbar.<br />
Meine LieblingsMusikkarikatur ist von Rattelschneck.<br />
Da sitzt ein Mann und hört Kammermusik.<br />
Er sagt: „Gleich kommt die Stelle, wo ich immer<br />
weinen muss. Die Stelle dauert drei Sekunden.<br />
Ich weine aber länger.“
Philharmonische<br />
Blätter<br />
6 Fragen an …<br />
25<br />
Elke Funk-Hoever<br />
Instrument: Violoncello<br />
Bei den Münchner <strong>Philharmoniker</strong>n<br />
seit 1994<br />
Wolfram Lohschütz<br />
Instrument: Violine<br />
Bei den Münchner <strong>Philharmoniker</strong>n<br />
seit 1990<br />
1 Welches Instrument<br />
dürften Ihre<br />
Kinder nicht lernen?<br />
Sie dürfen spielen, was<br />
sie wollen. Wobei wir<br />
froh wären, wenn es<br />
nicht Kontrabass, Harfe,<br />
Schlagzeug oder Tuba wäre, die sind so sperrig.<br />
2 Was sagt man Leuten nach, die Ihr<br />
Instrument spielen? Und stimmt das?<br />
Sympathisch, humorvoll, blitzgescheit, nett, teamfähig,<br />
interessant. Das stimmt natürlich...<br />
3 Schon mal den Instrumentenkoffer<br />
stehen gelassen?<br />
Ich habe das BogenEtui in der SBahn liegen lassen<br />
und dann zufällig ca. 1,5 Stunden später jene<br />
SBahn abgepasst, die aus entgegengesetzter<br />
Richtung wieder kam. Der Zugführer hat mir tatsächlich<br />
den Bogen überreicht!<br />
4 Gab es einen Auftritt, der Sie besonders<br />
bewegt hat?<br />
Ich kämpfe öfter mit der Fassung. Beim Schluss<br />
von Mahlers 2. Symphonie oder dem Ende von<br />
„Faust‘s Verdammnis“ von Berlioz zum Beispiel.<br />
5 Haben Sie die Blechbläser hinter Ihnen<br />
schon mal verflucht?<br />
Nicht gerade verfl ucht, aber die können schon<br />
schön laut spielen.<br />
6 Welcher Komponist wird viel zu selten<br />
gespielt?<br />
Es gibt noch einige Komponisten, z.B. Gouvy,<br />
Ouslow, Röntgen, um nur wenige zu nennen.<br />
1 Was raten Sie<br />
Eltern, deren<br />
Kinder keine Lust<br />
zum üben haben?<br />
Lassen Sie ihre Kinder<br />
mal in ein tolles (Kinder)<br />
Konzert gehen<br />
oder in eine Oper wie „Hänsel & Gretel“.<br />
2 Was müssen Sie tun, um sich für Ihren<br />
Job fit zu halten?<br />
Ständige Ruhephasen, „Taekwondo“, „Alexander<br />
Technik“, Bergwandern, Radeln. Und täglich Üben.<br />
3 Gab es einen Auftritt, der Sie besonders<br />
bewegt hat?<br />
Als Zubin Mehta nach einem krankheitsbedingten<br />
Ausfall Celibidaches Bruckners 4. in Wien übernahm,<br />
am Ende Tränen in den Augen hatte und gestand,<br />
nicht er habe dieses Konzert dirigiert, sondern<br />
der „große Maestro“!<br />
4 Bei welchem Ereignis in der Geschichte<br />
der Münchner <strong>Philharmoniker</strong> wären Sie<br />
gerne dabei gewesen?<br />
Mahler dirigiert die Uraufführung seiner 8.Symphonie!<br />
5 Welches musikalische Erlebnis hat Sie<br />
geprägt?<br />
„Lenny“ Bernstein – seine Konzerte in New York,<br />
und die persönliche Begegnung mit ihm im<br />
SchleswigHolsteinFestivalOrchester.<br />
6 Spielt man als Profi in der Freizeit auch<br />
noch einfach so zum Spaß?<br />
Ja, besonders Kammermusik mit meinem Streichquartett,<br />
dem LENBACHQuartett.
26<br />
Philharmonische<br />
Blätter<br />
Über die Schulter geschaut<br />
Die Kammermusik bei den Münchner <strong>Philharmoniker</strong>n<br />
Christian Beuke<br />
Sie weitet den Horizont, blickt über Grenzen und<br />
ist eine künstlerische Herausforderung für jeden<br />
Orchestermusiker: die Kammermusik. Auch wenn<br />
die Symphoniekonzerte in der Philharmonie im<br />
Gasteig meist größere Aufmerksamkeit erfahren,<br />
spielt die Kammermusik für die Münchner <strong>Philharmoniker</strong><br />
mehr als eine Nebenrolle. Sie ist fest im<br />
Selbstverständnis verankert, eine Herzensangelegenheit<br />
der Orchestermusiker, und ein wichtiger<br />
Bestandteil im Programm. Ein kurzer Überblick.<br />
Die Kammerkonzerte im Künstlerhaus<br />
Die Kammerkonzerte im Künstlerhaus am Lenbachplatz<br />
sind die „Klassiker“ im philharmonischen<br />
Angebot. In acht SonntagsMatineen präsentieren<br />
sich unterschiedliche kammermusikalische<br />
Formationen, vom Trio über das Quintett<br />
bis zum Oktett. Die Programmplanung liegt in<br />
den Händen der Musiker, die Reihe im Künstlerhaus<br />
wird koordiniert von den beiden <strong>Philharmoniker</strong>n<br />
Sven Faulian und Bernhard Metz. „Wie<br />
jeder Wein ein gutes Essen abrundet, ist es für<br />
jeden Orchestermusiker wichtig, Kammermusik<br />
zu spielen. Das eine ist ohne das andere unvorstellbar“.<br />
Allerdings gibt es auch Grenzen. Mit den<br />
Wünschen und Vorschlägen aus dem Orchester<br />
ließen sich mehr als doppelt so viele Konzerte<br />
veranstalten. „Da heißt es auch mal, sich in Geduld<br />
zu üben“, so Bernhard Metz. „Dafür haben<br />
die Kollegen dann auch Verständnis. Und in der<br />
nächsten Spielzeit steigen die Chancen, sich seinen<br />
Wunsch zu erfüllen.“<br />
Auf die kommende Spielzeit 2013/14 sind die beiden<br />
Planer besonders stolz. Denn so viel Prominenz<br />
gab es wohl noch nie bei den Kammerkonzerten.<br />
„Mit der Sopranistin Anja Harteros, dem<br />
Tenor Mark Padmore und der Schauspielerin Dietlinde<br />
Maazel haben gleich drei Hochkaräter zugesagt,“<br />
freut sich Sven Faulian. Darüber hinaus wird<br />
es mit den „Meisterwerken“ eine neue, mehrjährig<br />
angelegte Reihe geben, die sich dem Streichquartett<br />
als kammermusikalische Königsklasse widmet.<br />
Almkonzerte<br />
Die kammermusikalischen Aktivitäten sind nicht<br />
allein auf München beschränkt. Und sie kommen<br />
auch mal ganz unprätentiös daher. Mit „Auf da Oim“<br />
feierte im Juni 2012 ein ganz besonderes Projekt<br />
Premiere. In den urigen Hütten der Frasdorfer Niederalmen<br />
waren vier verschiedene Kammermusikensembles<br />
der Münchner <strong>Philharmoniker</strong> zu<br />
erleben. Nach einem gut einstündigen Aufstieg<br />
zur ersten Alm lud das Flötenquartett zum ersten<br />
Konzert in die Rauchalm ein. Nach einem gemütlichen<br />
Weitermarsch fand auf der Hofalm das zweite<br />
Konzert statt. Dort auf dem Programm: eine<br />
Mozart und eine DvořákSerenade. Nach einer<br />
Brotzeit folgte das Klarinettenquintett auf der<br />
Schmiedalm, den offi ziellen Abschluss bildete ein<br />
Streicherduo auf dem Tanzboden der Hofalm.<br />
Die Idee zu den Almkonzerten stammt vom Hornisten<br />
Alois Schlemer. Er wohnt in Frasdorf und<br />
wusste schon als kleiner Bub, dass Musik auf den
Philharmonische<br />
Blätter<br />
Über die Schulter geschaut<br />
27<br />
Hütten eine große Bedeutung hat. Umso mehr war<br />
er davon überzeugt, dass sich hochkarätige Kammermusik<br />
auch für Almhütten eignet. Nach dem<br />
großen Erfolg der Erstaufl age waren sich alle Beteiligten<br />
sofort darin einig, die Almkonzerte 2013<br />
fortzusetzen. Am 23. Juni wird es wieder soweit<br />
sein, nähere Informationen folgen in Kürze.<br />
Klassik in der Münchner Club-Szene<br />
Im Februar 2013 wagten sich die Münchner <strong>Philharmoniker</strong><br />
mit einem weiteren Projekt in die Club<br />
Szene in München. Das Streichquartett bestehend<br />
aus Julian Shevlin, Simon Fordham, Valentin Eichler<br />
und David Hausdorf spielten im Club BobBeaman.<br />
Einer Location, die eigentlich für elektronische<br />
Musik und kräftige Beats steht. Die Reihe<br />
Klassik im Club gibt es schon ein paar Jahre, erstmalig<br />
waren die Münchner <strong>Philharmoniker</strong> auf der<br />
Bühne – oder besser: auf der Tanzfl äche – zu erleben.<br />
Mit Werken von Haydn, Schubert und Beethoven<br />
begeisterten die vier <strong>Philharmoniker</strong> ihr<br />
aufmerksam lauschendes Publikum im restlos<br />
ausverkauften BobBeaman. Doch die Clubbesucher<br />
faszinierten auch die Musiker. „Die erste Reihe<br />
war ja nur zwei Meter von uns entfernt und saß<br />
auf dem Boden oder auf Pappkisten. Um uns herum<br />
ein großer Kreis mit rund 300 Leuten, die vermutlich<br />
nicht täglich klassische Musik hören. Und ich<br />
habe kein einziges Husten gehört. Nur eine umgefallene<br />
Bierfl asche“, schmunzelt Konzertmeister<br />
Julian Shevlin. Der nächste Auftritt, dann mit einem<br />
anderen philharmonischen Kammerensemble,<br />
soll am 10. Mai im Club Harry Klein stattfi nden.<br />
Das Kammerorchester der Münchner<br />
<strong>Philharmoniker</strong><br />
Eine feste Größe und auch in München vielen<br />
Konzertbesuchern bekannt ist dagegen das Kammerorchester<br />
der Münchner <strong>Philharmoniker</strong>. Ein<br />
feierliches Konzert anlässlich des 75. Geburtstages<br />
von Benjamin Britten im Großen Konzertsaal<br />
der Münchner Musikhochschule im Jahr<br />
1988 gilt als seine Geburtsstunde. Im Sommer<br />
2004 übernahm der philharmonische Konzertmeister<br />
Lorenz NasturicaHerschcowici die künstlerische<br />
Gesamtleitung des Kammerorchesters,<br />
das von nun an mit Künstlern wie Hélène Grimaud,<br />
AnneSophie Mutter und Nikolaj Znaider zusammenarbeitete.<br />
Im letzten Jahr war das Kammerorchester<br />
der Münchner <strong>Philharmoniker</strong> gemeinsam<br />
mit den Pianisten Martin Stadtfeld und David<br />
Fray auf einer großen Tournee durch Deutschland<br />
zu erleben, mit mehr als 15 Konzerten in u.a. Berlin,<br />
Hamburg, München und Dresden.<br />
Blasmusik und Marsch-CD „Ehrensache“<br />
Ein weiteres Kammerorchester hat im März sein<br />
Debüt gegeben. Im Festsaal des Hofbräuhauses<br />
spielten die Bläser der Münchner <strong>Philharmoniker</strong><br />
in einem Konzert eben jene Märsche, die sie zuvor<br />
gemeinsam mit Lorin Maazel und Zubin Mehta<br />
für eine CD aufgenommen haben. Ulrich Haider,<br />
Hornist und Initiator des Projektes, fasst die<br />
Grundidee wie folgt zusammen: „Dieses Konzert<br />
führt uns zurück zu den Wurzeln. Wir haben unsere<br />
musikalische Laufbahn in Blasorchestern<br />
begonnen, dort gehören Märsche zum Standardrepertoire.<br />
Die ganz besondere Qualität dieser Musik<br />
war ausschlaggebend für den Wunsch, sie in<br />
einem Konzert auf höchstem Niveau zu präsentieren.“<br />
Die CD erscheint am 7. Juli 2013, Vorbestellungen<br />
sind unter www.mommusic.de möglich.<br />
Die Verkaufserlöse kommen ausschließlich<br />
der Orchesterakademie der Münchner <strong>Philharmoniker</strong><br />
zugute.
28<br />
Philharmonische<br />
Blätter<br />
Aus dem Gasteig<br />
„Ich lebe Gastronomie“<br />
Marc Uebelherr, der Geschäftsführer der Gastronomie im Gasteig<br />
Alexander Preuß<br />
Treffpunkt „gast“. Marc Uebelherr ist<br />
leicht zu finden, er überragt die meisten<br />
Gäste um Kopfeslänge. Er möchte<br />
unser Gespräch gern im „le copain“<br />
führen. Noch schnell ein paar Worte<br />
wechseln mit dem Küchenchef, ein<br />
Telefonat mit der Baustelle seines aktuellen<br />
Projektes und dann ein paar<br />
Schritte über das Celibidacheforum in eine andere<br />
gastronomische Welt in der Glashalle. Er verschafft<br />
sich einen kurzen Überblick und scheint<br />
innerlich zu prüfen, ob er als Gast zufrieden wäre.<br />
Er wäre es, das sieht man ihm an.<br />
Die Zufriedenheit seiner Gäste sei der Sinn seines<br />
Berufslebens, sagt er. Im Gasteig bedeutet<br />
das, den Besucher quasi in der Tiefgarage abzuholen<br />
und seinen Aufenthalt angenehm kulinarisch<br />
zu begleiten. Dafür hat sich Marc Uebelherr<br />
im Gasteig einiges einfallen lassen. Seine<br />
Gasteig Kult und Speise GmbH betreibt neben<br />
dem bekannten „gast“ das „le copain“ in der<br />
Glashalle und neu die „Philine“ im Durchgang<br />
zum CelibidacheForum. Für sämtliche Veranstaltungen<br />
im Gasteig wird das Catering ausgerichtet<br />
und die „Skybar“ in der Philharmonie bietet zusätzlich<br />
Raum für Empfänge.<br />
Die Vielseitigkeit ist ihm wichtig. „Hier steht mitunter<br />
der Skateboardfahrer aus Haidhausen neben<br />
dem Musiker im Frack, der gleich ein tolles<br />
Konzert spielen wird.“ Das Angebot und die Atmosphäre<br />
soll Konzertbesucher ebenso ansprechen<br />
wie Studenten, Mitarbeiter des Hauses<br />
oder Familien mit Kindern. Das sagt<br />
der zweifache Familienvater, der<br />
erst kürzlich an Fasching das „gast“<br />
in ein Kinderparadies mit Zauberer<br />
Vorstellung verwandeln ließ.<br />
Marc Uebelherr stammt eigentlich<br />
aus einer Musikerfamilie. In der<br />
Gastronomie ist er ein Quereinsteiger.<br />
„Musik und Kulinarik gehören zusammen“.<br />
Damit sich das Publikum vor und nach dem Konzert<br />
nicht gestört fühlt, bleibt die Musik im „gast“<br />
jeweils für eine Stunde vor und nach dem Konzert<br />
aus. Musikalischer Hochgenuss braucht ein Pendant.<br />
Deshalb werden alle Speisen frisch zubereitet.<br />
„Alles hausgemacht“ in der Zentralküche<br />
im „gast“.<br />
Das „gast“ hat am Tag etwa 600 bis 800 Gäste.<br />
An Konzerttagen ist es überfüllt, deshalb hat<br />
auch das „le copain“ bis 23 Uhr geöffnet, um allen<br />
Besuchern gerecht zu werden. In der neu eröffneten<br />
„Philine“ wird es zur umfangreichen<br />
Weinkarte und Antipasti bald ein Klavier geben.<br />
Marc Uebelherr träumt von einer angenehmen<br />
Stimmung zwischen Musikern und Konzertbesuchern.<br />
Es darf auch musiziert werden.<br />
Die Diskussionen um den Gasteig verfolgt er mit<br />
Skepsis. Er schätzt die umfangreichen Angebote<br />
des Hauses und steht mit seinen Institutionen in<br />
gutem Kontakt. „Mir ist der Gasteig ans Herz gewachsen.<br />
Ich bin ein Teil davon, gewissermaßen<br />
die kulinarische Seele des Gasteig.“
Philharmonische<br />
Phil harmonische<br />
Zahl:<br />
2.811<br />
So viele Besucher verzeichneten<br />
die Kammerkonzerte im<br />
Künstlerhaus am Lenbachplatz<br />
in der letzten Spielzeit.<br />
Philharmonische Notizen<br />
In Kürze<br />
29<br />
Blätter<br />
Reise-Marathon<br />
März, April und Mai sind für die Münchner <strong>Philharmoniker</strong><br />
intensive Reisezeit. Im März stehen<br />
vier Konzerte in der Schweiz auf dem Plan. Zwölf<br />
Konzerte wird das Orchester auf seiner Asien<br />
Reise durch Japan, China und Korea geben bevor<br />
es im Mai über Wien und Prag nach Udine und<br />
Basel geht.<br />
CD Marschmusik<br />
Die Aufnahmen für die MarschmusikCD „Ehrensache“<br />
der Bläser der Münchner <strong>Philharmoniker</strong><br />
unter der Leitung von Chefdirigent Lorin Maazel<br />
und Ehrendirigent Zubin Mehta sind abgeschlossen.<br />
Die CD erscheint am 7. Juli 2013, Vorbestellungen<br />
unter www.mommusic.de. Die Verkaufserlöse<br />
kommen der Orchesterakademie<br />
der Münchner <strong>Philharmoniker</strong> zugute.<br />
Orchesterakademie<br />
Zwei ehemalige Stipendiatinnen haben ihre<br />
Probespiele gewonnen. Caroline Busser ist Solo<br />
Cellistin in Kaiserslautern und Yukino Thompson<br />
ist stellvertretende SoloOboistin im Orchester<br />
der Bayerischen Staatsoper hier in München.<br />
Wir begrüßen unsere neuen Stipendiaten:<br />
Thomas Hille aus Nürnberg (Kontrabass),<br />
Bernhard Mitmesser aus Österreich (Klarinette),<br />
Francesco Pietralunga aus Italien (Posaune),<br />
Gergely Csikota aus Ungarn (Trompete) und<br />
Michael Schwarzfischer aus München (Tuba).<br />
Bestanden<br />
Philippe Mesin aus den 1. Violinen hat seine Probezeit<br />
bestanden und ist festes Mitglied der<br />
Münchner <strong>Philharmoniker</strong>.<br />
Aufgestiegen<br />
Unsere Hornistin Maria Teiwes hat das Probespiel<br />
um die stellvertretende SoloHorn Position<br />
in unserem Orchester gewonnen. Sie beginnt<br />
ihre Probezeit im September.<br />
Solo-Bratsche<br />
Ebenfalls im September beginnt die Probezeit<br />
von Jano Lisboa aus Portugal. Er war bisher<br />
SoloBratscher im Münchner Kammerorchester<br />
und hat sich die Stelle des SoloBratschers in<br />
unserem Orchester erspielt.<br />
Druckfrisch<br />
Das neue Jahresprogramm der Münchner <strong>Philharmoniker</strong><br />
ist da. Jetzt erhältlich an allen bekannten<br />
Auslagen im Foyer der Philharmonie<br />
oder im AbonnementBüro. Oder im Internet unter<br />
ww.mphil.de.
30<br />
Philharmonische<br />
Blätter<br />
Orchestergeschichte<br />
Siegfried Wagners Auftritte als Interpret von Werken<br />
seines Vaters und Großvaters sowie eigenen Kompositionen<br />
Gabriele E. Meyer<br />
Nur wenige Tage vor Siegfried Wagners erstem<br />
Auftritt am 10. März 1913 feierten die Münchner<br />
<strong>Philharmoniker</strong> in der festlich geschmückten Tonhalle<br />
den hundertsten Geburtstag seines Vaters.<br />
(Der vorgezogene Termin erklärt sich aus der alljährlichen<br />
„sommerlichen“ Tätigkeit des Orchesters<br />
in Bad Kissingen.) Siegfried Wagner, Komponist,<br />
Dirigent und Leiter der Bayreuther Festspiele<br />
ab 1908 versuchte angesichts der fi nanziell prekären<br />
Lage im gesamten Festspielbereich nicht zuletzt<br />
mit regelmäßigen Konzertreisen weitere Geldmittel<br />
zu akquirieren. Am Abend des „Einzigen<br />
Konzerts mit dem verstärkten KonzertVereins<br />
Orchester“ stellte er sich mit Ausschnitten aus<br />
seinen eigenen Opern vor, gerahmt von Richard<br />
Wagners „FaustOuvertüre“, dem „Siegfried<br />
Idyll“ und dem Vorspiel zu „Die Meistersinger von<br />
Nürnberg“. Unabhängig von der schon damals<br />
geäußerten Frage nach dem Sinn, ein Konzertprogramm<br />
mit „Opernbruchstücken“ zu bestreiten,<br />
beklagte sich der Rezensent der „Münchner<br />
Post“, das Kind aus Andersons „Des Kaisers neue<br />
Kleider“ zitierend, heftigst über die Zumutung,<br />
sich „2½ Stunden lang die langweiligste und dürftigste<br />
Musik anzuhören, die man sich in Deutschland<br />
eben noch deswegen bieten läßt, weil ihr<br />
Komponist – der Sohn eines Heroen ist“. Selbst<br />
der Dirigent fand keine Gnade. Die „Münchner<br />
Neuesten Nachrichten“ hingegen beurteilten den<br />
Abend trotz offenkundiger Schwächen in Werk<br />
und Ausführung wesentlich fairer, weil „die Teilstücke<br />
erst als Glieder eines Ganzen in ihrer vollen<br />
Bedeutung“ gewürdigt werden könnten. –<br />
Mitte des Jahres 1929 erbat sich Siegfried Wagner<br />
für ein weiteres Gastdirigat von der Stadt das<br />
alte Programm, um sich bei der Auswahl der Werke<br />
nicht zu wiederholen. Das Konzert am 22. Januar<br />
1930 eröffnete der Enkel mit der Symphonischen<br />
Dichtung „Orpheus“ seines Großvaters<br />
Franz Liszt, wobei Oscar von Pander von den<br />
„MNN“ Wagners Verzicht auf jegliches Rubato<br />
insbesondere in den großangelegten Steigerungen<br />
ausdrücklich hervorhob. Ganz anders fi el dieses<br />
Mal auch das Urteil über den Komponisten<br />
Siegfried Wagner aus, der wiederum Teile aus<br />
seinem umfangreichen Opernschaffen präsentierte.<br />
Als instrumentales Zwischenspiel hatte<br />
Wagner noch sein „Konzertstück für Violine und<br />
kleines Orchester“ gewählt, wobei es sich hier<br />
höchstwahrscheinlich um das schon am 3. März<br />
1922 zum ersten Mal in München aufgeführte<br />
„Konzertstück für Flöte und kleines Orchester“ gehandelt<br />
haben dürfte. „Getragen von der ausgezeichneten<br />
Begleitung des Komponisten“ spielte<br />
Konzertmeister Carl Snoeck den Solopart „mit tadelloser<br />
Klarheit und Sicherheit“. Den krönenden<br />
Beschluss bildete die „vorzügliche Interpretation“<br />
der TannhäuserOuvertüre von Richard Wagner. –<br />
„Siegfried Wagner wurde“, ganz anders als bei<br />
seinem philharmonischen Debüt, „mit anhaltendem<br />
Beifall und einem prächtigen Lorbeerkranz<br />
überaus herzlich gefeiert und ließ an den Ovationen<br />
mit Berechtigung auch das treffl iche Orchester<br />
der Münchner <strong>Philharmoniker</strong> teilnehmen.“
Philharmonische<br />
Blätter<br />
Das letzte Wort hat ...<br />
31<br />
Bob Ross<br />
Hornist der Münchner <strong>Philharmoniker</strong> und Gründer von „Blechschaden“<br />
In unserem Orchester sind viele<br />
Musiker aus den verschiedensten<br />
Ländern dieser Welt vertreten. Dazu<br />
kommen noch die vielen Gastdirigenten,<br />
so dass oftmals mehr<br />
Englisch als Deutsch gesprochen<br />
wird.<br />
Am Ende des 19. Jahrhunderts war<br />
es in Amerika genau umgekehrt.<br />
Damals wurde in den großen amerikanischen<br />
Orchestern Deutsch<br />
gesprochen, weil viele Musiker aus<br />
Deutschland waren. Zur englischen<br />
Sprache ein Beispiel: als Celibidache zu den<br />
<strong>Philharmoniker</strong>n als Chef kam, hat er zum Orchestervorstand<br />
gesagt, er soll uns sagen, wir<br />
dürfen ihn nur mit Maestro ansprechen. Als Celi<br />
herauskommt, ein bisschen dirigiert, hat mein<br />
Kollege aus Amerika als erster eine Frage gestellt;<br />
„Entschuldigen Sie, my...ass...tro...“<br />
Meine schottische Mutter hat eher Keltisch als<br />
Englisch verstanden; als ich in Bayreuth spielte,<br />
rief ich in Schottland an, um ihr dies zu erzählen.<br />
Sie hatte furchtbare Angst, weil sie mich<br />
am Telefon nicht gut verstand. Sie meinte, ich<br />
spiele in Beirut und mein Chef sei Celigadaffi.<br />
Damals war zudem die große Nahostkrise.<br />
Und was „Nahost“ betrifft: als<br />
wir mit dem Orchester noch vor<br />
der Wende in Ostdeutschland<br />
waren, wurden wir im Hotel in<br />
Leipzig schikaniert. Ich wollte ein<br />
Getränk in der HotelBar bestellen.<br />
„Sie haben Jeans an, Sie<br />
werden hier nicht bedient“, sagte<br />
der Kellner. Dann kam ein<br />
Schlagzeuger von uns in die Hotellobby<br />
und trug ebenfalls Jeans.<br />
Da standen so Typen, die offensichtlich<br />
von der Stasi waren,<br />
und einer sagte: „Sie dürfen mit<br />
Jeans nicht herein!“ Da hat mein Kollege ganz<br />
einfach seine Jeans ausgezogen und ist halbnackt<br />
durch die Lobby in Richtung Fahrstuhl gelaufen.<br />
Schlagzeuger sind schlagfertig... im<br />
Schottenrock hätte ich wahrscheinlich mehr<br />
Glück gehabt.<br />
Übrigens habe ich damals in Bayreuth meinen<br />
Polterabend mit Blechbläserkollegen gefeiert.<br />
Da wir im Garten laut musiziert haben, kam<br />
pünktlich um 22 Uhr die Polizei. Ich stand da im<br />
Schottenrock und begrüßte die Polizisten mit<br />
„Sorry, aber ich werde bald heiraten“. Der ältere<br />
Polizist schaute mich und meine Abendkleidung<br />
an und sagte „Und Du bist die Braut, oder?“
32 Vorschau<br />
So. 07.04.2013, 11:00 5. Abo m<br />
Ottorino Respighi<br />
„Fontane di Roma“<br />
So. 05.05.2013, 11:00 6. KaKo<br />
„Was hat Brahms eigentlich<br />
mit Chausson zu tun?“<br />
Mi. 08.05.2013, 20:00 7. Abo a<br />
Do. 09.05.2013, 19:00 5. Abo h5<br />
Sa. 11.05.2013, 19:00 5. Abo e5<br />
So. 12.05.2013, 11:00 6. Abo m<br />
Ludwig van Beethoven<br />
Konzert für Klavier und<br />
Orchester Nr. 4 G-Dur op. 58<br />
Ludwig van Beethoven<br />
Symphonie Nr. 7 A-Dur op. 92<br />
Lorin Maazel, Dirigent<br />
Haochen Zhang, Klavier<br />
Ernest Chausson<br />
Klavierquartett A-Dur op. 30<br />
Johannes Brahms<br />
Klavierquartett Nr. 3 c-Moll<br />
op. 60<br />
Simon Fordham, Violine<br />
Julia Rebekka Adler, Viola<br />
Sissy Schmidhuber, Violoncello<br />
Julian Riem, Klavier<br />
Sergej Prokofjew<br />
Auszüge aus „Romeo und Julia“<br />
op. 64<br />
Sergej Prokofjew<br />
Konzert für Violine und Orchester<br />
Nr. 2 g-Moll op. 63<br />
Johannes Brahms<br />
Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73<br />
Lorin Maazel, Dirigent<br />
Janine Jansen, Violine<br />
Impressum<br />
Herausgeber<br />
Direktion der Münchner<br />
<strong>Philharmoniker</strong><br />
Lorin Maazel, Chefdirigent<br />
Paul Müller, Intendant<br />
Kellerstraße 4, 81667 München<br />
Lektorat: Stephan Kohler<br />
Corporate Design:<br />
Graphik: dm druckmedien<br />
gmbh, München<br />
Druck: Color Offset GmbH,<br />
Geretsrieder Str. 10,<br />
81379 München<br />
Textnachweise<br />
Gabriele E. Meyer, Wolfgang<br />
Aschenbrenner, Elke Heiden <br />
reich, Alex ander Preuß, Gabriele<br />
E. Meyer und Bob Ross schrieben<br />
ihre Texte als Originalbeiträge<br />
für die Pro grammhefte<br />
der Münchner <strong>Philharmoniker</strong>.<br />
Den Text von Pierre<br />
Boulez zitieren wir nach der<br />
deutschen Übersetzung von<br />
Josef Häusler in: Pierre Boulez,<br />
Anhaltspunkte, Kassel 1979.<br />
Lexikalische Angaben, Kurzkommentare<br />
und Künstlerbio<br />
graphie: Stephan Kohler.<br />
Alle Rechte bei den Autorinnen<br />
und Autoren; jeder Nachdruck<br />
ist seitens der Urheber genehmigungs-<br />
und kosten pflichtig.<br />
Bildnachweise<br />
Abbildungen zu Ludwig van<br />
Beethoven: Joseph Schmidt-<br />
Görg und Hans Schmidt (Hrsg.),<br />
Ludwig van Beethoven, Bonn /<br />
Hamburg / Braunschweig 1969;<br />
H. C. Robbins Landon, Beet <br />
hoven – A documentary study,<br />
New York / Toronto 1970. Ab <br />
bildungen zu Igor Strawinsky:<br />
Vera Stravinsky / Robert Craft,<br />
Stravinsky in pictures and docu <br />
ments, London 1979; Volker<br />
Scherliess, Igor Strawinsky<br />
und seine Zeit, Laaber 1983.<br />
Künstlerphotos: wildundleise.de<br />
(Maazel Titelbild, Funk-Hoever,<br />
Lohschütz); B. Bernstein (Maazel<br />
S. 22); Leonie von Kleist (Elke<br />
Heidenreich); Archiv der Münchner<br />
<strong>Philharmoniker</strong>.<br />
Gedruckt auf holzfreiem und FSC-Mix<br />
zertifiziertem Papier der Sorte<br />
LuxoArt Samt.
Lorin Maazel<br />
Dirigent<br />
Sergej Prokofjew<br />
Auszüge aus „Romeo und Julia“ op. 64<br />
Konzert für Violine und Orchester Nr. 2<br />
g-Moll op. 63<br />
Janine Jansen<br />
Violine<br />
Johannes Brahms<br />
Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73<br />
08.05.2013, 20:00 | 09.05.2013*, 19:00 | 11.05.2013, 19:00 |<br />
12.05.2013, 11:00 | Philharmonie im Gasteig<br />
Karten bei München Ticket unter KlassikLine 089 / 54 81 81 400<br />
zu € 73,00 / 62,00 / 54,00 / 44,00 / 38,00 / 22,00 / 15,00<br />
* zu € 85,50 / 71,50 / 62,70 / 51,50 / 45,10 / 26,20 / 17,40<br />
mphil.de<br />
'12<br />
mphil.de<br />
'13
'12<br />
mphil.de<br />
'13<br />
115. Spielzeit seit der Gründung 1893<br />
Lorin Maazel, Chefdirigent<br />
Paul Müller, Intendant