Stellungnahme von Prof. Dr. Arthur Kreuzer zum ... - DVJJ-Hessen
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Im Folgenden veröffentlichen wir die <strong>Stellungnahme</strong> <strong>von</strong> <strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Arthur</strong> <strong>Kreuzer</strong> <strong>zum</strong><br />
Entwurf eines Hessischen Jugendstrafvollzuggesetzes mit freundlicher Genehmigung<br />
des Autors<br />
<strong>Stellungnahme</strong> <strong>von</strong> <strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Arthur</strong> <strong>Kreuzer</strong> <strong>zum</strong> Entwurf eines Hessischen<br />
Jugendstrafvollzugsgesetzes<br />
Hiermit nehme ich zu dem Gesetzentwurf wunschgemäß Stellung. Wegen der Kürze der Zeit<br />
beschränke ich mich auf Anmerkungen zu einzelnen diskussionswürdigen Details und auf<br />
einige allgemeine Bemerkungen. Gern werde ich bei einer mündlichen Anhörung zur<br />
Verfügung stehen.<br />
I. Allgemeine Bemerkungen<br />
Der Entwurf ist nach meiner Einschätzung insgesamt gut gelungen. Er stellt einen positiven<br />
Beitrag im Länderwettbewerb um die besten Konzepte und Regelungen dar. Aber nichts ist so<br />
gut, dass es nicht noch besser werden könnte. In diesem Sinne erlaube ich mir einige<br />
Bemerkungen, die zur Diskussion um eine Verbesserung beitragen könnten.<br />
1. Zu Angaben in der Presseinformation v. 05. 03. 2007 Nr. 29<br />
Leitgedanke soll sein, mit der Konzeption die „Besorgnis erregend hohe Rückfallquote<br />
signifikant“ zu reduzieren. Dieser Anspruch könnte in seiner notgedrungen verkürzten<br />
Aussage Fehlvorstellungen erwecken und zu Fehlerwartungen und späteren Enttäuschungen<br />
bei der Evaluation des Konzeptes beitragen. Die Rückfallproblematik ist sehr komplex,<br />
Angaben zur Rückfälligkeit sind relativ. Rückfallforschung ist defizitär, <strong>zum</strong>al das<br />
Dunkelfeld ausgespart bleibt und die Methode der Wahl – ein Vergleich zwischen dem<br />
Konzept gemäß Behandelten und Nicht-Behandelten – aus rechtlichen Gründen gebotener<br />
Gleichbehandlung ausscheidet. Die angegebene Rückfallquote <strong>von</strong> 78 % bezieht sich auf jede<br />
neue verfolgte Straftat innerhalb <strong>von</strong> vier Jahren nach der Entlassung aus einer verbüßten<br />
Jugendstrafe im Bezugsjahr 1994. Aber nur etwa 45 % wurden erneut zu Jugend- oder<br />
Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt, 62 % zu einer solchen Strafe mit oder ohne<br />
Bewährung (vgl. Zweiter Period. Sicherheitsbericht 2007 S. 648 mit der Untersuchung <strong>von</strong><br />
Jehle u.a.). Hinzu kommt, dass die Rückfälligkeit im Jugendalter immer hoch sein wird, höher<br />
als bei fortschreitendem Alter. Das hängt einmal damit zusammen, dass Menschen mit<br />
schwersten Störungen des Verhaltens im Vollzug sind und der beste Volzug nur<br />
verhältnismäßig wenig <strong>zum</strong> Gelingen der Sozialisation beitragen kann, <strong>zum</strong>al er immer auch<br />
negative Wirkungen entfaltet wegen des Zwangsaufenthalts in einer sehr ungünstigen<br />
Haftpopulation. Es beruht außerdem auf den Irritationen in jungen Altersstufen. So kann es<br />
schon ein Erfolg sein, wenn die Rückfalldichte abnimmt oder die Delikte weniger gravierend<br />
sind. Auch hängt die Höhe der Rückfallquote mit den Vorgaben des Vollzugs zusammen: Je<br />
stärker Jugendgerichte die zu verbüßende Jugendstrafe als letztes Mittel einsetzen und auf<br />
wirklich schwierige und erheblich straffällige junge Menschen begrenzen, um so höher wird<br />
die Rückfälligkeit sein. Je großzügiger oder populistischer Jugendstrafe verhängt wird, um so<br />
günstiger werden die Rückfallquoten ausfallen, weil dann weniger schwer geschädigte junge<br />
Menschen in den Vollzug gelangen. Rückfallquoten sagen also eher etwas aus über die<br />
Auswahl der zu Jugendstrafe Verurteilten als über die Güte des Strafvollzugs. Außerdem<br />
lassen sich Wirkungen eines guten oder weniger guten Strafvollzugs oder bestimmter<br />
Behandlungskonzepte oder gar einzelner Behandlungsmaßnahmen erfahrungsgemäß kaum<br />
wissenschaftlich verlässlich messen, schon gar nicht nur im Blick auf Rückfallquoten. Selbst
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bei irgendeiner Rückfälligkeit kann sich ein Behandlungskonzept positiv ausgewirkt haben.<br />
Möglicherweise zeigen sich positive Wirkungen erst sehr viel später oder auf andere Weise.<br />
Entscheidend sind Beobachtungen positiv verlaufender Einzelfälle nach erfolgreichen<br />
Bemühungen im Jugendstrafvollzug und negativ verlaufender Entwicklungen bei ungünstigen<br />
Haftbedingungen. Oft sind einzelne Ereignisse während der Haft, einzelne Begegnungen<br />
entscheidend für sofortige oder später einsetzende Veränderungen in der Lebensführung („life<br />
events“). Sie lassen sich nicht systematisch planen. Sie ereignen sich aber, wenn der<br />
Strafvollzug solche Begegnungen und Erfahrungen ermöglicht. Dafür könnte ich viele<br />
Beispiele aus der ehrenamtlichen Betreuung junger Gefangener in der JVA Rockenberg<br />
anführen. Diese ehrenamtliche Arbeit ist <strong>von</strong> meiner <strong>Prof</strong>essur seit mehr als drei Jahrzehnten<br />
gefördert worden. Der bloße Blick auf offizielle Rückfallstatistiken kann also den Blick<br />
trüben, falsche Erwartungen wecken und zu falschen Schlussfolgerungen führen. Es sei nur<br />
erinnert an die selbst <strong>von</strong> Wissenschaftlern vertretene „Nothing-Works-Theorie“ <strong>zum</strong><br />
Vergleich der Wirkungen eines Behandlungsvollzugs gegenüber den Wirkungen anderer<br />
Maßnahmen. Negative Folgen eines nicht auf Erziehungsbelange ausgerichteten<br />
Jugendstrafvollzugs – z. B. ohne hinreichende Trennung vom Erwachsenenvollzug, mit<br />
mehrfach belegten Zellen und defizitärer Personalausstattung, namentlich nachts und an<br />
Wochenende – beweist allein schon der Vorfall in der Siegburger Anstalt zur Genüge Das ist<br />
keine Absage an Rückfallforschung, wohl aber Mahnung zur Vorsicht.<br />
Sehr zu begrüßen ist der Ansatz, den Jugendstrafvollzug separat in einem Gesetz zu regeln.<br />
Gleiches gilt für die Ankündigung wesentlicher Verbesserungen in der Ausstattung,<br />
insbesondere die Bereitschaft, Personal für die Wochenenden bereitzustellen. Die bisherigen<br />
Leerlaufzeiten in der Erziehung und sonstigen Behandlung an Wochenenden und an<br />
Feiertagen konterkarieren manches, was an Wochentagen geleistet (und investiert) wird. In<br />
den Leerlaufzeiten dominieren Langeweile und subkulturell-negative Einflüsse. Schon hier<br />
sei erwähnt, dass die Aufteilung in kleine Wohngruppen nur dann zu wünschenswerter<br />
Erziehung beiträgt, wenn rund um die Uhr und auch an Wochenenden genügend Personal für<br />
jede Wohngruppe zur Verfügung steht. Ansonsten wird die Kleingruppe zur Subkultur, der<br />
sich vor allem schwächere Gefangene nicht entziehen können. Der Zellenmord in Siegburg ist<br />
nur extremes Beispiel auch dafür.<br />
2. Zu nicht oder unzureichend geregelten Bereichen<br />
Die erwähnte, gerade für den Jugendstrafvollzug und in personaldünnen Zeiten wesentliche<br />
ehrenamtliche Mitarbeit <strong>von</strong> Studierenden, Sportverbandsangehörigen, aber auch älteren<br />
Menschen sollte im Gesetz besonders hervorgehoben werden. Deren Förderung sollte als<br />
Aufgabe der Anstalt ausdrücklich gesetzlich festgeschrieben werden. Die ehrenamtliche<br />
Hilfe im Vollzug entfaltet vor allem bei jungen Menschen und mit jungen Helfern unglaublich<br />
positive Wirkungen. Sie sollte auch öffentlich lobend hervorgehoben werden und – im Falle<br />
studentischen Engagements – mehr als bislang als Bonus auf dem Ausbildungs- und<br />
Berufsweg gewürdigt werden.<br />
Überdacht werden sollte weiter die <strong>von</strong> mir schon vor langer Zeit vorgeschlagene, jetzt<br />
wieder in den „Mindeststandards für den Jugendstrafvollzug“ der <strong>DVJJ</strong> <strong>von</strong> 2007 unter Nr. 21<br />
geforderte Einrichtung eines Ombudsmannes (Strafvollzugsbeauftragten) für den Straf- bzw.<br />
<strong>zum</strong>indest Jugendstrafvollzug als außerordentliche Prüf- und Beschwerdestelle. Hätte es sie in<br />
NRW gegeben, wäre es wahrscheinlich nicht zu Verhältnissen gekommen, wie sie in<br />
Siegburg herrschten und dort zu dem Zellenmord beigetragen haben.
3<br />
Vertretbar sieht der Hessische Entwurf <strong>von</strong> einer Regelung des Rechtsschutzes ab, weil<br />
bundesrechtlich i. R. konkurrierender Gesetzgebung die §§ 23 ff EGGVG gälten und der<br />
Bund zu einer Neuregelung verfassungsgerichtlich aufgerufen sei. Man könnte aber auch eine<br />
andere Rechtsmeinung vertreten und dadurch zu einer schnelleren und vernünftigen Lösung<br />
kommen: Die bisherige Regelung ist unzweifelhaft unzureichend und vom BVerfG gerügt<br />
worden, ist doch gerade für junge Gefangene der Rechtsweg <strong>zum</strong> Oberlandesgericht denkbar<br />
ungeeignet. Die bundesrechtliche Regelung ist gerade nicht eigens für den Jugendstrafvollzug<br />
und die Untersuchungshaft geschaffen worden, stellt vielmehr nur eine Lückenregelung für<br />
alle nicht ausdrücklich geregelten Bereiche dar und entspricht lediglich der grundgesetzlichen<br />
Rechtsweggarantie. Kraft Sachzusammenhangs kann man eine Regelungskompetenz des<br />
Landes annehmen, wenn das Land – dem Willen des Bundes und der Föderalismusreform<br />
entsprechend – den Jugendstrafvollzug erstmals und umfassend regeln will. In diesem Fall<br />
sollte man statt einer Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer oder Jugendstrafkammer<br />
des Landgerichts als Erste Instanz eher an den Amtsrichter als Jugend- und<br />
Vollstreckungsrichter denken, der wahrscheinlich die Verhältnisse der Anstalt in seinem<br />
Bezirk und einzelne Gefangene wesentlich besser kennt und flexibler reagieren kann. Für die<br />
Rechtsbeschwerde könnte man die Jugendkammer oder den Strafsenat vorsehen. Vom Bund<br />
her dürften keinerlei Widerstände gegen eine länderrechtliche Regelung auch des<br />
Rechtsschutzes kraft Sachzusammenhangs zu erwarten sein.<br />
II.<br />
Bemerkungen zu einzelnen gesetzlichen Regelungen<br />
1. Erziehungsziel in § 2<br />
Das Erziehungsziel in § 2 I soll doch ein besonderes, gegenüber dem Vollzugsziel in § 2 I<br />
StVollzG abgesetztes sein. Es wird aber mit diesem identisch formuliert. Das ist irreführend<br />
und widerspricht der treffenderen Formulierung der Leitlinie 1 in der Begründung S. 40 und<br />
46. Erst die nachfolgenden Regelungen verweisen dann auf das Besondere. Es sollte plakativ<br />
in § 2 I <strong>zum</strong> Ausdruck kommen.<br />
Abs. II S. 1 bringt den gleichen Widerspruch, den schon der kompromisshaft formulierte § 2<br />
I, II StVollzG geschaffen hat. Schutz der Gesellschaft vor weiteren Straftaten (im und<br />
außerhalb vom Vollzug) ist Bestandteil des „Erziehungsziels“, kein Widerspruch dazu und<br />
keine Ergänzung. Er bedürfte also keiner ausdrücklichen Erwähnung. Wird er erwähnt, kann<br />
es sich nur um eine Klarstellung handeln. Dann sollte das klar <strong>zum</strong> Ausdruck kommen.<br />
Mindestformulierungsvorschlag: „Der Jugendstrafvollzug dient deswegen (oder damit)<br />
zugleich dem Schutz...“<br />
Gegen § 2 II S. 2 bestehen Bedenken. Die sichere Unterbringung als Programmsatz lässt<br />
kaum Raum für in der Zukunft doch verstärkt zu konzipierende Vollzugskonzepte in freien<br />
Formen, wie sie § 91 III JGG ermöglicht und wie sie auch in § 13 III 1 des Entwurfs<br />
angedacht sind. Freiere Formen mit weniger Sicherheitsvorkehrungen, wie sie etwa in der<br />
Schweiz üblich sind und in Baden-Württemberg derzeit erprobt werden, müssten danach<br />
sogar ausscheiden, weil sie keine „sichere Unterbringung“ gewährleisten. Man sollte also den<br />
Eindruck vermeiden, hier werde erneut Sicherheit gegen Erziehung ausgespielt. Auch sollte<br />
man sich nicht unnötig Wege des Experimentierens und der Vorreiterfunktion des<br />
Jugendstrafrechts bei dem Erproben neuer Konzepte verbauen.<br />
2. Ausantwortung nach § 11 III
4<br />
Die Regelung entspricht den VV zu § 8 StVollzG. Sie ist aber – <strong>zum</strong>al als gesetzliche<br />
Grundlage – zu unbestimmt. Die in der Begründung genannten Beispiele einer Abgabe<br />
junger Strafgefangener in den polizeilichen Verantwortungsbereich sollten aufgenommen<br />
werden mit der Klarstellung, dass es sich bei nicht genannten Fällen um ähnliche Anlässe<br />
handeln muss. Es ist nämlich mit dem Erziehungsziel unvereinbar, dass – wie es offenbar<br />
nach Schrifttumshinweisen und nach eigenen früheren Recherchen gelegentlich vorkam oder<br />
noch vorkommt – Jugendstrafgefangene der Polizei überstellt werden aus dem Vollzug, um<br />
Tätigkeiten als V-Leute und „agents provocatuers“ beispielsweise in der <strong>Dr</strong>ogen-Szene zu<br />
übernehmen. Das Wort „insbesondere“ in der Begründung ließe auch solche<br />
„Ausantwortungen“ (schreckliches Wort) zu.<br />
3. Geschlossener und offener Vollzug<br />
Der Glaubenskrieg darum, ob offener Vollzug Regelvollzug im StVollzG sei oder sein solle,<br />
braucht m. E. nicht weiter ausgetragen zu werden. Manches spricht tatsächlich dafür, zu<br />
Jugendstrafe Verurteilte – wenn überhaupt (ultima ratio) – grundsätzlich in den geschlossenen<br />
Vollzug zu nehmen, weil man ihnen vielleicht nur dort das erzieherisch Mögliche (auch in der<br />
Ausbildung) vermitteln kann und weil viele zunächst sicher untergebracht werden müssen.<br />
Andererseits sollte der Jugendstrafvollzug insoweit gleichfalls seine Vorreiterfunktion für<br />
Modifikationen im allgemeinen Recht beibehalten. Deswegen muss er Experimentierfeld<br />
bleiben. Er soll nach neuen Wegen suchen, Jugendliche auch ohne Einsperrung zu erziehen.<br />
Deswegen muss es Aufgabe bleiben, gerade für junge Menschen nach Besserem als dem<br />
traditionellen kustodialen Freiheitsentzug zu suchen. Die Schweiz und das genannte Baden-<br />
Württembergische Schulinternatsmodell sind Beispiele, die ermutigen.<br />
§ 13 erwähnt solche Möglichkeiten in Abs. 3 , vor allem Nr. 1 u. 2. Aber der vorgeschaltete<br />
Abs. 2 S. 2 engt sie zugleich überstark ein, so dass forschungsbegleitetes Erproben neuer<br />
offenerer Modelle ausscheidet. Wenn nämlich nur in ihrer Persönlichkeit ausreichend<br />
gefestigte Gefangene dafür in Frage kommen, wird man wohl vergeblich nach einer<br />
geeigneten Gefangenengruppe suchen. Solche Menschen dürften kaum in den Strafvollzug<br />
gelangen (§ 17 JGG). Hier ist mehr Mut <strong>zum</strong> begrenzten Risiko erwünscht. Dafür wird auch<br />
die Öffentlichkeit zu gewinnen sein, wenn sie erfährt, dass solche Wege in anderen Ländern<br />
erfolgreich beschritten und so manche junge Menschen vor Haftschäden (insb. Subkultur)<br />
bewahrt werden.<br />
4. Wohngruppenvollzug, §§ 18, 68, 72 IV 2<br />
Das ehrgeizige Ziel, Wohngruppen zu 8 Gefangenen durchzusetzen in dem bewährten<br />
Wohngruppen-Vollzug, ist begrüßenswert. Systematisch unglücklich in § 72 II 2 platziert bei<br />
„Vollzugsbediensteten“ (gehört eher zu § 68 IV oder noch besser zu § 18), wird die nötige<br />
Ergänzung angefügt, dass dies eine personelle Absicherung „in dem erforderlichen Umfang“<br />
gebiete. Im Hinblick auf gelegentlich unheilvolle Situationen für schwächere Gefangene in<br />
personell nicht hinreichend ausgestatteten Wohngruppen, die zur Hölle der Subkultur werden<br />
können, sollte dies noch deutlicher an prominenter Stelle <strong>zum</strong> Ausdruck kommen und<br />
möglichst mit einem Maßstab für die Mindestausstattung versehen werden. Wo dieser<br />
Mindeststandard personeller Ausstattung im Aufsichts- und Sozialdienst, damit personeller<br />
Bezug und Transparenz, nicht gewahrt werden kann, sollte <strong>von</strong> Wohngruppen eher abgesehen<br />
werden. Es geht nicht um Wohngruppen an sich, die sich selbst regulieren, sondern um echte<br />
erzieherisch günstig wirkende soziale Gruppen und Lernfelder mit einer äußerst schwierigen<br />
Klientel.<br />
5. Religionsausübung, § 31
5<br />
Die positive Formulierung in Abs. 1 ist besser als die negative in § 53 I StVollzG (dort:<br />
religiöse Betreuung darf nicht versagt werden).<br />
6. Schriftwechsel, § 34 IV<br />
Schon 1970 habe ich in einer Schrift darauf hingewiesen, dass zur Ausübung des Grundrechts<br />
nach Art. 17 GG (Petitionsrecht) für Inhaftierte gehört, dass diese Schreiben nicht kontrolliert<br />
werden. Anderenfalls wird das Grundrecht ausgehöhlt. Deswegen ist inzwischen anerkannt,<br />
dass Gefangenenschreiben nicht der Kontrolle unterliegen. Die Aufzählung <strong>von</strong><br />
Volksvertretungen sowie Gerichten und sonstigen Anrufungsstellen in § 34 IV engt jedoch<br />
den grundrechtlich benannten Adressatenkreis ein. „Zuständige Stellen“ können<br />
beispielsweise ebenso Staatsanwaltschaften für Strafanzeigen sein. Ich schlage daher den<br />
grundgesetzlichen Begriff „und sonstige zuständige Stellen“ vor.<br />
7. Pakete, § 36 I 1<br />
Dass der Empfang <strong>von</strong> Paketen mit Nahrungs- und Genussmitteln generell verboten sein soll<br />
aus Sicherheitsgründen und weil es anstaltsinterne Möglichkeiten des Einkaufs und somit<br />
keinen Bedarf gebe (so die Begründung), überzeugt nicht und wirkt kleinkariert. Der<br />
Lieblingskuchen, <strong>von</strong> Oma <strong>zum</strong> Geburtstag oder zur Weihnacht gebacken für den inhaftierten<br />
Enkel, kann eine große Bedeutung erzieherisch haben gerade in Momenten der Vereinsamung<br />
und des Gefühls, verlassen zu sein. Man frage mal die Anstaltsseelsorger nach solchen<br />
Situationen und Zeichen. Es geht doch nicht vorrangig um eine materielle Erleichterung des<br />
Haftlebens. Gerade hierbei müssen junge Gefangene besser, sie dürfen nicht schlechter<br />
gestellt werden als Erwachsene. Wenn Pakete anderen Inhalts zugelassen werden und<br />
Sicherheitsbedenken dabei entsprochen werden kann (Satz 2), dann muss das gleichfalls für<br />
die genannten Pakete gelten, <strong>zum</strong>al sie ohnehin auf wenige Anlässe beschränkt sein werden.<br />
8. Meldepflicht nach § 44 VI<br />
Diese erstmals gesetzlich für Gefangene statuierte Meldepflicht bei Gefahren oder<br />
erheblichen Störungen der Sicherheit und Ordnung scheint mir höchst bedenklich, <strong>zum</strong>al<br />
unter subkulturellem Blickwinkel. Oberstes Gebot informeller subkultureller Normen, die in<br />
fast jeder Anstalt der Welt vorherrschen, ist es, keinen Mitgefangenen anzuzeigen, „nicht zu<br />
singen“. Wer dagegen verstößt, kann in Lebensgefahr geraten, auch und besonders im<br />
Jugendstrafvollzug. Ihn dann zugleich förmlich in einen Normenkonflikt zu stellen, kann<br />
kaum verantwortet werden. Wenn überhaupt, scheint mir dies nur im Sinne einer Soll-<br />
Vorschrift ohne disziplinarische Konsequenzen bei Verstoß akzeptabel.<br />
9. Bekämpfung des Suchtmittelmissbrauchs, § 46<br />
Die Vorschrift veranlasst mich zu grundsätzlichen Bemerkungen gegenüber den hessischen<br />
Übungen genereller <strong>Dr</strong>ogentests in den Haftanstalten:<br />
An mehreren Stellen ist in der Presseerklärung und den Begründungen <strong>zum</strong> Gesetzentwurf<br />
da<strong>von</strong> die Rede, an regelmäßigen <strong>Dr</strong>ogentests solle festgehalten werden. Schon vor Jahren<br />
habe ich auf die Fragwürdigkeit und Kostspieligkeit dieses Verfahrens hingewiesen sowie die<br />
fehlende wissenschaftliche Überprüfung. Ich hatte damals eine wissenschaftliche<br />
Untersuchung mit vertraulichen Experteninterviews bei Mitarbeitern und Gefangenen<br />
vergeblich angeregt. Nach amerikanischen Erfahrungen und ersten eigenen Eindrücken
6<br />
hierzulande besteht die Gefahr, dass diese generellen Tests subkulturell unterlaufen werden:<br />
Von Gefangenen durch Tricks, wenn nicht wirklich penibel die einzelnen Tests und<br />
Zeitpunkte gegen jede Manipulierbarkeit abgesichert werden – den dazu nötigen Aufwand<br />
kann sich keine Anstalt leisten, und er würde sich kaum mit der Würde der Beteiligten<br />
vereinbaren lassen – und <strong>von</strong> Mitarbeitern durch mehr oder minder großzügiges Vorgehen.<br />
Beide Seiten sind dann mit den überaus guten oder geschönten Ergebnissen zufrieden: Die<br />
Gefangenen, weil gelegentlicher <strong>Dr</strong>ogenkonsum weitergehen kann ohne allzu große Risiken,<br />
Mitarbeiter und Vorgesetzte, weil ihre Anstalt als einigermaßen „drogenfrei“ erscheint und<br />
der ungeliebte zusätzliche Arbeitsaufwand in Grenzen gehalten werden kann. Man macht sich<br />
also vielleicht etwas vor, was der Realität möglicherweise nicht entspricht.<br />
Bezeichnenderweise sagte der Leiter eines der höchstgesicherten Gefängnisse in den USA<br />
(Baltimore Super Maximum Security Penitentiary) mit häufigen <strong>Dr</strong>ogentests bei Gefangenen<br />
und Mitarbeitern auf meine Frage als <strong>Dr</strong>ogenexperte nach dem tatsächlichen Auftreten <strong>von</strong><br />
<strong>Dr</strong>ogen, das sei hier wie in jedem anderen Gefängnis Gang und Gäbe. Meine kritische<br />
Betrachtung zu Serientests spricht nicht gegen sinnvolle und weniger manipulierbare<br />
gelegentliche Tests aus gegebenem Anlass oder Stichproben oder gegen vereinbarte Tests bei<br />
behandelten drogenabhängigen Gefangenen. Es erscheint ohnehin fraglich, ob solche<br />
generellen Tests, die nicht auf konkrete Situationen abheben, mit dem Entwurfstext in § 46 II<br />
1 noch gestützt werden könnten. Gebotensein kann ja nicht generell bejaht werden. Auch ist<br />
es fraglich, ob das Erziehungsziel generelle Tests „gebietet“ angesichts ihrer aufgezeigten<br />
Fragwürdigkeit, jedenfalls nicht nachgewiesenen Verlässlichkeit und angesichts der<br />
Kenntnisse <strong>von</strong> der Bedeutung <strong>von</strong> <strong>Dr</strong>ogen in der Haft (insbesondere Cannabis und Alkohol).<br />
Ich darf auf meine grundlegenden Schriften dazu verweisen, zuletzt etwa in: Deutsche<br />
Hauptstelle für Suchtfragen, R. Gassmann, Hrsg., Suchtprobleme hinter Mauern, Freiburg i.<br />
B. 2002 S. 35-63.<br />
Im Übrigen bestehen terminologische Bedenken. Der Begriff „Kontrolle“ erscheint als zu<br />
unbestimmt und missverständlich, könnte man doch an bloße Durchsuchungen denken,<br />
obwohl man einzig an Urintests oder ähnliche <strong>Dr</strong>ogentests denkt. Auch ist die Terminologie<br />
(„Suchtmittelmissbrauch“) nicht auf dem Stand heutiger Erkenntnisse. Gemeint ist doch der<br />
Suchtmittel-Umgang, unabhängig da<strong>von</strong>, ob es Besitz oder Konsum oder Weitergabe ist,<br />
unabhängig auch da<strong>von</strong>, ob es sich um Ge- oder Missbrauch handelt. Das gilt für den in der<br />
Haftanstalt verbotenen Alkohol ebenso wie für Cannabis. Da ein anderes „Suchtmittel“ –<br />
Nikotin – in Haftanstalten sehr verbreitet ist und offenbar erlaubt sein soll, müsste insoweit<br />
der Suchtmittelbegriff ebenfalls eingeengt werden.<br />
10. Schusswaffen, §§ 52, 53<br />
Die Vorschriften engen zwar den Schusswaffenumgang Bediensteter ein gegenüber dem in<br />
Erwachsenen-Haftanstalten. Sie sind aber schwerlich in Übereinstimmung zu bringen mit Nr.<br />
65 der VN-Regeln <strong>zum</strong> Schutz der Jugendlichen unter Freiheitsentzug. Sie sollten, auch weil<br />
sie gegen entsprechende Mindeststandards der <strong>DVJJ</strong> (Nr. 19) verstoßen, nochmals daraufhin<br />
überprüft werden, ob nicht wenigstens der Kreis berechtigter Schusswaffenträger enger und<br />
bestimmter gefasst werden könnte als jetzt („dazu bestimmten Vollzugsbediensteten“).<br />
Freilich räume ich ein, dass die VN-Regeln zu rigide sein könnten, etwa für den Fall, dass<br />
Gefangene selbst Schusswaffen haben oder zu haben und einzusetzen vorgeben.<br />
Erfreulicherweis hat sich eine entsprechende Situation des Schusswaffeneinsatzes bisher noch<br />
nicht in <strong>Hessen</strong> in einer Jugendstrafanstalt ergeben.<br />
11. Konfliktregelung, § 54
7<br />
Zu begrüßen ist es, dass zur Regelung <strong>von</strong> Konflikten primär erzieherische Ansätze verfolgt<br />
werden vor förmlich-disziplinarischen. Indes scheint mir die Formulierung noch zu sehr auf<br />
förmliche „Maßnahmen“ abzuheben. Solche können am Ende nötig sein. Sie sind aber kein<br />
erster und spezifisch erzieherischer Ansatz. „Maßnahmen“, die im Detail geschildert werden,<br />
sind eher bürokratische, altgewohnte Reaktionen. Zu Beginn ist doch ganz überwiegend an<br />
„Erziehungsgespräche“, Verarbeitung eines Konflikts im Gespräch, Deeskalation zu denken.<br />
Das sollte vor Satz 2 <strong>zum</strong> Ausdruck kommen.<br />
12. Datenschutz, § 61 Abs. 2, 3<br />
Die Regelung ist weitgehend dem § 182 StVollzG nachgebildet. Sie begegnet aber wie dort<br />
Bedenken, soweit sie die ärztliche Schweigepflicht einschränkt durch Offenbarungs-Rechte<br />
und -Pflichten gegenüber Anstaltsbediensteten. Hält man daran fest, wird es um so<br />
dringlicher, Personen mit strengeren Schweigepflichten in den therapeutischen Rahmen<br />
einzubinden. Nur sie haben das für sensible Beratungen nötige Vertrauen wegen ihrer<br />
unbedingten Schweigepflicht. Das gilt etwa für die Gefängnisseelsorge, vor allem für die<br />
externe <strong>Dr</strong>ogenberatung, die jetzt schon in <strong>Hessen</strong> für Haftanstalten meines Wissens<br />
Beratungs- und Vermittlungsarbeit in der Haft anbietet. Dazu etwa: Verf., Aufsuchende<br />
Arbeit im Vollzug, Stuttgart 1997 (Landesstelle gegen die Suchtgefahren in Baden-<br />
Württemberg, Hrsg.).<br />
13. Kriminologische Wirkungsforschung, § 66 III<br />
Erfreulicherweise werden in § 66 die Monita des BVerfG <strong>von</strong> 2006 zur Notwenigkeit<br />
kriminologischer Begleitforschung und forschungsgestützten Eingriffshandelns umgesetzt.<br />
Bedenken bestehen hinsichtlich zu enger und detaillierter Forschungsvorgaben und<br />
entsprechender Erwartungen. Dies wurde schon eingangs angedeutet. Es ist kaum möglich,<br />
Resozialisierungs- oder Erziehungserfolge spezifischer Behandlungsmaßnahmen in<br />
generalisierender Art (quantitativ und qualitativ) festzustellen und messbar zu machen oder<br />
gar zu untersuchen, ob die Gefangenen gelernt haben, ein Leben in sozialer Verantwortung zu<br />
führen. Solche Wirkungen lassen sich diagnostisch schwer einschätzen und sind nicht nur <strong>von</strong><br />
Bedingungen in der Haft, sondern auch und vor allem Bedingungen nach der Haft, <strong>von</strong><br />
persönlichen Begegnungen, sozial-strukturellen Verhältnisasen usw. abhängig. Schier<br />
unendlich viele Untersuchungen haben die methodischen, aber auch theoretischen<br />
Schwierigkeiten gezeigt. Realistisch sind allenfalls Auswertungen <strong>von</strong> Akten – etwa der<br />
Bewährungshilfe – und der Strafregister. Das aber ergibt notgedrungen ein Bild, das an der<br />
Oberfläche bleibt. Auch solche Forschung tut Not. Man sollte sie indes freihalten <strong>von</strong><br />
konkreten gesetzlichen Vorgaben und kühnen Erwartungen. Mein Vorschlag: Absatz 3<br />
ersatzlos streichen. Abs. 2 und 4 benennen das Nötige und Mögliche.<br />
14. Mitverantwortung der Gefangenen, § 74<br />
Die Regelung der wichtigen Mitverantwortung ist allzu mager und unbestimmt ausgefallen.<br />
Die Formulierung in Satz 1 ist zudem unglücklich geraten. Fast erscheint sie als Ausdruck<br />
<strong>von</strong> Ängstlichkeit. Eine dreifache Beschränkung deutet eher an, man wolle bloß nicht zu viel<br />
Gefangenenmitwirkung: „soll ermöglicht werden“, „sie gemeinsam betreffende<br />
Angelegenheiten“, „die hierfür geeignet sind“.<br />
Gez.: <strong>Arthur</strong> <strong>Kreuzer</strong>