Einsame Spitze Eine Wan<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>n Talkessel von Mafate gehört zu <strong>de</strong>n beeindruckendsten Abenteuern auf La Réunion. Birgit Weidt hat sich auf <strong>de</strong>n Weg gemacht und dabei vor allem eines gelernt: Je <strong>la</strong>ngsamer man läuft, <strong>de</strong>sto eher erreicht man sein Ziel 20 | Wan<strong>de</strong>rn Majestätische Ausblicke und ein gut markiertes Wegenetz: Wan<strong>de</strong>rn ist auf La Réunion die reinste Freu<strong>de</strong> – beson<strong>de</strong>rs wenn man sich einen gut ge<strong>la</strong>unten Gui<strong>de</strong> wie Bernard leistet
B ernard richtet seinen Blick auf meine Wan<strong>de</strong>rvorbereitungen: hohe Trekkingschuhe, Wasserf<strong>la</strong>sche, Sonnenmilch, Regenjacke. Er nickt und fügt hinzu: „Wenn du <strong>de</strong>n Weg ohne Probleme genießen möchtest, musst du vor allem eines können – Pausen machen.“ Genau das schaffen seiner Erfahrung nach viele Touristen nicht: „Sie sind zu ehrgeizig und powern sich schnell aus.“ Heute morgen um 7 Uhr haben wir uns getroffen. Bernard, ein braun gebrannter, muskulöser Mann in <strong>de</strong>n Vierzigern, wird mich in <strong>de</strong>n Cirque <strong>de</strong> Mafate führen, einen <strong>de</strong>r drei großen Talkessel <strong>de</strong>r Insel, die hier in Jahrmillionen <strong>la</strong>ngen Erosionsprozessen entstan<strong>de</strong>n sind. Die Reservierungszentrale von La Réunion vermittelte <strong>de</strong>n Kontakt, als ich mich dort nach einer professionellen Wan<strong>de</strong>rbegleitung erkundigte. Hinter <strong>de</strong>m Örtchen Grand Ilet parken wir das Auto. Die Luft ist herrlich frisch und k<strong>la</strong>r. Kein Wun<strong>de</strong>r: Wir befin<strong>de</strong>n uns auf 2.000 Metern Höhe. Und obwohl das Thermometer 20 Grad anzeigt, fröstelt es mich ein wenig. So schnell habe ich mich bereits an die sommerlichen Temperaturen an <strong>de</strong>r Küste gewöhnt. Bernard ist zufrie<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Wetter. Anhand <strong>de</strong>r Wolken, ihrer Farbe und Größe, erklärt er mir, dass es stabil bleiben wird. Dem Wetterbericht im Fernsehen wür<strong>de</strong> er nie trauen: „Wieso soll ein Tausen<strong>de</strong> Kilometer entfernter Satellit mehr wissen als ich, <strong>de</strong>r vor Ort ist und die Gegebenheiten von Kin<strong>de</strong>sbeinen an kennt?“ Sein Großvater brachte ihm bei, das Wetter zu lesen und zu erkennen, wann <strong>de</strong>r Wind dreht und Regen heranzieht. Aus <strong>de</strong>n baumkargen Höhen beginnen wir <strong>de</strong>n Abstieg nach La Nouvelle, einem kleinen Dorf im Talkessel. Drei Stun<strong>de</strong>n <strong>la</strong>ng geht es steil hinab in die Tiefe. Bereits nach wenigen Schritten öffnet sich ein berauschen<strong>de</strong>s Panorama auf ein gewaltiges Gebirgsmassiv mit Gipfeln, die sich über 3.000 Meter hoch in <strong>de</strong>n Himmel recken. Unter unseren Schuhen hören wir bei je<strong>de</strong>m Schritt das Geröll knirschen. Ich <strong>la</strong>ufe zu schnell, kann mich schlecht bremsen, keuche und vergeu<strong>de</strong> Kraft. „Der Atem trägt die Beine“, ruft Bernard von hinten. Der Meister zeigt, wie es richtig geht: Kleine Schritte soll ich machen, Füße mit <strong>de</strong>n Fersen zuerst aufsetzen, nicht mit <strong>de</strong>n Spitzen. Und <strong>la</strong>ngsamer <strong>la</strong>ufen: einatmen, Schritt, ausatmen, Schritt. Dann machen wir eine Pause, strecken uns im Gras aus. Ein roter Kardinal setzt sich auf einen Tamarin<strong>de</strong>nbaum. Bernard zwitschert ihm zu, <strong>de</strong>r Vogel antwortet. Bei<strong>de</strong> trällern in die Stille hinein. Mein kreolischer Begleiter erinnert mich ein wenig an <strong>de</strong>n griechischen Lebenskünstler Alexis Sorbas, alias Anthony i Informationen Wan<strong>de</strong>rn auf La Réunion La Réunion verfügt über ein ausgezeichnetes Netz markierter und ausgeschil<strong>de</strong>rter Wan<strong>de</strong>rwegen mit einer Gesamtlänge von über 1.000 Kilometern. Touren sind von einem bis zu zehn Tagen möglich, darunter auch Wan<strong>de</strong>rungen durch die drei Vulkankessel Mafate, Sa<strong>la</strong>zie und Ci<strong>la</strong>os. Quinn. Nur dass Bernard nicht tanzt, wenn sich ihm ein Schatten auf die Seele legt, son<strong>de</strong>rn wan<strong>de</strong>rn geht. Sein durchtrainierter Körper wirkt viel jünger als sein Gesicht, in das sich die Jahre bereits tief eingegraben haben. Ich bin ungeduldig, möchte weiter, will in La Nouvelle ankommen. Doch Bernard mahnt mich, noch etwas auszuruhen: „Bei uns sagt man: Es gibt eine Zeit zum Fischen und eine Zeit, um Netze zu trocknen.“ Das gelte auch für das Wan<strong>de</strong>rn: „Je mehr du ausruhst, <strong>de</strong>sto schneller kommst du voran, <strong>de</strong>nn du teilst <strong>de</strong>ine Kräfte besser ein und hältst durch.“ Nach einer <strong>la</strong>ngen Pause brechen wir wie<strong>de</strong>r auf und steigen in das wil<strong>de</strong>, grüne Tal hinab. Die Vegetation wird immer bunter und üppiger: Palmen, Mangobäume, Bananenp<strong>la</strong>ntagen, Bambushaine säumen <strong>de</strong>n Weg; zwischen Stämmen und Sträuchern leuchten Hibiskus- und Orchi<strong>de</strong>enblüten. Schließlich kommen die weißen und roten Dächer von La Nouvelle in Sicht. Im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt flüchteten Sk<strong>la</strong>ven vor <strong>de</strong>n unmenschlichen Arbeitsbedingungen auf <strong>de</strong>n Zuckerrohrfel<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>n schwer zugänglichen, 70 Quadratkilometer großen Talkessel. Ihre Nachkommen leben heute vor allem von <strong>de</strong>n Touristen, die auf Wan<strong>de</strong>rungen in das Tal kommen. Nach La Nouvelle führt keine Straße. Alles, was benötigt wird – von Lebensmitteln bis zu Häuserteilen –, bringen Hubschrauber. Wer Freun<strong>de</strong> besuchen o<strong>de</strong>r als Tourist in das Tal möchte, geht wie wir, zu Fuß. Es heißt, dass einige Dorfbewohner noch nie das Meer gesehen haben, dabei sind es nur 20 Kilometer bis zur Küste. Abends, im Gastraum unserer Unterkunft, sitzen wir mit an<strong>de</strong>ren Wan<strong>de</strong>rern beisammen und trinken einheimischen Rum. Madame Oreo, die Herbergsmutter, hat Cari Poulet gekocht: Reis mit Huhn, Linsen und scharfer Sauce. Wir wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r gemütlichen Holzhütte übernachten – eine Familie aus Bor<strong>de</strong>aux und ein frisch verliebtes indisches Pärchen, das auf La Réunion geboren ist und <strong>de</strong>n Ganges nur vom Hörensagen kennt. Am nächsten Morgen stippen wir versch<strong>la</strong>fen unsere Croissants in <strong>de</strong>n Milchkaffee und brechen noch vor acht Uhr auf. Es gibt kein Erbarmen, <strong>de</strong>r Aufstieg ist steil, die Hitze holt uns ein, ich schwitze und es flimmert vor <strong>de</strong>n Augen. Ich spüre <strong>de</strong>n Puls an meiner Sch<strong>la</strong>ga<strong>de</strong>r und <strong>la</strong>ufe wie in Trance. Der Weg scheint unter meinen Füßen zu wachsen – man sagt ja, dass beim Wan<strong>de</strong>rn die Welt größer wird, aber das hatte ich mir eigentlich an<strong>de</strong>rs vorgestellt. Bernard re<strong>de</strong>t ununterbrochen, um mich bei Laune zu halten. Irgendwann erreichen wir dann <strong>de</strong>n Gipfel. Ich bin erleichtert. Und ich bin stolz, es geschafft zu haben. Reservierungen und Infor mationen rund ums Wan<strong>de</strong>rn und an<strong>de</strong>re Outdoor-Aktivitäten sowie Vermittlung von Bergführern: Reservierungszentrale <strong>de</strong>r Insel La Réunion 5, rue Rontaunay, 97400 Saint-Denis, Tel. +262 (0)2 62 90 78 78/90, www.reunion-nature.com Gîte <strong>de</strong> Madame Oreo Holzhütte in La Nouvelle, Vier- Bett- und Acht-Bett-Zimmer, sauber und gepflegt, herzhafte Küche, Übernachtung mit Aben<strong>de</strong>ssen und Frühstück ab 60 Euro. La Nou velle, Tel.: +262 (0)262 43 58 57. Weitere Berghütten über: Reservierungszentrale <strong>de</strong>r Insel La Réunion Wan<strong>de</strong>rn | 21