juridikumnr 1 - juridikum, zeitschrift für kritik | recht | gesellschaft
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thema<br />
lichkeiten am Arbeitsmarkt würden nur geringfügig über den<br />
Sozialtransfers liegen, die sie erhalten. Zu geringfügig, um<br />
das mit Erwerbsarbeit verbundene „Arbeitsleid“ zu kompensieren.<br />
Was mit enormen Kosten für die Gesellschaft verbunden<br />
wäre – und mittel- bis langfristig auch für die Erwerbslosen<br />
selbst, weil mit zunehmender Dauer der Erwerbslosigkeit<br />
die Chancen auf eine Rückkehr auf den Arbeitsmarkt sinken<br />
würden, bis aus der freiwilligen eine erzwungene Erwerbslosigkeit<br />
wird. Einer empirischen Überprüfung hält das Armutsfallen-Theorem<br />
nicht stand (vgl zB Voges 2001, Gebauer et<br />
al. 2002), dennoch war es von zentraler Bedeutung für die Einführung<br />
und Konzeption von Hartz IV. Warnungen beispielsweise<br />
der verschiedensten Wohlfahrtsorganisationen und -<br />
verbände, dass Hartz IV Verarmungstendenzen – nicht nur der<br />
Erwerbslosen selbst, sondern auch ihrer Angehörigen – Vorschub<br />
leisten und „Arbeit um jeden Preis“ erzwingen würde,<br />
blieben ohne Widerhall.<br />
Konkrete Modelle fehlen<br />
Hartz IV wäre wohl ein klassischer Fall für eine Sozialverträglichkeitsprüfung<br />
gewesen. Allein: Konkrete Modelle, wie<br />
eine derartige Sozialverträglichkeitsprüfung im Detail aussehen<br />
könnte, fehlen bis dato (zumindest meines Wissens nach).<br />
Die Anforderungen seitens zivil<strong>gesellschaft</strong>licher AkteurInnen<br />
sind klar: Das Wissen der PolitikerInnen über positive,<br />
aber auch mögliche negative soziale Folgen soll erhöht werden<br />
und maßgeblichen Einfluss auf die Politikgestaltung haben.<br />
Es geht aber letztlich auch um politische Verantwortlichkeit:<br />
Negative Konsequenzen sollen nicht als „unvorhersehbare<br />
und damit unbeabsichtigte Kollateralschäden“<br />
ge<strong>recht</strong>fertigt werden können.<br />
Was bleibt, sind viele Fragen:<br />
• Was ist das Soziale, das in den Blick genommen wird? Geht<br />
es um monetäre Verteilungsfragen bzw das Recht auf Existenzsicherung<br />
– oder auch um die Verteilung von Teilhabeund<br />
Freiheitschancen im weiteren Sinn? Meint Sozialverträglichkeitsprüfung<br />
zB auch Geschlechterverträglichkeitsprüfung?<br />
Auch die Forderung nach einer Familienverträglichkeitsprüfung<br />
wurde in letzter Zeit erhoben ...<br />
• Auf welcher Ebene soll eine Sozialverträglichkeitsprüfung<br />
angesiedelt werden? Denn für das Leben der ÖsterreicherInnen<br />
relevante normensetzende Instanzen gibt es nicht<br />
bloß auf Bundes- und Landesebene, sondern auch auf EU-<br />
Ebene und darüber hinaus, wie zB das in Verhandlung befindliche<br />
General Agreement on Trade in Services (GATS)<br />
auf Ebene der Welthandelsorganisation WTO zeigt.<br />
• Wer prüft? ExpertInnen sollen es wohl sein, und wohl auch<br />
unabhängige. Aber was bedeutet das konkret? Von wem<br />
werden diese ExpertInnen bestellt, nach welchen Kriterien<br />
ausgewählt?<br />
• Mit welcher Bindungswirkung wäre diese Prüfung ausgestattet?<br />
Die Forderung nach einer Sozialverträglichkeitsprüfung<br />
wird seitens österreichischer PolitikerInnen wiederholt<br />
mit dem Argument abgetan, es gäbe eine solche bereits<br />
– im Rahmen des Begutachtungsverfahrens von<br />
Gesetzesentwürfen. Das Manko: Die Inhalte dieser Stellungnahmen<br />
sind für die Politik nicht verbindlich. Wenn die<br />
prognostizierten negativen Effekte die positiven überwiegen<br />
– müsste das Gesetzesvorhaben dann grundlegend<br />
überarbeitet oder gar fallen gelassen werden? Eine Sozialverträglichkeitsprüfung<br />
ohne Verbindlichkeit: Bloß symbolische<br />
Politik?<br />
• Geht es „lediglich“ um das Antizipieren von Politikfolgen<br />
– oder umfasst eine Sozialverträglichkeitsprüfung auch<br />
evaluierende Maßnahmen?<br />
Kriterien von Sozialverträglichkeit sind<br />
nicht objektiv vorgegeben<br />
Und die vielleicht grundlegendste Frage zum Schluss: Woran<br />
bemisst sich, was als „sozialverträglich“ anzusehen ist und<br />
was nicht? Laut Lieb will und soll eine Sozialverträglichkeitsprüfung<br />
„gerade eindimensionale oder isolierte Betrachtungsweisen<br />
vermeiden, indem sie komplexe Techniksysteme an<br />
Hand eines Bündels relevanter Vergleichsmaßstäbe auf ihre<br />
jeweiligen Vor- und Nachteile oder ihre <strong>gesellschaft</strong>lichen Risiken<br />
untersucht. Bei einer wirklichen Prüfung der sozialen<br />
‚Verträglichkeit’ werden die einzelnen Beurteilungskriterien<br />
nicht nur miteinander verglichen, sondern es wird weiter untersucht,<br />
wie sie positiv oder negativ aufeinander einwirken<br />
und welchen Beitrag sie zur Erreichung von allgemein anerkannten<br />
Oberzielen zu leisten vermögen“ (Lieb 2005, 3).<br />
Doch was sind diese „allgemein anerkannten Oberziele“?<br />
Hier drängt sich der Vergleich zu Armutskonzepten auf:<br />
Die vorfindbare Vielfalt an wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen<br />
Definitionen, was unter Armut zu verstehen<br />
sei, legt den Schluss nahe, dass Armutskonzepte weniger Aufschluss<br />
darüber geben, was Menschen zum Leben brauchen,<br />
als vielmehr, was ihnen die Gesellschaft als Minimum zuzugestehen<br />
bereit ist. Wenn also nicht objektiv zu klären ist, was<br />
unter Armut verstanden werden muss – was sind dann die allgemein<br />
anerkannten Oberziele der Armutsbekämpfung? Das<br />
heißt übertragen: Was sind die Kriterien von Sozialverträglichkeit,<br />
die der Prüfung zugrunde liegen – und wer legt sie<br />
fest? Wie werden sie ermittelt? Denn „naturgegeben“ sind sie<br />
nicht, wie ein weiteres aktuelles Beispiel kontroversieller Politik<br />
deutlich machen soll: Die „Richtlinie über Dienstleistungen<br />
im Binnenmarkt“ auf EU-Ebene, salopp auch als Bolkestein-Richtlinie<br />
bezeichnet und kürzlich nach massiven Einwänden<br />
der Regierungen einiger Mitgliedsstaaten zur<br />
Überarbeitung zurückgezogen. Die BefürworterInnen des<br />
Entwurfs sprechen, ua mit Berufung auf eine von der Kommission<br />
in Auftrag gegebene modelltheoretischen Studie des<br />
Instituts „Copenhagen Economics“, vom großen Potential der<br />
Liberalisierung des Dienstleistungsbereichs für Wirtschaftswachstum<br />
und Beschäftigung – und damit positiven Folgen<br />
für die Gesellschaft. Auch die KritikerInnen argumentieren<br />
mit Studien (vgl zB Dickhaus/Dietz 2004), allerdings nicht<br />
mit modelltheoretischen, sondern mit empirischen über die<br />
Konsequenzen bereits erfolgter Liberalisierungen speziell im<br />
Bereich öffentlicher Dienstleistungen (denn in der Abgrenzung<br />
von kommerziellen und öffentlichen, zur Daseinsvorsorge<br />
gerechneten Dienstleistungen ist der ursprüngliche Entwurf<br />
alles andere als trennscharf) – und weisen damit auf erwartbare<br />
negative Konsequenzen in Hinblick auf<br />
Verfügbarkeit, Qualität und Preis hin.<br />
Notwendig und machbar –<br />
aber lediglich ein Mosaikstein<br />
Eine Sozialverträglichkeit von Gesetzen ist notwendig, und<br />
sie ist möglich – aber die angesprochenen Fragen machen<br />
Seite 40 <strong>juridikum</strong> 2005 / 1