Einführung ins Thema Geburt und Tod - Histomat
Einführung ins Thema Geburt und Tod - Histomat
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Totentanz<br />
Seit Beginn des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts stellte der Totentanz eine eigene Dimension des Kollektivempfindens<br />
dar. Der Totentanz war eine der ersten kollektiven Äusserungen der neuen Profankultur<br />
19 , die Begegnung mit der körperlichen Endlichkeit wurde so aufs Genaueste dargestellt.<br />
Die hierarchisch gegliederten Mitglieder jedes Standes treffen sich paarweise mit einem<br />
Toten, jedes Paar stellt einen Leichnam im Streit mit einem Lebenden dar, dessen Ebenbild<br />
man im täglichen Leben begegnen konnte. Die Lebenden werden von den Toten nicht von<br />
hinten überrascht <strong>und</strong> sie werden auch nicht physisch getötet. Die Menschen wissen, dass<br />
durch den <strong>Tod</strong> nicht bloss die menschliche Hülle zugr<strong>und</strong>e gerichtet wird, sondern die ganze<br />
menschliche Wirklichkeit aus Macht <strong>und</strong> Duldsamkeit, Schmerz <strong>und</strong> Genuss. Der <strong>Tod</strong> zwingt<br />
allein durch seine Gegenwart jeden unter seinen Willen, Gegenwehr wehrt er mit einer einzigen<br />
Geste ab. Die Einzigartigkeit der Macht all dieser Toten kommt nicht unmittelbar von<br />
Gott, sondern eher von der menschlichen Situation.<br />
Der Totentanz verwirklichte einen neuen Sinn für Dauer: Einerseits drückte er das <strong>Tod</strong>esbewusstsein<br />
einer Gesamtheit aus, die Tragödie des einzelnen ist dabei genauso dramatisch wie<br />
die seiner Ebenbilder zusammen. Der Totentanz brachte andererseits auch das Staunen der<br />
Lebenden zum Ausdruck, das Eingeständnis der Hinfälligkeit von Körper <strong>und</strong> Gütern.<br />
In allen Totentanzdarstellungen ist auch Ironie festzustellen. Verglichen mit den sich verrenkenden<br />
<strong>und</strong> sich schaukelnden Skeletten der Toten, wirken die sich wehrenden Lebenden störrisch<br />
<strong>und</strong> tölpelhaft. Hohnlachend ziehen die Toten die Lebenden in ihren Reigen. Die Ironie<br />
verschont keinen <strong>und</strong> bringt das Bewusstsein der Grenze der physischen Existenz dank ihres<br />
dramatischen, aber objektiven <strong>und</strong> psychologischen Abstandnehmens zum Ausdruck.<br />
Die Perspektive vom doppelten Los des eigenen Dase<strong>ins</strong> trat noch in Äusserungen von Busse<br />
<strong>und</strong> betrübtem Staunen zutage. Zwischen diesen beiden sich ergänzenden <strong>und</strong> auch widersprüchlichen<br />
Aspekten gab es jedoch einen neuen Kern, eine Art von schmerzlichem Gefühl<br />
für die eigene menschliche Wirklichkeit. Denn der Wehmut über das Aufgeben aller irdischen<br />
Freuden traten Ironie <strong>und</strong> Sarkasmus gegenüber, die die christliche Weisheit <strong>und</strong> auch der<br />
asketische Rigorismus bis dahin nicht gekannt hatten. Man wollte nicht mehr nur die Gleichheit<br />
jeglicher Situation vor dem <strong>Tod</strong>e bekräftigen, sondern behaupten, er könne ein Gegengewicht<br />
zu den Leidenschaften <strong>und</strong> der Begeisterung, zu den Irrtümern <strong>und</strong> der Wahrheit der<br />
Menschen bilden. Ohne Hölle <strong>und</strong> Paradies genügte die unüberwindliche Bitterkeit angesichts<br />
der physischen Vernichtung <strong>und</strong> die Wirklichkeit des irdischen Endes in den Totentanzdarstellungen<br />
allein, dem Leben einen tragischen <strong>und</strong> zugleich völlig menschlichen Sinn zu geben.<br />
19 Der <strong>Tod</strong>, zugleich Bestimmung aller <strong>und</strong> das Los jedes einzelnen, wurde beispielsweise im literarischen Werken<br />
bedauert. Einerseits wurde der <strong>Tod</strong> noch immer nach der christlichen Lehre als Ende des leiblichen Lebens<br />
wahrgenommen, wobei die Seele im Jenseits weiterleben kann. Andererseits kam in literarischen Werken auch<br />
die Liebe zur irdischen Existenz zum Ausdruck, bedauert wurde die eigene körperliche Bestimmung/Zersetzung<br />
mit einem tiefen Einblick in den organischen Charakter des menschlichen Lebens. (genannt wird als Beispiel der<br />
Dichter Eustache Deschamps, gest. 1406).