ÖMZ 3/2009
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felberbauer: solferino und seine folgen - sadowa und sedan<br />
Geschoß aufweitete und in Zug und Feld einpresste (Bild 1).<br />
Es wurde bald entdeckt, dass der Einpressvorgang auch ohne<br />
Eisennäpfchen funktionierte. Das Langgeschoß behielt seine<br />
ballistisch günstige Form bei und verließ den Lauf immer in<br />
gleicher Richtung. Der Drall der Züge teilte sich dem Geschoß<br />
mit, das dadurch im Flug stabilisiert wurde. Durch die<br />
Aufweitung dichtete das Geschoß den Innenraum des Laufes<br />
weitgehend gegen den Laderaum ab. Der Druck der Pulvergase<br />
wurde voll wirksam, und die Mündungsgeschwindigkeit und<br />
damit die Schussweite stiegen an. Durch den Drall ergab sich<br />
bei Verwendung eines Langgeschoßes im Vergleich zur Kugel<br />
eine präzisere Flugbahn, eine viel geringere Streuung und eine<br />
höhere Treffwahrscheinlichkeit.<br />
Mit dem Minié-Gewehr erzielte man mit einiger Übung<br />
auf Ziele von der Größe eines Mannes bis 225 m (300 Schritt)<br />
recht gute Treffer. Gegen Reiter oder Pferde mit ihrer größeren<br />
Zielfläche erhöhte sich diese Treffwahrscheinlichkeit auf 300 m<br />
bis 350 m. Große Massenziele wie Infanteriekolonnen konnten<br />
bis etwa 750 m unter Feuer genommen werden. 4)<br />
Das Minié-Gewehr besaß damit etwa die zwei- bis dreifache<br />
effektive Schussweite einer glatten Muskete. Bereits dieser erste<br />
gezogene Vorderlader in Truppenverwendung machte eine bisher<br />
übliche napoleonische Taktik unmöglich, die darin bestanden<br />
hatte, dass Glattrohrgeschütze praktisch ungehindert auf 250 m<br />
bis 300 m an die Infanterie heranfahren und sie mit Kartätschen<br />
unter Feuer nehmen konnten. Auch die napoleonische Taktik,<br />
Infanteriekolonnen mit zweifacher Kompaniebreite und großer<br />
Tiefe im Schnellschritt zum Durchbruch vorrücken zu lassen,<br />
konnte angesichts der großen Reichweite des Gewehres gegen<br />
solche Flächenziele nicht mehr aufrechterhalten werden.<br />
Ein großer Vorteil des Minié-Systems bestand darin, dass<br />
sich nahezu jedes alte glatte Gewehr billig umrüsten ließ, indem<br />
man einfach Züge in den glatten Lauf einschnitt. Allerdings<br />
musste dabei das Kaliber - bei Gewehren der Napoleonzeit waren<br />
etwa 18 mm gebräuchlich - beibehalten werden, wodurch die<br />
Geschoßmasse beim Übergang von der Kugel zum Langgeschoß<br />
um etwa 10% zunahm. Die übliche Taschenmunition von 60<br />
Patronen sank bei gleicher Masse auf etwa 48 Minié-Patronen<br />
ab. Ihre Geschoßmasse betrug 46 g mit einer Pulverladung von<br />
etwa 4,5 g.<br />
Frankreich entschied sich für diese Minié-Lösung. Bis zum<br />
Jahre 1859 konnten aber nur das französische Gardekorps und<br />
Jägerbataillone mit dem Minié-Gewehr ausgerüstet werden. 5)<br />
Die übrigen Verbände - ebenso wie die Armee Piemont-<br />
Sardiniens - verwendeten weiterhin eine glatte Muskete mit<br />
Perkussionszündung.<br />
Die französische Artillerie bei Solferino<br />
Napoleon I. verfügte über die 1774 von Oberst Griebauval<br />
eingeführten Kanonen, deren Sechspfünder mit Kartätschen etwa<br />
250 m bis 300 m und mit Vollkugeln bis etwa 800 m effektiv<br />
waren. Mit den neu eingeführten gezogenen Infanteriegewehren<br />
des Feldzuges von 1859 konnte man die Bedienungen dieser<br />
Geschütze und besonders deren Pferde wirksam unter Feuer<br />
nehmen und abschießen, bevor sie für einen Kartätschangriff<br />
einsatzbereit waren.<br />
Wollte man die Existenzberechtigung dieser Waffengattung<br />
nicht aufs Spiel setzen, war eine Wirkungssteigerung der Geschütze<br />
unbedingt nötig. Die einfachste Lösung bestand darin,<br />
nach dem Vorbild der Infanteriegewehre in die vorhandenen<br />
Glattrohrgeschütze Züge einzuschneiden. Die Langgeschoße<br />
konnten mit Führungselementen (Warzen) versehen werden, die<br />
man an der Mündung in die Züge einsetzte und mit einem entsprechenden<br />
Ladewerkzeug dem Drall folgend ins Rohr drehte,<br />
bis sie auf der vorher geladenen Treibladung aufsaßen.<br />
Frankreich entschied sich für diese Methode. Man hatte auf<br />
Weisung Kaiser Napoleons III. nach erfolgreichen Vorversuchen<br />
in den Jahren 1848 bis 1850 in die alten bronzenen Gribauval-<br />
Vierpfünder-Vorderlader von 86,7 mm-Kaliber sechs Züge<br />
eingeschnitten und eine neue Munition entwickelt. Das System<br />
wurde unter dem Namen „La Hitte“ 6) eingeführt.<br />
Der Vierpfünder, nunmehr als leichte „canon de 4, rayé, de<br />
campagne“ (Feldkanone) bezeichnet, wurde mit vier Pferden<br />
bespannt und war äußerst beweglich. Die neuen Hohlgeschoße<br />
mit Warzenführung wogen vier kg. Es gab eine Sprenggranate<br />
(obus ordinaire), ein Schrapnell (obus à balles) und eine Kartätsche<br />
(botte a mitraille) (Abbildung 2).<br />
Dies bedeutete eine totale Abkehr vom System der jahrhundertelang<br />
verwendeten Vollkugeln und Kartätschen. Für die<br />
Sprenggranate benötigte man einen Aufschlagzünder und für die<br />
Schrapnelle einen Zeitzünder. Die in Frankreich eingeführten<br />
Geschoßzünder waren allerdings ziemlich mangelhaft. Die Geschoßwirkung<br />
ließ hauptsächlich aus diesem Grund zu wünschen<br />
übrig. Bei den Sprenggranaten war die Treffgenauigkeit auf<br />
größere Entfernungen wegen des zum Laden von vorne nötigen<br />
Spiels zwischen Rohrwand und Geschoß unbefriedigend. Die<br />
Granaten streuten mit zunehmender Schussweite ziemlich stark<br />
und zerlegten sich beim Aufschlag in etwa 50 bis 60 Splitter. 7)<br />
Die bevorzugte Munition der französischen Artillerie war<br />
das Schrapnell, ursprünglich eine englische Erfindung. Ein<br />
granatähnliches, dünnwandigeres Hohlgeschoß wurde mit Kugeln<br />
gefüllt und enthielt eine Zerlegerladung, die durch einen<br />
Zeitzünder ausgelöst wurde. Schrapnelle waren nur wirksam,<br />
wenn der Zeitzünder an einem Punkt der Flugbahn ansprach,<br />
der vor und über dem zu bekämpfenden Ziel lag. In diesem<br />
Fall schlugen die 50 bis 60 Kugeln der Füllung im Zielgebiet<br />
ein. Löste der Zünder zu früh oder zu spät aus, so landeten sie<br />
wirkungslos im Gelände. Die Reichweite des neuen gezogenen<br />
französischen Vierpfünders hatte sich aber gegenüber dem<br />
glattrohrigen Vorgängermodell verdoppelt, ein Vorteil, den die<br />
veraltete österreichische Artillerie im Jahre 1859 nie egalisieren<br />
konnte.<br />
Im italienischen Feldzug 1859 traten 32 Batterien (zu je sechs<br />
22<br />
<strong>ÖMZ</strong>-Online 3/<strong>2009</strong>