Einführung ins Thema Geburt und Tod - Histomat
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ging, sich fast niemand um seinen Nachbarn kümmerte <strong>und</strong> die Verwandten einander nur selten<br />
oder nie <strong>und</strong> dann nur von ferne sahen. Durch diese Heimsuchung hatte die Herzen der<br />
Männer <strong>und</strong> Frauen eine solche Angst befallen, dass ein Bruder den anderen verliess, die<br />
Schwester den Bruder, oft die Frau ihren Mann, <strong>und</strong>, was fast unglaublich ist, Väter <strong>und</strong> Mütter<br />
scheuten sich, zu ihren Kindern zu gehen <strong>und</strong> sie zu pflegen (…).<br />
Deshalb blieb für die unzählige Menge von Männern <strong>und</strong> Frauen, die erkrankt waren, keine<br />
andere Hilfe als das Mitleid der Fre<strong>und</strong>e, von denen es freilich wenige gab oder die Habgier<br />
der Wärter, die sie gegen einen hohen <strong>und</strong> unverhältnismässigen Lohn pflegten. Und die, welche<br />
dies taten, waren Männer <strong>und</strong> Frauen von grobem Sinn <strong>und</strong> meist in einem solchen Dienst<br />
unerfahren. Sie machten nichts anderes als den Kranken darzureichen, was sie verlangten <strong>und</strong><br />
zuzusehen, wie sie starben. Freilich fanden sie bei dieser Tätigkeit oft genug selbst den <strong>Tod</strong>.<br />
Und weil die Kranken von Nachbarn, Verwandten <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en verlassen <strong>und</strong> Wärter knapp<br />
waren, breitete sich eine bisher unbekannte Gewohnheit aus: Keine Frau hatte, wie gross auch<br />
ihre Lieblichkeit, Schönheit <strong>und</strong> Anmut war, im Falle ihrer Erkrankung Bedenken, sich von<br />
einem Mann bedienen zu lassen <strong>und</strong> ihm gegenüber, wenn es die Notlage der Krankheit erforderte,<br />
ohne Scham jeden Teil ihres Körpers zu entblössen. Dies wurde bei denen, die wieder<br />
ges<strong>und</strong> wurden Anlass einer geringeren Ehrbarkeit. Und viele starben, die, wenn sie gepflegt<br />
worden wären, vielleicht überlebt hätten.<br />
Durch das Fehlen einer geeigneten Pflege wurde die Menge derer, die Tag <strong>und</strong> Nacht in der<br />
Stadt umkamen, so gross, dass es grässlich war, nur davon zu hören, geschweige denn es mitzuerleben.<br />
So entstanden notwendigerweise unter denen, die überlebten, Gewohnheiten, die<br />
den ursprünglich unter den Bürgern gepflegten Gebräuchen entgegenstanden. Es war üblich<br />
gewesen, dass die weiblichen Verwandten <strong>und</strong> Nachbarinnen sich im Haus des Toten versammelten<br />
<strong>und</strong> dort zusammen mit den nächsten weiblichen Angehörigen weinten. Vor dem<br />
Haus des Toten trafen sich dagegen, zusammen mit den männlichen Angehörigen, die Nachbarn,<br />
viele Bürger <strong>und</strong> je nach Stand des Toten auch die Geistlichkeit, <strong>und</strong> er wurde von seinesgleichen<br />
auf den Schultern in einem Leichenzug, mit Wachskerzen <strong>und</strong> Gesängen in die<br />
von ihm vor seinem <strong>Tod</strong>e bestimmte Kirche getragen. Als nun die Pest überall zuzunehmen<br />
begann, verschwanden diese Bräuche <strong>und</strong> neue traten an ihre Stelle. Die Leute starben nicht<br />
nur ohne Klagefrauen um sich zu haben, sondern es gab solche, die ohne Augenzeugen aus<br />
diesem Leben schieden. Nur sehr wenigen wurden das mitleidsvolle Klagen <strong>und</strong> die bitteren<br />
Tränen der Verwandten zuteil. (…) Selten gab es Leichen, die von mehr als zehn oder zwölf<br />
Nachbarn zur Kirche geleitet wurden. Es waren nicht ehrbare <strong>und</strong> angesehene Bürger, die die<br />
Toten trugen, sondern eine Art Totengräber, die dem untersten Volk entstammten <strong>und</strong> sich<br />
„Leichenknechte“ rufen liessen. Diese Leute, die das für Geld taten, kamen zur Bahre <strong>und</strong><br />
trugen den Toten mit hastigen Schritten nicht zu der Kirche, die er vor seinem <strong>Tod</strong>e bestimmt<br />
hatte, sondern meist zur nächstgelegenen. Voraus gingen vier oder sechs Geistliche mit wenigen<br />
Kerzen, manchmal überhaupt keinen. Sie liessen den Toten durch die Leichenträger in<br />
das erstbeste Grab legen das offen stand ohne sich mit einem langen oder feierlichen Gottesdienst<br />
abzumühen.<br />
Es war soweit gekommen, dass man sich um die Menschen, die starben, nicht anders kümmerte<br />
als man es heute bei den Ziegen tut. Da für die beschriebene Masse von Leichnamen,<br />
die täglich <strong>und</strong> fast stündlich zu jeder Kirche gebracht wurden, die geweihte Erde für das Begräbnis<br />
nicht mehr ausreichte, besonders, wenn man nach altem Brauch jedem sein eigenes<br />
Grab hätte geben wollen, wurden in den Kirchhöfen, als jeder Platz belegt war, grosse Gräben<br />
ausgehoben <strong>und</strong> die Neuverstorbenen zu H<strong>und</strong>erten hineingelegt. Sie wurden dort schichtweise<br />
übereinander gestapelt <strong>und</strong> mit wenig Erde bedeckt, bis der Graben zum Rand voll war.<br />
(…)