juridikumnr 1 - juridikum, zeitschrift für kritik | recht | gesellschaft
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gesetzesfolgenabschätzung<br />
Die Rede von der Sozialverträglichkeit politischer Maßnahmen<br />
erfreut sich seit einiger Zeit großer Beliebtheit, und das<br />
nicht bloß in Österreich, wie beispielsweise der Blick nach<br />
Deutschland zeigt. Von „sozialverträglicher Gestaltung“ ist<br />
dabei vor allem dann die Rede, wenn es darum geht, für Einschnitte<br />
im System der sozialen Sicherheit die Zustimmung<br />
der Öffentlichkeit zu erhalten. So wurden in der Vergangenheit<br />
Reformen im Bereich des Gesundheitssystems und des<br />
Pensionssystems als „sozialverträglich“ präsentiert, wurde in<br />
Deutschland Hartz IV, also die Reform der materiellen Absicherung<br />
langzeiterwerbsloser Personen, als sozialverträglich<br />
beworben, wurde in Österreich und wird aktuell in Deutschland<br />
die sozialverträgliche Einführung von Studiengebühren<br />
diskutiert. Aber auch in der Privatwirtschaft findet der Begriff<br />
der Sozialverträglichkeit vielfältigen Einsatz – so zB im Zusammenhang<br />
mit neuen Arbeitszeitmodellen, vor allem aber<br />
im Kontext von Personalabbau.<br />
„Sozialverträglichkeit ist ein Begriff, der spontane<br />
Zustimmung auslöst. Welche Bürgerin, welcher Bürger<br />
wird sich nicht eine sozialverträgliche Politik wünschen?<br />
Welche/r PolitikerIn möchte sich nachsagen lassen,<br />
dass er/sie für sozial unverträgliche Maßnahmen<br />
steht?“ (Hemedinger/Lehner 2003, 230). Es ist wenig<br />
verwunderlich, wenn Regierungsparteien ihre Politik<br />
selbst als „sozialverträglich“ bezeichnen, und gleichzeitig<br />
ebenso wenig verwunderlich, wenn Oppositionsparteien<br />
oder zivil<strong>gesellschaft</strong>liche Institutionen zu anderen<br />
Schlüssen kommen und statt von „sozialverträglich“<br />
von „gerade-noch-erträglich“ oder auch „nichtmehr-erträglich“<br />
sprechen. Es steht Meinung gegen<br />
Meinung. Was fehlt, ist ein gemeinsamer Bewertungsmaßstab.<br />
Hintergründe & Anforderungen<br />
Der Ruf nach einer Sozialverträglichkeitsprüfung wurde in<br />
den letzten Jahren nicht nur in Österreich von verschiedenen<br />
Seiten erhoben: Seitens der Kirchen bereits 1997 im Abschlussbericht<br />
zu einer Konsultation der Kirchen zu Fragen<br />
der Armut und sozialen Ausgrenzung (vgl Hemedinger/Lehner<br />
2003, 230), aber zB auch im Sozialwort des Ökumenischen<br />
Rates der Kirchen in Österreich (Ökumenischer Rat<br />
2003, 37), von Organisationen der freien Wohlfahrtspflege –<br />
darunter auch die Caritas –, zudem auch im Rahmen des<br />
Volksbegehrens „Sozialstaat Österreich“ des Jahres 2002, und<br />
nicht zuletzt seitens der österreichischen ARMUTSKONFE-<br />
RENZ, die diese Forderung vor allem im Kontext ihrer Anforderungen<br />
an die nationalen Aktionspläne gegen Armut und<br />
soziale Ausgrenzung vertreten hat (vgl zB DIE ARMUTS-<br />
KONFERENZ 2003, 29). Letzteres gilt auch für das European<br />
Anti Poverty Network (EAPN).<br />
Die Forderungen zielen in erster Linie darauf ab, ein der<br />
Umweltverträglichkeitsprüfung ähnliches Verfahren zu etablieren,<br />
in dessen Rahmen politische Maßnahmen – zu allererst<br />
antizipativ und damit im Gesetzwerdungsprozess – auf ihre<br />
sozialen Auswirkungen überprüft werden sollen. Das Augenmerk<br />
der ARMUTSKONFERENZ wie auch des EAPN lag<br />
und liegt dabei vor allem auf „poverty proofing“, also der<br />
Prüfung der Auswirkungen von Regierungsmaßnahmen auf<br />
von Armut Betroffene bzw Gefährdete.<br />
Armut als Folge von Politik<br />
Zur Forderung nach einer<br />
Sozialverträglichkeitsprüfung<br />
Chancen, Grenzen und offene Fragen<br />
Einige Anmerkungen<br />
Martina Kargl<br />
........................<br />
Man kann wohl die These aufstellen, dass die Grundintention<br />
aller oben angeführten Institutionen und Initiativen dieselbe<br />
ist, wenn sie eine Sozialverträglichkeitsprüfung fordern: Jene,<br />
die Frage nach dem Zutun und der Verantwortung der Politik<br />
für das Entstehen und die Fortdauer prekärer Lebenslagen zu<br />
stellen. In der Armutsforschung hat sich neben dem Konzept<br />
der „primären“ Armut, worunter durch sozio-ökonomische<br />
Faktoren verursachte Notlagen verstanden werden, auch jenes<br />
der „sekundären Armut“ etabliert: Armut wird dabei als<br />
(wohlfahrts)staatlich erzeugt verstanden. Der Begriff der sekundären<br />
Armut bringt zum Ausdruck, dass Politik durch ihr<br />
Handeln, aber ebenso durch ihr Nicht-Tätig-Werden (non-decision)<br />
Verantwortung für prekäre soziale Verhältnisse trägt.<br />
Denn Kosten und Nutzen von in Gesetzesform gegossenen<br />
politischen Maßnahmen verteilen sich nicht notwendigerweise<br />
gleichmäßig über die verschiedenen sozialen Gruppen, zudem<br />
ist immer auch mit negativen unintendierten Folgen von<br />
Politik zu rechnen. Aus dieser Perspektive erscheint es daher<br />
nur <strong>recht</strong> und billig, wenn im Zuge von Gesetzwerdungsprozessen<br />
nicht nur, wie schon bisher, die erwarteten monetären<br />
Kosten benannt werden, sondern auch die Konsequenzen für<br />
den <strong>gesellschaft</strong>lichen Zusammenhalt.<br />
Der Stellenwert des Sozialen<br />
Die Forderung nach einer Sozialverträglichkeitsprüfung ist<br />
gleichzeitig immer auch eine nach einem größeren Stellenwert<br />
sozialer Belange im weiteren und armutspräventiver bzw<br />
armutsbekämpfender Maßnahmen im engeren Sinn innerhalb<br />
der Politik – und das ganz explizit nicht nur in Sozial<strong>recht</strong>smaterien.<br />
Denn wie auch Hemedinger und Lehner festhalten:<br />
„Soziale Grund<strong>recht</strong>e werden auch in anderen Kontexten berührt,<br />
soziale Ausgrenzung kann ebenso gut auch durch gesetzgeberische<br />
Maßnahmen in wirtschaftlichen oder steuer<strong>recht</strong>lichen<br />
Belangen gefördert werden. Letztlich wird es nur<br />
wenige Bereiche der Gesetzgebung geben, die in keinerlei Zusammenhang<br />
mit dem Thema Sozialverträglichkeit stehen“<br />
(Hemedinger/Lehner 2003, 237).<br />
Die Überprüfung von Gesetzesvorhaben auf ihre Sozialverträglichkeit<br />
zu verlangen, ist zudem als kritische Anfrage<br />
zu verstehen, welche Kriterien für Politikgestaltung maßgeblich<br />
sind. Hartz IV in Deutschland beispielsweise wurde als<br />
adäquates und notwendiges Mittel ge<strong>recht</strong>fertigt, die (Langzeit-)Erwerbslosigkeit<br />
drastisch zu reduzieren – unübersehbar<br />
inspiriert vom Armutsfallen-Theorem, das besagt, dass speziell<br />
niedrigqualifizierte Personen dazu tendieren würden,<br />
„freiwillig“ erwerbslos zu bleiben. Denn ihre Verdienstmög-<br />
<strong>juridikum</strong> 2005 / 1 Seite 39