Touchscreen und Pelikansoufflee - VSETH - ETH Zürich
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SeX<br />
18<br />
Sex mit behinderten:<br />
therapie<br />
oder Profitgier?<br />
Die Sexualität von Behinderten ist ein Tabu. Aber nicht<br />
für alle: «Berührerinnen» geben behinderten Menschen<br />
die Möglichkeit, ihre Sexualität auszuleben. berühren, liebkosen, lecken: Für den Beruf «Sexualassistenz für Behinde<br />
Von Oriana Schällibaum<br />
Der Begriff «Sexualassistenz für Behinderte»<br />
löst bei den meisten Menschen Kopfschütteln,<br />
Erstaunen oder gar angeekeltes<br />
Verziehen des Gesichts aus. Die etwas klinische<br />
Färbung des Begriffs hat ihre Herkunft<br />
darin, dass die ursprüngliche Formulierung<br />
«BerührerInnen» einen Sturm der Empörung<br />
in der Schweizer Öffentlichkeit hervorrief:<br />
2003 lancierte «Pro Infirmis <strong>Zürich</strong>»<br />
ein Projekt, das die Ausbildung zu professionellen<br />
Sexualbegleitern vorsah. Ihre Dienstleistung<br />
sollte darin bestehen, «körperlich oder<br />
geistig behinderten Menschen durch Zärtlichkeit,<br />
Körperkontakt <strong>und</strong> Anleitung zur Selbstbefriedigung<br />
zu helfen, ihren Körper zu geniessen».<br />
Davon ausgeschlossen waren Oral-<br />
<strong>und</strong> Geschlechtsverkehr. Offenbar war das<br />
Wort «BerührerInnen» Anlass zu (unbegründeten)<br />
Fantasien, die dem Bürger unzumutbar<br />
erschienen, während Prostitution gesellschaftliche<br />
Anerkennung geniesst. Wegen massiven<br />
Spendeneinbruchs legte «Pro Infirmis»<br />
das Projekt auf Eis. Dass die Ausbildung dann<br />
später dennoch zustande kam, ist der Verdienst<br />
von Nina de Vries, einer Künstlerin <strong>und</strong><br />
anerkannten Sexualbegleiterin. 2004 wurden<br />
in <strong>Zürich</strong> zehn Sexualbegleiter nach einer<br />
mehrwöchigen Ausbildung zertifiziert. Beworben<br />
hatten sich ursprünglich über 300.<br />
das recht auf Sexualität<br />
Früher wurde Sexualität bei Behinderten<br />
totgeschwiegen, frei nach dem Motto «Schla-<br />
fende H<strong>und</strong>e soll man nicht wecken». Zwangssterilisation<br />
war auch nach dem Eugenikwahn<br />
des Nationalsozialismus in der Schweiz bis<br />
1987 eine durchaus gängige Praxis. Heute gilt<br />
zwar die Satzung «Auch Menschen mit körperlichen,<br />
geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen<br />
haben ein Recht auf Sexualität», konkret<br />
wird jedoch kaum etwas unternommen,<br />
um ihr Bedürfnis nach Sexualität zu stillen.<br />
Diesbezüglich geäusserte Wünsche werden<br />
ignoriert, Angehörige sind überfordert. Unterdrückte<br />
Sexualität äussert sich häufig in<br />
autoagressivem Verhalten <strong>und</strong> Unzufriedenheit.<br />
Oftmals besteht auch Verletzungsgefahr,<br />
wenn Behinderte versuchen zu masturbieren,<br />
aber nicht wissen, wie es geht oder von ungeeigneten,<br />
spitzen Gegenständen Gebrauch<br />
machen.<br />
Helfersyndrom unerwünscht<br />
«Berührer sind für manche Behinderte<br />
die einzige Möglichkeit, ihre Sexualität auszuleben»<br />
, sagt Andrea Binder. Sie arbeit als Berührerin<br />
bei «SinnEroSe.ch» <strong>und</strong> spricht offen<br />
über ihre Tätigkeit: «Ich habe diese Arbeit gewählt,<br />
weil es keinen Gr<strong>und</strong> gibt, Menschen,<br />
die Beeinträchtigungen haben, von meinen<br />
Berührungen auszuschließen.» Binder ist ausgebildete<br />
Diplom-Agraringenieurin <strong>und</strong> gelangte<br />
über die Sozialpädagogik schliesslich<br />
zur Fachstelle für Behinderung <strong>und</strong> Sexualität<br />
in Basel. Binder ist keine Frau, die sich als Helferfigur<br />
stilisiert oder vor Mitleid überfliesst.<br />
Getreu nach einer Aussage von Nina de Vries,<br />
«dass man selbst verw<strong>und</strong>et sein müsse, um<br />
Verw<strong>und</strong>eten zu helfen», sagt Binder schonungslos:<br />
«Ich habe es erlebt, wie es sich anfühlt,<br />
wenn man berührt wird von jemandem,<br />
der helfen will. Es ist grauenvoll.» Wenn aber<br />
die eigene Verw<strong>und</strong>ung überw<strong>und</strong>en sei,<br />
könne man aus einem tiefen Wissen heraus<br />
berühren. Jahrelange Besuche von Selbsterfahrungsseminaren<br />
im tantrischen Raum ermöglichen<br />
es Andrea Binder, mit Menschen,<br />
die geistig behindert sind oder nicht reden<br />
können, «eine tiefe, schöne <strong>und</strong> wahrhaftige<br />
Erfahrung zu machen.»<br />
Sex nach Programm<br />
Andrea Binder berichtet aber auch von<br />
negativen Erfahrungen: «Viele ältere Menschen<br />
wollten mich nur lecken <strong>und</strong> selbst die<br />
ganze Zeit über nur an einer Stelle stimuliert<br />
werden, um den Orgasmus zu erreichen. Sie<br />
waren wie programmiert, dass Sex genau so<br />
funktioniert <strong>und</strong> dass es die Aufgabe der Frau<br />
ist, das zu ermöglichen. Und das Ganze sollte<br />
dann wohl nicht teurer sein als 50 Euro.»<br />
Ihre Besuche abbrechen musste sie bei einem<br />
Mann, der dement war: «Er konnte nicht unterscheiden:<br />
Er zerrte jede Frau, die in sein<br />
Zimmer kam, in sein Bett.» Doch Binder ist<br />
vom Nutzen ihrer Tätigkeit überzeugt: «Es<br />
berührt mich, wenn Patienten wegen der Behandlung<br />
Medikamente absetzen können,<br />
ihre Esssucht oder ihr Alkoholkonsum gemindert<br />
wird. Und es ist auch schön, wenn meine<br />
Klienten glücklicher wirken <strong>und</strong> ihre Ag-<br />
Polykum Nr. 3/09–10 Illustration: Stephan Schmitz