Download - juridikum, zeitschrift für kritik | recht | gesellschaft
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thema<br />
dessen hervorragendes Merkmal die entstehende Struktur<br />
als ein virtuell delokalisiertes System der Kommunikation<br />
kennzeichnet und das aus zwei antagonistischen Varianten<br />
besteht, zwischen einer eher kapitalistischen Version und einer,<br />
die die sozialen Bewegungen hervorhebt, nennt er noch<br />
ein Zentrum-Peripherie-Modell, das gerade in Bezug auf den<br />
Erweiterungsprozess dominiert. Letzteres basiert auf der<br />
Vorstellung, dass das Zentrum, sowohl historisch als auch geografisch,<br />
den Kern Europas bildet. Je später die Staaten der<br />
EU beigetreten sind und je weiter sie an den Grenzen der EU<br />
liegen, desto eher werden sie als Quelle von Problemen angesehen:<br />
Sie gelten als ökonomisch weniger entwickelt und<br />
kulturell angeblich weiter entfernt vom wünschenswerten europäischen<br />
Wertesystem.<br />
Das von Balibar favorisierte Cross-over-Modell kann als<br />
Kritik der Metapher Festung Europa gelesen werden, aber<br />
sollte auch jene aufmerksam machen, die ihre Forschung zu<br />
sehr auf die Außengrenzen der EU richten. Es versucht nämlich,<br />
die entstehenden Räume lateral zu denken, quasi als eine<br />
Überlagerung verschiedener geografischer, politischer, sozialer,<br />
kultureller, religiöser und sprachlicher Bezugssysteme,<br />
als eine „Serie zusammengesetzter Peripherien“ wie Balibar<br />
Bezug nehmend auf Edward Said schreibt. Das Modell korrespondiert<br />
mit der Repräsentation von Europa als „borderland“<br />
(„Grenzland“). Demzufolge befindet man sich überall<br />
in Europa, selbst in Maastricht, an der Grenze. Die Grenze ist<br />
nicht auf eine Grenzlinie reduziert, sie kann auch nicht mit<br />
dem Übereinkommen von Schengen gleichgesetzt werden;<br />
sie ist sowohl mehr nach innen als auch nach außen gewandt.<br />
Durch diese Typologie lässt sich deutlich machen, dass die<br />
Räumlichkeiten in Europa bereits bei den vorhandenen Repräsentationen<br />
deutlich andere Konturen annehmen und wie<br />
wichtig die Verhältnisse im Inneren sind, die solche Grenzräume<br />
evozieren. Sie wendet sich allerdings weniger den <strong>gesellschaft</strong>lichen<br />
Praktiken zu, die den Raum durchziehen und die<br />
derartigen ideologischen Projekten und Praktiken als Teil von<br />
Ver<strong>gesellschaft</strong>ungsprozessen entgegenstehen.<br />
3. Die Transformation von Grenzen<br />
In den letzten Jahren hat sich innerhalb der kritischen Sozialwissenschaften<br />
eine Forschung zu Grenzen, zur Transformation<br />
von Staatlichkeit, des Politischen, des (Bürger)Rechts,<br />
des Rassismus und Postkolonialismus und zum Handeln in lokalen/globalen<br />
Dimensionen entwickelt, die durchaus bemüht<br />
ist, an verschiedenen Enden den Faden aufzunehmen, die soziale<br />
Produktion von Raum in die Forschung mit einzubeziehen<br />
und der Sperrigkeit des Begriffs „Festung Europa“ Alternativen<br />
entgegenzustellen. Es handelt sich um Forschungsnetzwerke,<br />
wissenschaftliche Zeitschriften, politische Mobilisierungen,<br />
die allesamt unterschiedliches Wissen über Grenzen<br />
generieren.<br />
Tatsächlich hat der Fokus auf die Grenze in manchen<br />
Ansätzen einen interessanten methodologischen Zugang ermöglicht,<br />
der weit über die Vorstellung der Grenze einer Linie<br />
hinausgeht, die nationalstaatliche Territorien (und damit<br />
auch den Wirkungsbereich von Rechtssprechung und Ge<strong>recht</strong>igkeit,<br />
von Bürger<strong>recht</strong>en etc) voneinander trennt (vgl<br />
Mezzadra/Neilson 2008). Einzelne Beiträge untersuchen die<br />
unterschiedlichsten Aspekte, die mit den aktuellen Transformationen<br />
von Grenzen einhergehen (etwa ihre Verschiebung<br />
qua Nachbarschaftspolitiken nach Süden und Osten und über<br />
das Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen nach Südosten<br />
weit über das Territorium der EU hinaus) (ua Dietrich<br />
2005, Forschungsgruppe Transit Migration 2007), werfen<br />
einen Blick auf die nationalen und internationalen Organisationen<br />
(etwa IOM, UNHCR, ICMPD uvm), die Arbeitspapiere<br />
und politische Strategien ausarbeiten, wie Grenzen in Europa<br />
und der Umgang mit Migrantinnen und Migranten zu gestalten<br />
wären (Hess 2009; Georgi (in diesem Heft)) und setzen sich<br />
mit den Auswirkungen von sich ausdifferenzierenden Rechtsräumen<br />
etwa durch exterritoriale Lager (Pieper 2008) oder<br />
mit Prozessen der zeitlich gestaffelten Aufnahme der neuen<br />
EU-Länder und der Ausdifferenzierung von Rechtsräumen<br />
auseinander (Rigo 2005). Diese Forschungen sind erheblich,<br />
da sie die vielfältigen Verhältnisse herausarbeiten, die das Bild<br />
einer Festung überhaupt erst sinnvoll erscheinen lassen.<br />
4. Konfliktlinien innerhalb der Migrationspolitik<br />
Wie steht es nun also um die neueste Tendenz innerhalb der<br />
EU, eine einheitliche Migrationspolitik zu kreieren? Welche<br />
Konfliktlinien zeichnen sich ab? Vorrangiges Ziel ist der Versuch,<br />
die zukünftige Einwanderung gezielt an den so genannten<br />
Bedürfnissen der Arbeitsmärkte auszurichten. 2 Zu diesem<br />
Zweck ist das Konzept der „Blue Card“ erschaffen worden,<br />
die als europäische Arbeitserlaubnis funktionieren und auf<br />
etwa zehn Jahre Geltung haben soll. Bis 2012 sollen außerdem<br />
Vorgaben für ein einheitliches Asylverfahren verabschiedet<br />
werden. Zudem ist eine Fortführung der Abschottungspolitik<br />
geplant, insofern undokumentierte Migration und Massenlegalisierung<br />
weitgehend vermieden, vor allem aber durch Repression,<br />
Kontrolle und Überwachung abgeschreckt werden<br />
soll (zB durch Maßnahmen wie die seit einigen Jahren konzertierten<br />
Abschiebeflüge mehrerer EU-Länder, die Ausweitung<br />
der Datenarchive mit biometrischen Daten, Razzien an Arbeitsplätzen<br />
sowie an Verkehrsknotenpunkten auf Überlandstraßen,<br />
die Erhöhung von Geldstrafen für die Einstellung von<br />
Personen ohne Papiere sowie die Vermietung von Wohnraum<br />
an sie, sowie die Denunziationspflicht von Einheimischen).<br />
Dazu kommt sowohl die Stärkung der Grenzschutzagentur<br />
FRONTEX (vgl Tohidipur (in diesem Heft)), deren Budgeterhöhungen<br />
zu den größten innerhalb der EU gehören, 3 als auch<br />
die für diesen aber auch die vorhergehenden Punkte notwendige<br />
und in Zukunft erheblicher werdende Etablierung, Aushandlung<br />
und Auf<strong>recht</strong>erhaltung der Kooperationen mit den<br />
Nachbarländern, aber auch mit Herkunfts- und Transitländern<br />
(etwa durch eine massive Proliferation von Rückübernahmeabkommen<br />
und den Versuch, darauf zu drängen, dass Auswanderung,<br />
die undokumentierte Grenzüberschreitung zum<br />
Ziel hat, bereits in jenen Ländern verhindert wird). Alle diese<br />
Punkte sind Mitte Oktober 2008 in Paris im Rahmen des „Eu-<br />
2) Solche Maßnahmen existieren etwa schon<br />
in Australien, Kanada, den USA und Russland.<br />
Entsprechend lassen sich ihre Schwächen auch<br />
bereits relativ gut einschätzen.<br />
3) 17,5 Mio. Euro im Jahr 2006, 42 Mio. Euro im<br />
Jahr 2007 und für vergangenes Jahr waren bereits<br />
70 Mio. Euro ausgewiesen worden; http://<br />
www.frontex.europa.eu/finance (10.4.2009).<br />
<strong>juridikum</strong> 2009 / 2 Seite 77