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Einführung ins Thema Geburt und Tod - Histomat

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Informationstext „Kinderzeichnen“ 62<br />

Die Menschen mussten mit der enorm hohen Säuglingssterblichkeit irgendwie fertig werden.<br />

Noch anfangs 20. Jahrh<strong>und</strong>ert wurde – abhängig immer von Region <strong>und</strong> Gesellschaftsschicht<br />

– r<strong>und</strong> ein Viertel aller Kinder nicht älter als ein Jahr. Wie bewältigten die Eltern diese Realität,<br />

waren sie gefühllos, so dass ihnen all diese <strong>Tod</strong>esfälle nichts ausmachten oder versuchten<br />

sie ganz einfach, das verstorbene Kind durch ein neues zu ersetzten?<br />

„Gleichgültigkeit“ scheint als Argument nicht zuzutreffen. Vielmehr muss laut Imhof als Erklärungsansatz<br />

auf eine uns möglicherweise fremd anmutende Glaubensvorstellung zurückgegriffen<br />

werden: Das so genannte „Kinderzeichnen“.<br />

Für die Eltern war vor allem eines wichtig: Das Kind musste vor seinem <strong>Tod</strong> getauft worden<br />

sein. Nur ein getauftes Kind – so die Vorstellung – kann in den Himmel gelangen. Eng mit<br />

dieser Denkweise verb<strong>und</strong>en ist die Aufgabenteilung zwischen Eltern <strong>und</strong> Gott: Für die Taufe<br />

sind die Eltern zuständig, über das weitere Leben des Kindes, <strong>und</strong> zwar dessen Anfang <strong>und</strong><br />

Ende, kann nur Gott bestimmen. Die Eltern reagierten also überhaupt nicht gefühllos oder<br />

gleichgültig h<strong>ins</strong>ichtlich der häufigen Kindstode, sondern sie waren geprägt von diesem Verständnis<br />

der geteilten Verantwortungsbereiche <strong>und</strong> handelten pflichtbewusst innerhalb des<br />

ihnen zugewiesenen Zuständigkeitsbereichs.<br />

Da Säuglingssterbefälle aber häufig bereits bei der Niederkunft <strong>und</strong> damit vor der Taufe vorkamen,<br />

setzten die Eltern alles in Bewegung, um den <strong>Tod</strong> für kurze Zeit rückgängig zu machen<br />

<strong>und</strong> zwar sowohl zum Wohle des Kindes wie auch zur eigenen Beruhigung <strong>und</strong> Entlastung.<br />

Wie konnten sie dies aber bewerkstelligen?<br />

Sie verbanden geschickt Teile der kirchliche Lehre, die ihnen bei der Alltagsbewältigung helfen<br />

konnten mit ihrer eigenen Weltanschauung: Die Kirche setzte als unbedingte Voraussetzung<br />

für den Eintritt in den Himmel die Taufe voraus. Sie lehrte aber auch, dass das getaufte<br />

Kind, je früher (<strong>und</strong> damit unschuldiger) es stirbt, die Gewissheit haben kann, in den Himmel<br />

zu gelangen <strong>und</strong> dort, zum Vorteil der Eltern, für die Eltern, Geschwister <strong>und</strong> Verwandten<br />

beten wird.<br />

Von dieser Vorstellung zeugen viele Votivtafeln 63 in Wallfahrtskirchen. Alle bekräftigen,<br />

dass es viele verzweifelte Eltern gab, die ihr totgeborenes Kind taufen wollten, damit es nicht<br />

als unerlöste Seele herumirren musste, sondern in den Himmel gelangen kann.<br />

Dieser Brauch war vor der Reformation in ganz Europa verbreitet, der deutsche Ausdruck<br />

„Kinderzeichnen“ deutet direkt auf den Vorgang hin: die Kinder gaben ein Lebenszeichen<br />

von sich. Die Kirche beobachtete das Kinderzeichnen mit zwiespältigen Gefühlen. Wie sollte<br />

sie auf diese „Totenerweckungen“ reagieren? Die Verantwortlichen der katholischen Kirche<br />

verboten 1729 diese Taufen, nachdem vor allem ein deutsches Kloster zu grosser Berühmtheit<br />

gelangt war wegen den unzähligen dort vorgenommenen Taufhandlungen an „gezeichneten“<br />

Kindern. 64 Allerdings blieb ein Dilemma für die katholische Kirche, denn sie konnte die Möglichkeit<br />

von W<strong>und</strong>ern nicht gr<strong>und</strong>sätzlich ausschliessen.<br />

Radikaler ging die reformierte Kirche mit diesem Problem um: 1528 schickte der Rat von<br />

Bern einen Gesandten zum damals berühmten Wallfahrtsort für die Taufe totgeborenen Kin-<br />

62 Zusammengestellt aus: Imhof, Arthur, E.: Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren<br />

– <strong>und</strong> weshalb wir uns heute so schwer damit tun, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1984, S.<br />

158-171.<br />

63 Einem Heiligen oder einer Heiligen geweihtes Bild als Dank geweihtes Bild. Auf einer Tafel aus dem 17.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert heisst es beispielsweise: „Gedenktafel zum Danke gegen die Gottes Mutter Maria durch deren Fürbitte<br />

ein todtgeborenes Kind, das schon 4 Tage im Grabe gelegen, die schönste weissrothe Gesichts Farbe bekam<br />

<strong>und</strong> die Lippe ein einiges farbiges Blut von sich gab, also die besten Lebens Zeichen, um es taufen <strong>und</strong> kirchlich<br />

begraben zu können. – Die dankschuldigen Eltern.“ Imhof, Arthur, E.: Die verlorenen Welten, S. 163.<br />

64 Laut Imhof waren es zwischen 1686 <strong>und</strong> 1720 über 24'000 Kinder, die in vorübergehend erwecktem Zustand<br />

die Taufe erhalten hatten. Vgl. Imhof, Arthur, E.: Die verlorenen Welten, S. 166.

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